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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Die Ideen von 1^739-

Wollende Individuen, die Urrechte der Menschheit abzuleiten. So sehen wir
denn auch die weitere Entwicklung des Nciturrcchts überall parallel gehen mit
der weitem Entwicklung der politischen und gesellschaftlichen Zustände, und
ebenso ist der Einfluß, welchen die Doktrin übt, wesentlich bedingt durch den
sittlichen und geistigen Charakter der Persönlichkeiten, welche jeweilig die schärfste
Formulirung derselben ciussprechcn und durch die Grundstimmung in den Seelen
derjenigen, an deren Aufmerksamkeit sie sich wenden. Wie verschieden ist doch
die Wirkung, welche des Abbe Sieyes Pamphlet hervorgerufen hat von der,
welche von Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten ausging. Und doch
ist die Art und Weise der Deduktion, sowie der Kern des Gedankengehaltes
bei beiden Denkern ganz übereinstimmend. Aber Kant zielte auf eine sittliche
Wirkung, Siey!>s auf eine politische. Kant hatte zur geschichtlichen Voraus¬
setzung die Negierung des pflichttrenesten aller Herrscher, des großen Friedrich,
der französische Abbe hatte bei sich und seinem Publikum die Denkweise zur
Voraussetzung, die sich uuter Ludwig XV. ausgebildet hatte.

Der Kern des naturrechtlichen Gedankensystems ist einfach folgender. Jeder
Mensch ist seinem innersten Wesen nach bestrebt, stets seinem eignen Willen zu
folgen und ihn durch keinen fremden Willen hemmen und durchkreuzen zu lassen;
er hat das unbegrenzte Streben nach Freiheit, und doch, sagt Rousseau, findet
er sich überall in Ketten. Wir sind gebunden durch das positive Recht, das
uns in Staat und Gesellschaft entgegentritt. Was verpflichtet uns, diesem
Rechte zu gehorchen? Antwort: Das Gesetz der Koexistenz, wie es von Kant
kurz und klar bezeichnet wird. Der Mensch hat im Naturzustande unbegrenzte
Freiheit, aber diese Freiheit haben alle, und damit würden sie gegenseitig ihre
Freiheit, würden sich selbst vernichten. Es ergiebt sich daraus das Vernnnft-
gebvt: Jeder muß seine Freiheit so weit einschränken, daß die der andern da¬
neben bestehen kann. Das oberste Prinzip, ja der gesamte Inhalt der Ver¬
nunft für den gesellschaftlichen Zustand ist darum das Gesetz der Koexistenz.
Aus diesem Gesetze ergiebt sich zunächst die Notwendigkeit, daß die Menschen
gegenseitig die Unverletzlichkeit ihrer Person anerkennen und sich gegenseitig ein
Mein und Dein zugestehen -- Eigentum und Verbindlichkeit der Verträge
sodann aber ergiebt sich aus ihm die weitere Notwendigkeit, daß sie zusammen;
eine Gesellschaft schließen, um die Koexistenz durch gemeinsame Macht gegen jeden
Verletzenden aufrecht zu halten, d. h. um sich gegenseitig -- alle einem jeden --
Leben und Eigentum zu gewährleisten. Diese Gesellschaft ist der Staat. Der
Zweck des Staates ist darnach nur Schutz des Lebens, des Eigentums und der
Erfüllung der Verträge. Nirgends ein andrer Zweck. Für keinen andern Zweck
darf der Staat seinen Mitgliedern Gesetze geben, Zwang gegen sie üben. Denn
nur dafür haben sie die Freiheit des Naturzustandes aufgegeben und durften
sie solche aufgeben. So ist der Staat ein Vernnnftgebot für alle Menschen.
Aber keiner ist befugt, den andern zur Erfüllung dieses Vernnnftgebotes anzu-'


Grmzlwtm I, 1388. 79
Die Ideen von 1^739-

Wollende Individuen, die Urrechte der Menschheit abzuleiten. So sehen wir
denn auch die weitere Entwicklung des Nciturrcchts überall parallel gehen mit
der weitem Entwicklung der politischen und gesellschaftlichen Zustände, und
ebenso ist der Einfluß, welchen die Doktrin übt, wesentlich bedingt durch den
sittlichen und geistigen Charakter der Persönlichkeiten, welche jeweilig die schärfste
Formulirung derselben ciussprechcn und durch die Grundstimmung in den Seelen
derjenigen, an deren Aufmerksamkeit sie sich wenden. Wie verschieden ist doch
die Wirkung, welche des Abbe Sieyes Pamphlet hervorgerufen hat von der,
welche von Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten ausging. Und doch
ist die Art und Weise der Deduktion, sowie der Kern des Gedankengehaltes
bei beiden Denkern ganz übereinstimmend. Aber Kant zielte auf eine sittliche
Wirkung, Siey!>s auf eine politische. Kant hatte zur geschichtlichen Voraus¬
setzung die Negierung des pflichttrenesten aller Herrscher, des großen Friedrich,
der französische Abbe hatte bei sich und seinem Publikum die Denkweise zur
Voraussetzung, die sich uuter Ludwig XV. ausgebildet hatte.

Der Kern des naturrechtlichen Gedankensystems ist einfach folgender. Jeder
Mensch ist seinem innersten Wesen nach bestrebt, stets seinem eignen Willen zu
folgen und ihn durch keinen fremden Willen hemmen und durchkreuzen zu lassen;
er hat das unbegrenzte Streben nach Freiheit, und doch, sagt Rousseau, findet
er sich überall in Ketten. Wir sind gebunden durch das positive Recht, das
uns in Staat und Gesellschaft entgegentritt. Was verpflichtet uns, diesem
Rechte zu gehorchen? Antwort: Das Gesetz der Koexistenz, wie es von Kant
kurz und klar bezeichnet wird. Der Mensch hat im Naturzustande unbegrenzte
Freiheit, aber diese Freiheit haben alle, und damit würden sie gegenseitig ihre
Freiheit, würden sich selbst vernichten. Es ergiebt sich daraus das Vernnnft-
gebvt: Jeder muß seine Freiheit so weit einschränken, daß die der andern da¬
neben bestehen kann. Das oberste Prinzip, ja der gesamte Inhalt der Ver¬
nunft für den gesellschaftlichen Zustand ist darum das Gesetz der Koexistenz.
Aus diesem Gesetze ergiebt sich zunächst die Notwendigkeit, daß die Menschen
gegenseitig die Unverletzlichkeit ihrer Person anerkennen und sich gegenseitig ein
Mein und Dein zugestehen — Eigentum und Verbindlichkeit der Verträge
sodann aber ergiebt sich aus ihm die weitere Notwendigkeit, daß sie zusammen;
eine Gesellschaft schließen, um die Koexistenz durch gemeinsame Macht gegen jeden
Verletzenden aufrecht zu halten, d. h. um sich gegenseitig — alle einem jeden —
Leben und Eigentum zu gewährleisten. Diese Gesellschaft ist der Staat. Der
Zweck des Staates ist darnach nur Schutz des Lebens, des Eigentums und der
Erfüllung der Verträge. Nirgends ein andrer Zweck. Für keinen andern Zweck
darf der Staat seinen Mitgliedern Gesetze geben, Zwang gegen sie üben. Denn
nur dafür haben sie die Freiheit des Naturzustandes aufgegeben und durften
sie solche aufgeben. So ist der Staat ein Vernnnftgebot für alle Menschen.
Aber keiner ist befugt, den andern zur Erfüllung dieses Vernnnftgebotes anzu-'


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[0633] Die Ideen von 1^739- Wollende Individuen, die Urrechte der Menschheit abzuleiten. So sehen wir denn auch die weitere Entwicklung des Nciturrcchts überall parallel gehen mit der weitem Entwicklung der politischen und gesellschaftlichen Zustände, und ebenso ist der Einfluß, welchen die Doktrin übt, wesentlich bedingt durch den sittlichen und geistigen Charakter der Persönlichkeiten, welche jeweilig die schärfste Formulirung derselben ciussprechcn und durch die Grundstimmung in den Seelen derjenigen, an deren Aufmerksamkeit sie sich wenden. Wie verschieden ist doch die Wirkung, welche des Abbe Sieyes Pamphlet hervorgerufen hat von der, welche von Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten ausging. Und doch ist die Art und Weise der Deduktion, sowie der Kern des Gedankengehaltes bei beiden Denkern ganz übereinstimmend. Aber Kant zielte auf eine sittliche Wirkung, Siey!>s auf eine politische. Kant hatte zur geschichtlichen Voraus¬ setzung die Negierung des pflichttrenesten aller Herrscher, des großen Friedrich, der französische Abbe hatte bei sich und seinem Publikum die Denkweise zur Voraussetzung, die sich uuter Ludwig XV. ausgebildet hatte. Der Kern des naturrechtlichen Gedankensystems ist einfach folgender. Jeder Mensch ist seinem innersten Wesen nach bestrebt, stets seinem eignen Willen zu folgen und ihn durch keinen fremden Willen hemmen und durchkreuzen zu lassen; er hat das unbegrenzte Streben nach Freiheit, und doch, sagt Rousseau, findet er sich überall in Ketten. Wir sind gebunden durch das positive Recht, das uns in Staat und Gesellschaft entgegentritt. Was verpflichtet uns, diesem Rechte zu gehorchen? Antwort: Das Gesetz der Koexistenz, wie es von Kant kurz und klar bezeichnet wird. Der Mensch hat im Naturzustande unbegrenzte Freiheit, aber diese Freiheit haben alle, und damit würden sie gegenseitig ihre Freiheit, würden sich selbst vernichten. Es ergiebt sich daraus das Vernnnft- gebvt: Jeder muß seine Freiheit so weit einschränken, daß die der andern da¬ neben bestehen kann. Das oberste Prinzip, ja der gesamte Inhalt der Ver¬ nunft für den gesellschaftlichen Zustand ist darum das Gesetz der Koexistenz. Aus diesem Gesetze ergiebt sich zunächst die Notwendigkeit, daß die Menschen gegenseitig die Unverletzlichkeit ihrer Person anerkennen und sich gegenseitig ein Mein und Dein zugestehen — Eigentum und Verbindlichkeit der Verträge sodann aber ergiebt sich aus ihm die weitere Notwendigkeit, daß sie zusammen; eine Gesellschaft schließen, um die Koexistenz durch gemeinsame Macht gegen jeden Verletzenden aufrecht zu halten, d. h. um sich gegenseitig — alle einem jeden — Leben und Eigentum zu gewährleisten. Diese Gesellschaft ist der Staat. Der Zweck des Staates ist darnach nur Schutz des Lebens, des Eigentums und der Erfüllung der Verträge. Nirgends ein andrer Zweck. Für keinen andern Zweck darf der Staat seinen Mitgliedern Gesetze geben, Zwang gegen sie üben. Denn nur dafür haben sie die Freiheit des Naturzustandes aufgegeben und durften sie solche aufgeben. So ist der Staat ein Vernnnftgebot für alle Menschen. Aber keiner ist befugt, den andern zur Erfüllung dieses Vernnnftgebotes anzu-' Grmzlwtm I, 1388. 79

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/633>, abgerufen am 28.09.2024.