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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Die Ideen von ^?Ü^>.

Aus oppositioneller Stimmung heraus waren schon die ersten Gedanken ge¬
boren, welche durch logische Weiterzeugung schließlich die Denkweise von 17K9 her¬
vorbrachten. Es waren dies die Grundsätze des sogenannten Naturrechts, zu An¬
fang des siebzehnten Jahrhunderts von Grotius aufgestellt, von der gesamten
Rechtsphilosophie des achtzehnten Jahrhunderts festgehalten, um schließlich die
strengste wissenschaftliche Formulirung durch Kant zu empfangen. Humanismus,
Reformation, vermehrte Kenntnis der Natur, alle diese Fortschritte hatte" dazu
beigetragen, das Bewußtsein zu wecken vom Rechte der "Individualität," der
sittlich freien Persönlichkeit. Je mehr dieses Bewußtsein sich in Einzelnen ver¬
tiefte und anderseits zu breitern Schichten des Volkes hindurchdrang, desto
mehr wurde das Überkommene in Kirche, Staat und Gesellschaft, wurde das so¬
ziale und politische Vermächtnis früherer Geschlechter als eine Last empfunden.
Ist es möglich, ruft später der Abbe Sieyes aus, über die Grundsätze und den
Zweck des gesellschaftlichen Zustandes nachzudenken, ohne bis ins Innerste der
Seele empört zu werden von der ungeheuern Ungerechtigkeit der menschlichen
Einrichtungen! Wohin der Mann, der die Bildung der Zeit in sich aufgenommen
hatte, den Blick wenden mochte, überall trat ihm in den äußern Verhältnissen
und Vorgängen Unvernunft entgegen; was wunder, daß der Gedanke entstand,
um zum Vernünftigen in Staat und Gesellschaft zu gelangen, müsse man das
Bestehende erst wegdenken und in unsrer eigensten Natur den Grund dessen suchen,
was überall als vernünftig, als recht und für unser sittliches Verhalten ver¬
bindlich betrachtet werden könne. Diese Abstraktion, dieses Hinwegdenkcn alles
staatlich und gesellschaftlich gegebenen, dieses nrthatsächliche ^ priori ist die
Geburtsstätte des sogenannten Naturrechtes, des Rechtes, das man aus einem
nngenommnen status rmtunüis ableitete, welcher jedem stg,tus oivili8 vorangehe,
und dessen etwaige Gesetze daher auch ihr Recht behaupten müßten vor allem, was
Staat und Gesellschaft später festsetzen möchten.

Ein berühmter Denker auf dein Gebiete der Staats- und Rechtsphilosophie,
Professor Stahl, hat diesen willkürlich angenommenen Ausgangspunkt des Natur¬
rechts verantwortlich gemacht für alle Auflehnung gegen gottgewollte Ordnung,
für alles revolutionäre Beginnen, das bis 1789 theoretisch und von da ab auch
praktisch die Geschichte Europas erfülle. Damit ist der Theorie entschieden zu
viel Ehre angethan. Die Realdialektik der Geschichte entwickelt sich nie und
nirgends rein aus der Dialektik eines abstrakten Gedankens. Theorien, die
ins praktische Leben eingreifen, gehen immer und überall aus einem Grundton
und Grundstreben des menschlichen Gemütes hervor, das mehr oder minder be¬
wußt sein Ziel bereits erfaßt hat, bevor die Wissenschaft dazu kommt, ihre
Sätze aufzustellen. Das Streben nach Gleichheit war vorhanden, das Verlangen
des Individuums, seine Willenssphäre nicht überall feindlich durchkreuzt zu
sehen, längst lebendig geworden, ehe Grotius auf den Gedanken verfiel, ans der
Annahme eines Zustandes, in welchem nichts vorausgesetzt war als gleich-


Die Ideen von ^?Ü^>.

Aus oppositioneller Stimmung heraus waren schon die ersten Gedanken ge¬
boren, welche durch logische Weiterzeugung schließlich die Denkweise von 17K9 her¬
vorbrachten. Es waren dies die Grundsätze des sogenannten Naturrechts, zu An¬
fang des siebzehnten Jahrhunderts von Grotius aufgestellt, von der gesamten
Rechtsphilosophie des achtzehnten Jahrhunderts festgehalten, um schließlich die
strengste wissenschaftliche Formulirung durch Kant zu empfangen. Humanismus,
Reformation, vermehrte Kenntnis der Natur, alle diese Fortschritte hatte» dazu
beigetragen, das Bewußtsein zu wecken vom Rechte der „Individualität," der
sittlich freien Persönlichkeit. Je mehr dieses Bewußtsein sich in Einzelnen ver¬
tiefte und anderseits zu breitern Schichten des Volkes hindurchdrang, desto
mehr wurde das Überkommene in Kirche, Staat und Gesellschaft, wurde das so¬
ziale und politische Vermächtnis früherer Geschlechter als eine Last empfunden.
Ist es möglich, ruft später der Abbe Sieyes aus, über die Grundsätze und den
Zweck des gesellschaftlichen Zustandes nachzudenken, ohne bis ins Innerste der
Seele empört zu werden von der ungeheuern Ungerechtigkeit der menschlichen
Einrichtungen! Wohin der Mann, der die Bildung der Zeit in sich aufgenommen
hatte, den Blick wenden mochte, überall trat ihm in den äußern Verhältnissen
und Vorgängen Unvernunft entgegen; was wunder, daß der Gedanke entstand,
um zum Vernünftigen in Staat und Gesellschaft zu gelangen, müsse man das
Bestehende erst wegdenken und in unsrer eigensten Natur den Grund dessen suchen,
was überall als vernünftig, als recht und für unser sittliches Verhalten ver¬
bindlich betrachtet werden könne. Diese Abstraktion, dieses Hinwegdenkcn alles
staatlich und gesellschaftlich gegebenen, dieses nrthatsächliche ^ priori ist die
Geburtsstätte des sogenannten Naturrechtes, des Rechtes, das man aus einem
nngenommnen status rmtunüis ableitete, welcher jedem stg,tus oivili8 vorangehe,
und dessen etwaige Gesetze daher auch ihr Recht behaupten müßten vor allem, was
Staat und Gesellschaft später festsetzen möchten.

Ein berühmter Denker auf dein Gebiete der Staats- und Rechtsphilosophie,
Professor Stahl, hat diesen willkürlich angenommenen Ausgangspunkt des Natur¬
rechts verantwortlich gemacht für alle Auflehnung gegen gottgewollte Ordnung,
für alles revolutionäre Beginnen, das bis 1789 theoretisch und von da ab auch
praktisch die Geschichte Europas erfülle. Damit ist der Theorie entschieden zu
viel Ehre angethan. Die Realdialektik der Geschichte entwickelt sich nie und
nirgends rein aus der Dialektik eines abstrakten Gedankens. Theorien, die
ins praktische Leben eingreifen, gehen immer und überall aus einem Grundton
und Grundstreben des menschlichen Gemütes hervor, das mehr oder minder be¬
wußt sein Ziel bereits erfaßt hat, bevor die Wissenschaft dazu kommt, ihre
Sätze aufzustellen. Das Streben nach Gleichheit war vorhanden, das Verlangen
des Individuums, seine Willenssphäre nicht überall feindlich durchkreuzt zu
sehen, längst lebendig geworden, ehe Grotius auf den Gedanken verfiel, ans der
Annahme eines Zustandes, in welchem nichts vorausgesetzt war als gleich-


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[0632] Die Ideen von ^?Ü^>. Aus oppositioneller Stimmung heraus waren schon die ersten Gedanken ge¬ boren, welche durch logische Weiterzeugung schließlich die Denkweise von 17K9 her¬ vorbrachten. Es waren dies die Grundsätze des sogenannten Naturrechts, zu An¬ fang des siebzehnten Jahrhunderts von Grotius aufgestellt, von der gesamten Rechtsphilosophie des achtzehnten Jahrhunderts festgehalten, um schließlich die strengste wissenschaftliche Formulirung durch Kant zu empfangen. Humanismus, Reformation, vermehrte Kenntnis der Natur, alle diese Fortschritte hatte» dazu beigetragen, das Bewußtsein zu wecken vom Rechte der „Individualität," der sittlich freien Persönlichkeit. Je mehr dieses Bewußtsein sich in Einzelnen ver¬ tiefte und anderseits zu breitern Schichten des Volkes hindurchdrang, desto mehr wurde das Überkommene in Kirche, Staat und Gesellschaft, wurde das so¬ ziale und politische Vermächtnis früherer Geschlechter als eine Last empfunden. Ist es möglich, ruft später der Abbe Sieyes aus, über die Grundsätze und den Zweck des gesellschaftlichen Zustandes nachzudenken, ohne bis ins Innerste der Seele empört zu werden von der ungeheuern Ungerechtigkeit der menschlichen Einrichtungen! Wohin der Mann, der die Bildung der Zeit in sich aufgenommen hatte, den Blick wenden mochte, überall trat ihm in den äußern Verhältnissen und Vorgängen Unvernunft entgegen; was wunder, daß der Gedanke entstand, um zum Vernünftigen in Staat und Gesellschaft zu gelangen, müsse man das Bestehende erst wegdenken und in unsrer eigensten Natur den Grund dessen suchen, was überall als vernünftig, als recht und für unser sittliches Verhalten ver¬ bindlich betrachtet werden könne. Diese Abstraktion, dieses Hinwegdenkcn alles staatlich und gesellschaftlich gegebenen, dieses nrthatsächliche ^ priori ist die Geburtsstätte des sogenannten Naturrechtes, des Rechtes, das man aus einem nngenommnen status rmtunüis ableitete, welcher jedem stg,tus oivili8 vorangehe, und dessen etwaige Gesetze daher auch ihr Recht behaupten müßten vor allem, was Staat und Gesellschaft später festsetzen möchten. Ein berühmter Denker auf dein Gebiete der Staats- und Rechtsphilosophie, Professor Stahl, hat diesen willkürlich angenommenen Ausgangspunkt des Natur¬ rechts verantwortlich gemacht für alle Auflehnung gegen gottgewollte Ordnung, für alles revolutionäre Beginnen, das bis 1789 theoretisch und von da ab auch praktisch die Geschichte Europas erfülle. Damit ist der Theorie entschieden zu viel Ehre angethan. Die Realdialektik der Geschichte entwickelt sich nie und nirgends rein aus der Dialektik eines abstrakten Gedankens. Theorien, die ins praktische Leben eingreifen, gehen immer und überall aus einem Grundton und Grundstreben des menschlichen Gemütes hervor, das mehr oder minder be¬ wußt sein Ziel bereits erfaßt hat, bevor die Wissenschaft dazu kommt, ihre Sätze aufzustellen. Das Streben nach Gleichheit war vorhanden, das Verlangen des Individuums, seine Willenssphäre nicht überall feindlich durchkreuzt zu sehen, längst lebendig geworden, ehe Grotius auf den Gedanken verfiel, ans der Annahme eines Zustandes, in welchem nichts vorausgesetzt war als gleich-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/632>, abgerufen am 28.09.2024.