Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Gin neues Lrdbild.

Lage Afrikas auf der Weltkugel absolut nicht festzuhalten vermöge. Es würde
aber zuviel verlangt sein, wenn jeder wissen sollte, wie viele Einwohner Lörrach,
Straubing oder Fraustadt habe, wie weit es von Montevideo bis Asuncion sei,
oder daß er die Gestalt Afrikas fehlerlos aus dem Gedächtnis rasch in den Sand
hinzeichne. Je nach den Gaben mag das geographische Wissen mit verschiednen
Maße gemessen werden, wenn aber ein allgemeinster Ausdruck dafür gefunden
werden soll, dürfte man ihn in der Fähigkeit suchen, die Beziehungen des Ein¬
zelnen zum Ganzen der Erde mindestens abzuschätzen. Ein Land, ein Ort er¬
langt einen wesentlichen Teil dessen, was für ihn charakteristisch und wichtig ist,
durch das Verhältnis seiner Lage zur Lage andrer Orte, andrer Länder auf
der Erde. Unser geographisches Wissen soll ein Netz sein, das seine Fäden
über diesen Planeten wirft, sodaß die wissenswerten Punkte ihre Stellen in be¬
stimmten Maschen finden, die ihrerseits in den Einzelheiten unsers Wissens ihre
Knotenpunkte haben.

Wenn ein solches Wissen erworben ist, wird ein tieferes Verstehen der
Gcsamterde die damit angebahnte Beheimatung auf unserm Mutterplaneten voll¬
enden. Man studirt die Orte und Länder, die Erdteile und Meere auf künst¬
lichen Erdkugeln, deren Größe ein Zwanzigmilliontel von der Größe der Erde
beträgt, auf Karten, die im besten Falle einen Strich Erde, den man in einem
Tage knapp durchwandert, im Durchmesser einer flachen Hand darstellen. An
diese Verkleinerungen gewöhnt, erschrickt man geradezu vor den Ausdehnungen,
mit denen die wirkliche Welt, wenn wir das Symbol in Wahrheit umwandeln,
aus diesen verkleinerten Bildern riesenhaft sich herauswächst. Karl Ritter hat
einmal von der Geographie als einer Verhältnislehre gesprochen. Dieses Wort
ist besonders sür den beherzigenswert, der Geographie zu lehren hat oder selbst¬
lernend in sie einzudringen strebt. Die Größenverhältnisse richtig aufzufassen,
ist Vorbedingung für die Erkenntnis der Beziehungen, welche die Dinge an der
Erdoberfläche miteinander verbinden. Ist doch die fortschreitend leichtere, raschere
Bewältigung der Entfernungen einer der unzweifelhaftesten Gewinne der geschicht¬
lichen Entwicklung der Menschheit, und spielt doch stets die Entfernung und ihre
Überwindung eine der ersten Rollen im wirtschaftlichen Verkehr. Falsche Auf¬
fassung der Raumverhältnisse der Erde ist einer der Grundfehler napoleonischer
Kriegführung gewesen und hat die große Niederlage von 1812 rascher heran¬
kommen lassen. Wie viele Täuschungen ähnlicher Art spielen ihre Rolle in"
Handel und Wandel! So wenig wie ein Kriegsmann, kann ein Kaufmann im
großen arbeiten, ohne eine richtige Weltvorstellung zu besitzen. Vor allem aber
ist es wieder von der größten Bedeutung für den Gelehrten wie den Lehrer,
daß von ihnen die Dinge der Erdoberfläche im richtigen Verhältnis zur Gc¬
samterde aufgefaßt und dargestellt werden. Wie viel hat man von dem epoche¬
machenden Charakter der Begründung einer geozentrischen Weltauffassung durch
Kopernikus gesprochen, und wie wenig ist gethan worden, um diese Auffassung


Gin neues Lrdbild.

Lage Afrikas auf der Weltkugel absolut nicht festzuhalten vermöge. Es würde
aber zuviel verlangt sein, wenn jeder wissen sollte, wie viele Einwohner Lörrach,
Straubing oder Fraustadt habe, wie weit es von Montevideo bis Asuncion sei,
oder daß er die Gestalt Afrikas fehlerlos aus dem Gedächtnis rasch in den Sand
hinzeichne. Je nach den Gaben mag das geographische Wissen mit verschiednen
Maße gemessen werden, wenn aber ein allgemeinster Ausdruck dafür gefunden
werden soll, dürfte man ihn in der Fähigkeit suchen, die Beziehungen des Ein¬
zelnen zum Ganzen der Erde mindestens abzuschätzen. Ein Land, ein Ort er¬
langt einen wesentlichen Teil dessen, was für ihn charakteristisch und wichtig ist,
durch das Verhältnis seiner Lage zur Lage andrer Orte, andrer Länder auf
der Erde. Unser geographisches Wissen soll ein Netz sein, das seine Fäden
über diesen Planeten wirft, sodaß die wissenswerten Punkte ihre Stellen in be¬
stimmten Maschen finden, die ihrerseits in den Einzelheiten unsers Wissens ihre
Knotenpunkte haben.

Wenn ein solches Wissen erworben ist, wird ein tieferes Verstehen der
Gcsamterde die damit angebahnte Beheimatung auf unserm Mutterplaneten voll¬
enden. Man studirt die Orte und Länder, die Erdteile und Meere auf künst¬
lichen Erdkugeln, deren Größe ein Zwanzigmilliontel von der Größe der Erde
beträgt, auf Karten, die im besten Falle einen Strich Erde, den man in einem
Tage knapp durchwandert, im Durchmesser einer flachen Hand darstellen. An
diese Verkleinerungen gewöhnt, erschrickt man geradezu vor den Ausdehnungen,
mit denen die wirkliche Welt, wenn wir das Symbol in Wahrheit umwandeln,
aus diesen verkleinerten Bildern riesenhaft sich herauswächst. Karl Ritter hat
einmal von der Geographie als einer Verhältnislehre gesprochen. Dieses Wort
ist besonders sür den beherzigenswert, der Geographie zu lehren hat oder selbst¬
lernend in sie einzudringen strebt. Die Größenverhältnisse richtig aufzufassen,
ist Vorbedingung für die Erkenntnis der Beziehungen, welche die Dinge an der
Erdoberfläche miteinander verbinden. Ist doch die fortschreitend leichtere, raschere
Bewältigung der Entfernungen einer der unzweifelhaftesten Gewinne der geschicht¬
lichen Entwicklung der Menschheit, und spielt doch stets die Entfernung und ihre
Überwindung eine der ersten Rollen im wirtschaftlichen Verkehr. Falsche Auf¬
fassung der Raumverhältnisse der Erde ist einer der Grundfehler napoleonischer
Kriegführung gewesen und hat die große Niederlage von 1812 rascher heran¬
kommen lassen. Wie viele Täuschungen ähnlicher Art spielen ihre Rolle in»
Handel und Wandel! So wenig wie ein Kriegsmann, kann ein Kaufmann im
großen arbeiten, ohne eine richtige Weltvorstellung zu besitzen. Vor allem aber
ist es wieder von der größten Bedeutung für den Gelehrten wie den Lehrer,
daß von ihnen die Dinge der Erdoberfläche im richtigen Verhältnis zur Gc¬
samterde aufgefaßt und dargestellt werden. Wie viel hat man von dem epoche¬
machenden Charakter der Begründung einer geozentrischen Weltauffassung durch
Kopernikus gesprochen, und wie wenig ist gethan worden, um diese Auffassung


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0596" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/202695"/>
          <fw type="header" place="top"> Gin neues Lrdbild.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2157" prev="#ID_2156"> Lage Afrikas auf der Weltkugel absolut nicht festzuhalten vermöge. Es würde<lb/>
aber zuviel verlangt sein, wenn jeder wissen sollte, wie viele Einwohner Lörrach,<lb/>
Straubing oder Fraustadt habe, wie weit es von Montevideo bis Asuncion sei,<lb/>
oder daß er die Gestalt Afrikas fehlerlos aus dem Gedächtnis rasch in den Sand<lb/>
hinzeichne. Je nach den Gaben mag das geographische Wissen mit verschiednen<lb/>
Maße gemessen werden, wenn aber ein allgemeinster Ausdruck dafür gefunden<lb/>
werden soll, dürfte man ihn in der Fähigkeit suchen, die Beziehungen des Ein¬<lb/>
zelnen zum Ganzen der Erde mindestens abzuschätzen. Ein Land, ein Ort er¬<lb/>
langt einen wesentlichen Teil dessen, was für ihn charakteristisch und wichtig ist,<lb/>
durch das Verhältnis seiner Lage zur Lage andrer Orte, andrer Länder auf<lb/>
der Erde. Unser geographisches Wissen soll ein Netz sein, das seine Fäden<lb/>
über diesen Planeten wirft, sodaß die wissenswerten Punkte ihre Stellen in be¬<lb/>
stimmten Maschen finden, die ihrerseits in den Einzelheiten unsers Wissens ihre<lb/>
Knotenpunkte haben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2158" next="#ID_2159"> Wenn ein solches Wissen erworben ist, wird ein tieferes Verstehen der<lb/>
Gcsamterde die damit angebahnte Beheimatung auf unserm Mutterplaneten voll¬<lb/>
enden. Man studirt die Orte und Länder, die Erdteile und Meere auf künst¬<lb/>
lichen Erdkugeln, deren Größe ein Zwanzigmilliontel von der Größe der Erde<lb/>
beträgt, auf Karten, die im besten Falle einen Strich Erde, den man in einem<lb/>
Tage knapp durchwandert, im Durchmesser einer flachen Hand darstellen. An<lb/>
diese Verkleinerungen gewöhnt, erschrickt man geradezu vor den Ausdehnungen,<lb/>
mit denen die wirkliche Welt, wenn wir das Symbol in Wahrheit umwandeln,<lb/>
aus diesen verkleinerten Bildern riesenhaft sich herauswächst. Karl Ritter hat<lb/>
einmal von der Geographie als einer Verhältnislehre gesprochen. Dieses Wort<lb/>
ist besonders sür den beherzigenswert, der Geographie zu lehren hat oder selbst¬<lb/>
lernend in sie einzudringen strebt. Die Größenverhältnisse richtig aufzufassen,<lb/>
ist Vorbedingung für die Erkenntnis der Beziehungen, welche die Dinge an der<lb/>
Erdoberfläche miteinander verbinden. Ist doch die fortschreitend leichtere, raschere<lb/>
Bewältigung der Entfernungen einer der unzweifelhaftesten Gewinne der geschicht¬<lb/>
lichen Entwicklung der Menschheit, und spielt doch stets die Entfernung und ihre<lb/>
Überwindung eine der ersten Rollen im wirtschaftlichen Verkehr. Falsche Auf¬<lb/>
fassung der Raumverhältnisse der Erde ist einer der Grundfehler napoleonischer<lb/>
Kriegführung gewesen und hat die große Niederlage von 1812 rascher heran¬<lb/>
kommen lassen. Wie viele Täuschungen ähnlicher Art spielen ihre Rolle in»<lb/>
Handel und Wandel! So wenig wie ein Kriegsmann, kann ein Kaufmann im<lb/>
großen arbeiten, ohne eine richtige Weltvorstellung zu besitzen. Vor allem aber<lb/>
ist es wieder von der größten Bedeutung für den Gelehrten wie den Lehrer,<lb/>
daß von ihnen die Dinge der Erdoberfläche im richtigen Verhältnis zur Gc¬<lb/>
samterde aufgefaßt und dargestellt werden. Wie viel hat man von dem epoche¬<lb/>
machenden Charakter der Begründung einer geozentrischen Weltauffassung durch<lb/>
Kopernikus gesprochen, und wie wenig ist gethan worden, um diese Auffassung</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0596] Gin neues Lrdbild. Lage Afrikas auf der Weltkugel absolut nicht festzuhalten vermöge. Es würde aber zuviel verlangt sein, wenn jeder wissen sollte, wie viele Einwohner Lörrach, Straubing oder Fraustadt habe, wie weit es von Montevideo bis Asuncion sei, oder daß er die Gestalt Afrikas fehlerlos aus dem Gedächtnis rasch in den Sand hinzeichne. Je nach den Gaben mag das geographische Wissen mit verschiednen Maße gemessen werden, wenn aber ein allgemeinster Ausdruck dafür gefunden werden soll, dürfte man ihn in der Fähigkeit suchen, die Beziehungen des Ein¬ zelnen zum Ganzen der Erde mindestens abzuschätzen. Ein Land, ein Ort er¬ langt einen wesentlichen Teil dessen, was für ihn charakteristisch und wichtig ist, durch das Verhältnis seiner Lage zur Lage andrer Orte, andrer Länder auf der Erde. Unser geographisches Wissen soll ein Netz sein, das seine Fäden über diesen Planeten wirft, sodaß die wissenswerten Punkte ihre Stellen in be¬ stimmten Maschen finden, die ihrerseits in den Einzelheiten unsers Wissens ihre Knotenpunkte haben. Wenn ein solches Wissen erworben ist, wird ein tieferes Verstehen der Gcsamterde die damit angebahnte Beheimatung auf unserm Mutterplaneten voll¬ enden. Man studirt die Orte und Länder, die Erdteile und Meere auf künst¬ lichen Erdkugeln, deren Größe ein Zwanzigmilliontel von der Größe der Erde beträgt, auf Karten, die im besten Falle einen Strich Erde, den man in einem Tage knapp durchwandert, im Durchmesser einer flachen Hand darstellen. An diese Verkleinerungen gewöhnt, erschrickt man geradezu vor den Ausdehnungen, mit denen die wirkliche Welt, wenn wir das Symbol in Wahrheit umwandeln, aus diesen verkleinerten Bildern riesenhaft sich herauswächst. Karl Ritter hat einmal von der Geographie als einer Verhältnislehre gesprochen. Dieses Wort ist besonders sür den beherzigenswert, der Geographie zu lehren hat oder selbst¬ lernend in sie einzudringen strebt. Die Größenverhältnisse richtig aufzufassen, ist Vorbedingung für die Erkenntnis der Beziehungen, welche die Dinge an der Erdoberfläche miteinander verbinden. Ist doch die fortschreitend leichtere, raschere Bewältigung der Entfernungen einer der unzweifelhaftesten Gewinne der geschicht¬ lichen Entwicklung der Menschheit, und spielt doch stets die Entfernung und ihre Überwindung eine der ersten Rollen im wirtschaftlichen Verkehr. Falsche Auf¬ fassung der Raumverhältnisse der Erde ist einer der Grundfehler napoleonischer Kriegführung gewesen und hat die große Niederlage von 1812 rascher heran¬ kommen lassen. Wie viele Täuschungen ähnlicher Art spielen ihre Rolle in» Handel und Wandel! So wenig wie ein Kriegsmann, kann ein Kaufmann im großen arbeiten, ohne eine richtige Weltvorstellung zu besitzen. Vor allem aber ist es wieder von der größten Bedeutung für den Gelehrten wie den Lehrer, daß von ihnen die Dinge der Erdoberfläche im richtigen Verhältnis zur Gc¬ samterde aufgefaßt und dargestellt werden. Wie viel hat man von dem epoche¬ machenden Charakter der Begründung einer geozentrischen Weltauffassung durch Kopernikus gesprochen, und wie wenig ist gethan worden, um diese Auffassung

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/596
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/596>, abgerufen am 28.09.2024.