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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Prinz Ferdinand zweiter Akt, zweiter Auftritt.

zur Agitation verwenden, falls Nelidofs sich genötigt sähe, dem Sultan die
Wiederkehr der ostrumelischen Bulgaren unter die direkte türkische Herrschaft
bindend in Aussicht zu stellen, und der Kaiser Alexander würde in diesem Falle
den Bulgaren und nicht minder der gesamten panslawistischcn Partei in Rußland
und anderwärts als offenkundiger Verbündeter der Macht erscheinen, von deren
Knechtung sein Vater das Bulgarenland befreit hatte. Das würde aber eine
aus verschieden Gründen bedenkliche Charakterveränderung in der Auffassung
jener Kreise geben und vielleicht zu verhängnisvoller Entfremdung derselben führen.

Es liegt auf der Hand, daß der Krieg, der über diese Angelegenheit aus-
brüche, sich nicht auf das Fürstentum beschränken würde, welches als Vorwand
für seinen Beginn diente. Im Hintergrunde steht die Nebenbuhlerschaft zwischen
Österreich und Rußland auf der Balkanhalbinsel, welche seit vielen Jahrzehnten
den europäischen Frieden bedroht. Österreich besitzt unter seiner Bevölkerung
ein sehr starkes slawisches Element, welches, wenn die Negierung seinen weit¬
gehenden Ansprüchen aus Rücksichten auf die andern Elemente nicht nachgeben
kann, in ähnlicher Weise wie die Jrländer im vorigen Jahrhunderte auf fran¬
zösischen Beistand gegen England und wie jetzt die Mißvergnügten in Elsaß-
Lothringen auf dieselbe Hilfe gegen Deutschland rechnen, seine Blicke auf die
moslvwitischen Panslawisten richtet, mit ihnen liebäugelt, von ihnen Sym¬
pathien und von ihrem Einflüsse am Zarenhofe Unterstützung der slawischen
Sache heischt. Um diesen Teil seiner Unterthanen zu versöhnen und möglichst
zu befriedigen, muß der Herrscher des dualistischen Donaustaates in gewissem
Maße unter andern, in den Balkanländern als Freund und Gönner der dortigen
Slawen erscheinen. Anderseits aber wird diese Rolle durch das magyarische
Element unter seinen Unterthanen wesentlich beschränkt. Er darf, seit dieses
zu größerm Einflüsse gelangt ist, nicht entschieden türkenfeindlich auftreten, weil
dies die Slawen stärken und die Zwecke der Macht, auf deren Gönnerschaft sie
rechnen, während die Magyaren sie seit 1849 fürchten und von Herzen verab¬
scheuen, fördern würde. Dieser Zwiespalt zwischen den Slawen und den Ma¬
gyaren Österreich-Ungarns erklärt großenteils die wechselnden, oft widerspruchs¬
vollen Stellungen, welche die Staatsmänner in Wien in den letzten Jahrzehnten
zu der türkischen Frage eingenommen haben. 1855 hatte der Kaiser Franz
Josef, wie es schien, alle Ursache, sich mit dem Kaiser Nikolaus, der ihm 1849
die Krone durch Beistand gegen die ungarische Revolution gerettet hatte, bei
dessen Angriff auf die Pforte zu verständigen und zu Verbunden; aber die
Überlieferungen seines Kabinets führten ihn im Verein mit der Hoffnung ans
Landerwerbung auf dem linken Ufer der untern Donau nach und nach auf die
Seite der Gegner Rußlands, und zuletzt nahm sein Heer eine Stellung ein,
welche die Türkei am Pruth vertheidigt haben würde, wenn der Krieg seinen
Fortgang gehabt hätte und nicht vielmehr Rußland dort vor Österreich zurück¬
gewichen wäre. 1875 sah man eine andre Politik einschlagen: zunächst wurden


Prinz Ferdinand zweiter Akt, zweiter Auftritt.

zur Agitation verwenden, falls Nelidofs sich genötigt sähe, dem Sultan die
Wiederkehr der ostrumelischen Bulgaren unter die direkte türkische Herrschaft
bindend in Aussicht zu stellen, und der Kaiser Alexander würde in diesem Falle
den Bulgaren und nicht minder der gesamten panslawistischcn Partei in Rußland
und anderwärts als offenkundiger Verbündeter der Macht erscheinen, von deren
Knechtung sein Vater das Bulgarenland befreit hatte. Das würde aber eine
aus verschieden Gründen bedenkliche Charakterveränderung in der Auffassung
jener Kreise geben und vielleicht zu verhängnisvoller Entfremdung derselben führen.

Es liegt auf der Hand, daß der Krieg, der über diese Angelegenheit aus-
brüche, sich nicht auf das Fürstentum beschränken würde, welches als Vorwand
für seinen Beginn diente. Im Hintergrunde steht die Nebenbuhlerschaft zwischen
Österreich und Rußland auf der Balkanhalbinsel, welche seit vielen Jahrzehnten
den europäischen Frieden bedroht. Österreich besitzt unter seiner Bevölkerung
ein sehr starkes slawisches Element, welches, wenn die Negierung seinen weit¬
gehenden Ansprüchen aus Rücksichten auf die andern Elemente nicht nachgeben
kann, in ähnlicher Weise wie die Jrländer im vorigen Jahrhunderte auf fran¬
zösischen Beistand gegen England und wie jetzt die Mißvergnügten in Elsaß-
Lothringen auf dieselbe Hilfe gegen Deutschland rechnen, seine Blicke auf die
moslvwitischen Panslawisten richtet, mit ihnen liebäugelt, von ihnen Sym¬
pathien und von ihrem Einflüsse am Zarenhofe Unterstützung der slawischen
Sache heischt. Um diesen Teil seiner Unterthanen zu versöhnen und möglichst
zu befriedigen, muß der Herrscher des dualistischen Donaustaates in gewissem
Maße unter andern, in den Balkanländern als Freund und Gönner der dortigen
Slawen erscheinen. Anderseits aber wird diese Rolle durch das magyarische
Element unter seinen Unterthanen wesentlich beschränkt. Er darf, seit dieses
zu größerm Einflüsse gelangt ist, nicht entschieden türkenfeindlich auftreten, weil
dies die Slawen stärken und die Zwecke der Macht, auf deren Gönnerschaft sie
rechnen, während die Magyaren sie seit 1849 fürchten und von Herzen verab¬
scheuen, fördern würde. Dieser Zwiespalt zwischen den Slawen und den Ma¬
gyaren Österreich-Ungarns erklärt großenteils die wechselnden, oft widerspruchs¬
vollen Stellungen, welche die Staatsmänner in Wien in den letzten Jahrzehnten
zu der türkischen Frage eingenommen haben. 1855 hatte der Kaiser Franz
Josef, wie es schien, alle Ursache, sich mit dem Kaiser Nikolaus, der ihm 1849
die Krone durch Beistand gegen die ungarische Revolution gerettet hatte, bei
dessen Angriff auf die Pforte zu verständigen und zu Verbunden; aber die
Überlieferungen seines Kabinets führten ihn im Verein mit der Hoffnung ans
Landerwerbung auf dem linken Ufer der untern Donau nach und nach auf die
Seite der Gegner Rußlands, und zuletzt nahm sein Heer eine Stellung ein,
welche die Türkei am Pruth vertheidigt haben würde, wenn der Krieg seinen
Fortgang gehabt hätte und nicht vielmehr Rußland dort vor Österreich zurück¬
gewichen wäre. 1875 sah man eine andre Politik einschlagen: zunächst wurden


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/590>, abgerufen am 28.09.2024.