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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Der Stand der bulgarischen Frage.

und geschmäht, würde dem Gefühl einer großen Anzahl von Russen, die liberal
zu erscheinen wünschen, da das zur Kultur und Zivilisation gehört, äußerst peinlich
sein. Sicherlich sind sowohl weite Kreise der russischen Gesellschaft als ein Teil
der Regierenden überzeugt, daß sie um gewisse Stücke der Siegesbeute von 1877
gebracht worden sind. Unerwartete Ereignisse und das Ungeschick ihrer eignen
Agenten haben den Nüsse" ein Volk entfremdet, welches sie sich zu Danke ver¬
pflichtet hatten und immer als treuen Verbündeten, vorzüglich für den Fall
eines abermaligen Kreuzzuges zur Eroberung Konstantinopels, an ihrer Seite
zu finden hofften. Selbst heute haben sie das Spiel noch nicht aufgegeben.
Die amtliche Presse Rußlands schilt auf den Koburger Usurpator, aber drückt
daneben die Sympathien des Zaren für das bulgarische Volk mit Wärme aus,
und alle Moskowiter, die als öffentliche Meinung gelten und anderseits von
ihr gehört sein wollen, hegen die feste Hoffnung, wenn erst dieser Fremde weg¬
geschafft sei, würden sich die Bulgaren wieder in Liebe und Verehrung dem
Sohne des Zar-Befreiers zuwenden.

Die drei Mächte, welche Rußlands Vorstellungen in Konstantinopel nicht
unterstützt haben, werden außer der Schwierigkeit, Gewalt zu brauchen, um in
Bulgarien die vertragsmäßige Ordnung der Dinge wiederherzustellen, noch einen
Beweggrund für ihre Nichtbeteiligung geltend machen können. Sie dürfen be¬
haupten, es sei nicht gut für Europa, einen Wunsch oder Befehl zur Zerstörung
eines Staatsgebäudes ergehen zu lassen, bevor man sich klar und unter einander
einig geworden sei, was an dessen Stelle zu setzen wäre. Die Entfernung des
Kvburgers, der trotz aller seiner Sünden und Gebrechen doch immerhin eine
Regierung darstellt, wird Bulgarien ohne Herrscher lassen. Wäre es da nicht
geboten, daß die Mächte sich vor seiner Beseitigung über einen Nachfolger
verständigten? Dann gäbe es kein Interregnum mit seinen Gefahren für das
Land und den Weltfrieden; denn schon am Morgen nach seiner Abreise zu den
väterlichen Penaten könnte ein andrer Prinz als von Europa bestätigter Fürst
vom Konak in Sofia Besitz nehmen und feierlich die Negierung antreten. Diese
gewiß nicht unnatürliche Antwort der drei dissentirenden Mächte ist aber den
Russen unbequem, da sie Nußland bis zu einem gewissen Maße nötigt, seine
Karten aufzudecken, d. h. seinen Kandidaten für die bulgarische Fürstenwürde
zu nennen und der Kritik Europas und der Bulgaren selbst preiszugeben. Denn
wir müssen uus erinnern, daß, wenn der Friedensvertrag von 1878 die Be¬
stätigung durch die Mächte für wesentlich erklärt, die vorherige Wahl durch
die Volksvertretung gleichermaßen eine wesentliche Bedingung des Vertrages ist,
daß also, so lange die von Nußland vorgeschlagne Persönlichkeit, selbst wenn
russische Bajonnette sie stützen, nicht von der Sobranje angenommen ist, deren
Stellung so wenig begründet ist als die des Koburgers, dem die Wahl der
Bulgaren zur Seite, der Mangel der Bestätigung durch die Mächte aber ent¬
gegensteht.


Grenzboten I. 1888. 71
Der Stand der bulgarischen Frage.

und geschmäht, würde dem Gefühl einer großen Anzahl von Russen, die liberal
zu erscheinen wünschen, da das zur Kultur und Zivilisation gehört, äußerst peinlich
sein. Sicherlich sind sowohl weite Kreise der russischen Gesellschaft als ein Teil
der Regierenden überzeugt, daß sie um gewisse Stücke der Siegesbeute von 1877
gebracht worden sind. Unerwartete Ereignisse und das Ungeschick ihrer eignen
Agenten haben den Nüsse» ein Volk entfremdet, welches sie sich zu Danke ver¬
pflichtet hatten und immer als treuen Verbündeten, vorzüglich für den Fall
eines abermaligen Kreuzzuges zur Eroberung Konstantinopels, an ihrer Seite
zu finden hofften. Selbst heute haben sie das Spiel noch nicht aufgegeben.
Die amtliche Presse Rußlands schilt auf den Koburger Usurpator, aber drückt
daneben die Sympathien des Zaren für das bulgarische Volk mit Wärme aus,
und alle Moskowiter, die als öffentliche Meinung gelten und anderseits von
ihr gehört sein wollen, hegen die feste Hoffnung, wenn erst dieser Fremde weg¬
geschafft sei, würden sich die Bulgaren wieder in Liebe und Verehrung dem
Sohne des Zar-Befreiers zuwenden.

Die drei Mächte, welche Rußlands Vorstellungen in Konstantinopel nicht
unterstützt haben, werden außer der Schwierigkeit, Gewalt zu brauchen, um in
Bulgarien die vertragsmäßige Ordnung der Dinge wiederherzustellen, noch einen
Beweggrund für ihre Nichtbeteiligung geltend machen können. Sie dürfen be¬
haupten, es sei nicht gut für Europa, einen Wunsch oder Befehl zur Zerstörung
eines Staatsgebäudes ergehen zu lassen, bevor man sich klar und unter einander
einig geworden sei, was an dessen Stelle zu setzen wäre. Die Entfernung des
Kvburgers, der trotz aller seiner Sünden und Gebrechen doch immerhin eine
Regierung darstellt, wird Bulgarien ohne Herrscher lassen. Wäre es da nicht
geboten, daß die Mächte sich vor seiner Beseitigung über einen Nachfolger
verständigten? Dann gäbe es kein Interregnum mit seinen Gefahren für das
Land und den Weltfrieden; denn schon am Morgen nach seiner Abreise zu den
väterlichen Penaten könnte ein andrer Prinz als von Europa bestätigter Fürst
vom Konak in Sofia Besitz nehmen und feierlich die Negierung antreten. Diese
gewiß nicht unnatürliche Antwort der drei dissentirenden Mächte ist aber den
Russen unbequem, da sie Nußland bis zu einem gewissen Maße nötigt, seine
Karten aufzudecken, d. h. seinen Kandidaten für die bulgarische Fürstenwürde
zu nennen und der Kritik Europas und der Bulgaren selbst preiszugeben. Denn
wir müssen uus erinnern, daß, wenn der Friedensvertrag von 1878 die Be¬
stätigung durch die Mächte für wesentlich erklärt, die vorherige Wahl durch
die Volksvertretung gleichermaßen eine wesentliche Bedingung des Vertrages ist,
daß also, so lange die von Nußland vorgeschlagne Persönlichkeit, selbst wenn
russische Bajonnette sie stützen, nicht von der Sobranje angenommen ist, deren
Stellung so wenig begründet ist als die des Koburgers, dem die Wahl der
Bulgaren zur Seite, der Mangel der Bestätigung durch die Mächte aber ent¬
gegensteht.


Grenzboten I. 1888. 71
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/569>, abgerufen am 28.09.2024.