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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Ein böser Geist im heutigen England.

Verdient. Und welcher Beweggrund treibt ihn an? Will er der Gemeinschaft
nützen? Wer wollte das glauben?

"Nehmen wir -- sagt Whitman --, jemand bei uns, der eine politische
Laufbahn betreten will, so ist der Sporn seines Handelns Selbstsucht; da man
aber Interesse an öffentlichen Angelegenheiten zeigen muß, um das Auge des
Publikums auf sich zu lenken, so muß er sich bemühen, das zu thun und ein
solches Interesse wenigstens zu heucheln. Um dabei Erfolg zu haben, muß er
eine Menge von Eigenschaften besitzen, die nicht dazu angethan sind, ihm unsre
Sympathie zu erwerben. Er darf kein bescheidnes Gemüt sein, sonst würde er
nicht imstande sein, sich in die vorderste Reihe zu drängen und die Aufmerk¬
samkeit der Menge auf sich zu lenken. Er muß sich ans Gleißnerei und Lüge
verstehen; denn er ist genötigt, vielen, die ihm gleichgiltig, ja wider.part'g sind,
ein freundliches Gesicht zu zeigen, sonst würde er sich viele Feinde machen. Er
ist gezwungen, Versprechungen zu machen, von denen er oft im voraus weiß,
daß er sie nicht halten kann. Er muß sich stimmen, um niedrige Empfindungen,
Leidenschaften, Lebensanschauungen und Vorurteile der Menge zu cippelliren,
weil solche vorwiegen und er der Mehrheit zu gefallen bemüht sein muß. Diese
Züge geben das Bild eines Gesichtes, das einen feingearteten Geist nicht an¬
ziehen kann. Aber im wirklichen Leben geben wir mit seltenen Ausnahmen
einem solchen Manne unsre Stimme. . . . Man bewundert seinen Mut und sein
Geschick, sich geltend zu machen. Gute Erziehung, Erfahrung, Gewissenhaftigkeit,
geistige Überlegenheit sind unwichtige Erfordernisse, die ihm wenig nützen. Was
er am meisten braucht, ist Selbstgefühl, Dreistigkeit, eine flotte Suade, die sich
an der Oberfläche bewegt und es nicht verschmäht, gelegentlich vulgäre Scherze
einzuflechten. Im besten Falle mag der Mann rechtschaffen und klug sein, kaum
aber jemals ein hoher und feiner Geist. Oft begegnet man darum in unsern
repräsentativen Körperschaften Talenten, sehr selten aber einem Charakter."

Am meisten wird, wenn wir von der Regierungsform und den charak¬
teristischen Eigenschaften der Gesetzgeber Englands absehen, politischer Carl
über die Methode geredet und geschrieben, mit der Gesetze zu Wege gebracht,
wie das Bedürfnis nach ihnen entdeckt und den Leuten eingeprägt wird. "Agi¬
tation." d.h. Mache einiger Interessenten, ist das Paßwort, welches das Be¬
dürfnis aller ausdrücken soll. Die Agitation wird von der Presse aufgegriffen
und dahin gebracht, daß sie auf die Gesetzgebungsmaschine wirkt, der man dann
Vox xoxM, vox Ogi zuruft. In dieser Methode hat England in der letzten
Zeit große Fortschritte gemacht. War es früher ein Ruf aus tausend von
einander unabhängigen Mittelpunkten der Bevölkerung, den die Presse aufnahm
und dem Parlamente empfahl, so darf jetzt ein Ruf, den eine einzige sensationelle
Zeitung ausstößt, den Ministern sich als beachtenswert empfehlen, seinen Weg
von diesen durch die Gesetzgebung machen und sich in ein Gesetz verkörpern, ohne
daß die Nation als Ganzes viel darnach fragte und die Sache unterstützte.


Ein böser Geist im heutigen England.

Verdient. Und welcher Beweggrund treibt ihn an? Will er der Gemeinschaft
nützen? Wer wollte das glauben?

„Nehmen wir — sagt Whitman —, jemand bei uns, der eine politische
Laufbahn betreten will, so ist der Sporn seines Handelns Selbstsucht; da man
aber Interesse an öffentlichen Angelegenheiten zeigen muß, um das Auge des
Publikums auf sich zu lenken, so muß er sich bemühen, das zu thun und ein
solches Interesse wenigstens zu heucheln. Um dabei Erfolg zu haben, muß er
eine Menge von Eigenschaften besitzen, die nicht dazu angethan sind, ihm unsre
Sympathie zu erwerben. Er darf kein bescheidnes Gemüt sein, sonst würde er
nicht imstande sein, sich in die vorderste Reihe zu drängen und die Aufmerk¬
samkeit der Menge auf sich zu lenken. Er muß sich ans Gleißnerei und Lüge
verstehen; denn er ist genötigt, vielen, die ihm gleichgiltig, ja wider.part'g sind,
ein freundliches Gesicht zu zeigen, sonst würde er sich viele Feinde machen. Er
ist gezwungen, Versprechungen zu machen, von denen er oft im voraus weiß,
daß er sie nicht halten kann. Er muß sich stimmen, um niedrige Empfindungen,
Leidenschaften, Lebensanschauungen und Vorurteile der Menge zu cippelliren,
weil solche vorwiegen und er der Mehrheit zu gefallen bemüht sein muß. Diese
Züge geben das Bild eines Gesichtes, das einen feingearteten Geist nicht an¬
ziehen kann. Aber im wirklichen Leben geben wir mit seltenen Ausnahmen
einem solchen Manne unsre Stimme. . . . Man bewundert seinen Mut und sein
Geschick, sich geltend zu machen. Gute Erziehung, Erfahrung, Gewissenhaftigkeit,
geistige Überlegenheit sind unwichtige Erfordernisse, die ihm wenig nützen. Was
er am meisten braucht, ist Selbstgefühl, Dreistigkeit, eine flotte Suade, die sich
an der Oberfläche bewegt und es nicht verschmäht, gelegentlich vulgäre Scherze
einzuflechten. Im besten Falle mag der Mann rechtschaffen und klug sein, kaum
aber jemals ein hoher und feiner Geist. Oft begegnet man darum in unsern
repräsentativen Körperschaften Talenten, sehr selten aber einem Charakter."

Am meisten wird, wenn wir von der Regierungsform und den charak¬
teristischen Eigenschaften der Gesetzgeber Englands absehen, politischer Carl
über die Methode geredet und geschrieben, mit der Gesetze zu Wege gebracht,
wie das Bedürfnis nach ihnen entdeckt und den Leuten eingeprägt wird. „Agi¬
tation." d.h. Mache einiger Interessenten, ist das Paßwort, welches das Be¬
dürfnis aller ausdrücken soll. Die Agitation wird von der Presse aufgegriffen
und dahin gebracht, daß sie auf die Gesetzgebungsmaschine wirkt, der man dann
Vox xoxM, vox Ogi zuruft. In dieser Methode hat England in der letzten
Zeit große Fortschritte gemacht. War es früher ein Ruf aus tausend von
einander unabhängigen Mittelpunkten der Bevölkerung, den die Presse aufnahm
und dem Parlamente empfahl, so darf jetzt ein Ruf, den eine einzige sensationelle
Zeitung ausstößt, den Ministern sich als beachtenswert empfehlen, seinen Weg
von diesen durch die Gesetzgebung machen und sich in ein Gesetz verkörpern, ohne
daß die Nation als Ganzes viel darnach fragte und die Sache unterstützte.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/549>, abgerufen am 28.09.2024.