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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Lin böser Geist im heutigen England,

er überhaupt nichts thun kann, weil er nur Werkzeug der Stände ist, welche
bis jetzt das Parlament allein beschickten. Man kann verschiedner Ansicht über
die politische Macht der englischen Souveräne sein, aber niemand wird an der
ungeheuern Macht zweifeln, welche die verhältnismäßig kleine Minderheit ausübt,
die man die obern Zehntausend zu nennen pflegt. Der Carl aber leugnet das,
und bis auf die neueste Zeit war es eine Lieblingsbehanptung der Mittelklasse,
das parlamentarische Regiment sei eine Panacee für alles. Bis jetzt war mit
diesem "alles" nur die Beschneidung des politischen Einflusses der Aristokratie
des Landes zu Gunsten der plutokmtischen Mittelklassen gemeint. Der Carl
aber stellt sich, als sähe er das nicht, als wüßte er nicht, daß diese Klasse jetzt
regiert, und bückt sich bis auf die Schuhspitzen vor der Aristokratie, die mit
jeder Erweiterung des Wahlrechts an Einfluß verloren hat. Der Engländer
wird in dem Glauben an die unübertreffliche Vortrefflichkeit der parlamen¬
tarischen Regierungsweise geboren und erzogen, und sein Pharisäismus hält
diese für einzig und allein ernstlich der Rede wert. Die Briten sind ihm auch
in dieser Beziehung das auserwählte Volk. Der Carl sagt ihm, daß diese
Form das Volk in den Stand setzt, sich selbst zu regieren und seine Politik
in die möglichst richtigen Wege zu lenken, die, für welche und auf welchen sich
die Mehrheit frei entscheidet. Zweitens sagt er ihm, daß diese Mehrheit über
die politische Weisheit der Nation verfügt, indem ihr unvergleichlicher Scharfsinn
sie entdeckt und auswählt. Das sieht schön aus, ist aber nur in der Theorie
richtig. Nach der Theorie macht das Volk seinen Willen fühlbar und giebt
seinen Bedürfnisse" und Wünschen in Betreff der Gesetzgebung Ausdruck, die dann
nur noch von seinen in feierlichem Konklave versammelten Vertretern wirksam
gemacht werden. Nach der Theorie werden dazu die klügsten und besten Männer
gewählt. Die Erfahrung lehrt, daß in der Regel keineswegs die klügsten und
besten Männer gewählt werden, sondern die rührigsten, die dreistesten, die am
gründlichsten mit den vulgären Erfordernissen des Erfolgs bei der Wahl bekannt
find, die Handwcrksparlamentaricr. Die besten Söhne Englands waren nur
zu oft weder befähigt noch geneigt, die Bedingungen zu erfüllen, die erforderlich
find, das Volk zu vertreten, sie schraken zurück vor einer Thätigkeit, welche
gewissenhafte Überzeugung leichter zerstört als nährt und fördert. Mit wie
wenig Weisheit England regiert wird, zeigen die sich mit Politik beschäftigenden
persönlichen Denkwürdigkeiten der letzten fünfzig Jahre und die Spalten der
Zeitungen aus dieser an Thorheiten und Mißgriffen besonders reichen Periode.
Wie wird in England jemand zum Bewerber um parlamentarische Ehren? Daß
die Wähler sich einen Kandidaten wegen seiner hervorragenden Eigenschaften aus¬
suchen und ihn bitten, sie zu vertreten, kommt sehr selten vor, und wo es geschieht,
ist einzunehmen, daß andre Beweggründe dabei wesentlich mitwirken. In der
Regel drängt sich ein ehrgeiziger, reicher Mann der Aufmerksamkeit seiner werten
Mitbürger auf und sucht sie zu überzeugen, daß er vor andern ihr Vertrauen


Lin böser Geist im heutigen England,

er überhaupt nichts thun kann, weil er nur Werkzeug der Stände ist, welche
bis jetzt das Parlament allein beschickten. Man kann verschiedner Ansicht über
die politische Macht der englischen Souveräne sein, aber niemand wird an der
ungeheuern Macht zweifeln, welche die verhältnismäßig kleine Minderheit ausübt,
die man die obern Zehntausend zu nennen pflegt. Der Carl aber leugnet das,
und bis auf die neueste Zeit war es eine Lieblingsbehanptung der Mittelklasse,
das parlamentarische Regiment sei eine Panacee für alles. Bis jetzt war mit
diesem „alles" nur die Beschneidung des politischen Einflusses der Aristokratie
des Landes zu Gunsten der plutokmtischen Mittelklassen gemeint. Der Carl
aber stellt sich, als sähe er das nicht, als wüßte er nicht, daß diese Klasse jetzt
regiert, und bückt sich bis auf die Schuhspitzen vor der Aristokratie, die mit
jeder Erweiterung des Wahlrechts an Einfluß verloren hat. Der Engländer
wird in dem Glauben an die unübertreffliche Vortrefflichkeit der parlamen¬
tarischen Regierungsweise geboren und erzogen, und sein Pharisäismus hält
diese für einzig und allein ernstlich der Rede wert. Die Briten sind ihm auch
in dieser Beziehung das auserwählte Volk. Der Carl sagt ihm, daß diese
Form das Volk in den Stand setzt, sich selbst zu regieren und seine Politik
in die möglichst richtigen Wege zu lenken, die, für welche und auf welchen sich
die Mehrheit frei entscheidet. Zweitens sagt er ihm, daß diese Mehrheit über
die politische Weisheit der Nation verfügt, indem ihr unvergleichlicher Scharfsinn
sie entdeckt und auswählt. Das sieht schön aus, ist aber nur in der Theorie
richtig. Nach der Theorie macht das Volk seinen Willen fühlbar und giebt
seinen Bedürfnisse» und Wünschen in Betreff der Gesetzgebung Ausdruck, die dann
nur noch von seinen in feierlichem Konklave versammelten Vertretern wirksam
gemacht werden. Nach der Theorie werden dazu die klügsten und besten Männer
gewählt. Die Erfahrung lehrt, daß in der Regel keineswegs die klügsten und
besten Männer gewählt werden, sondern die rührigsten, die dreistesten, die am
gründlichsten mit den vulgären Erfordernissen des Erfolgs bei der Wahl bekannt
find, die Handwcrksparlamentaricr. Die besten Söhne Englands waren nur
zu oft weder befähigt noch geneigt, die Bedingungen zu erfüllen, die erforderlich
find, das Volk zu vertreten, sie schraken zurück vor einer Thätigkeit, welche
gewissenhafte Überzeugung leichter zerstört als nährt und fördert. Mit wie
wenig Weisheit England regiert wird, zeigen die sich mit Politik beschäftigenden
persönlichen Denkwürdigkeiten der letzten fünfzig Jahre und die Spalten der
Zeitungen aus dieser an Thorheiten und Mißgriffen besonders reichen Periode.
Wie wird in England jemand zum Bewerber um parlamentarische Ehren? Daß
die Wähler sich einen Kandidaten wegen seiner hervorragenden Eigenschaften aus¬
suchen und ihn bitten, sie zu vertreten, kommt sehr selten vor, und wo es geschieht,
ist einzunehmen, daß andre Beweggründe dabei wesentlich mitwirken. In der
Regel drängt sich ein ehrgeiziger, reicher Mann der Aufmerksamkeit seiner werten
Mitbürger auf und sucht sie zu überzeugen, daß er vor andern ihr Vertrauen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/548>, abgerufen am 28.09.2024.