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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Das Sozialistengesetz und die Rückkehr zum gemeinen Recht.

keinen Tadel aussprechen --, muß man die regelmäßige Erneuerung des Gesetzes
und die daran sich knüpfende Verhandlung als ein unvermeidliches Übel in den
Kauf nehmen. Deshalb aber -- obwohl die Verhältnisse, welche zum Erlaß
des Gesetzes führten, heute noch gerade so liegen, wie vor zehn Jahren -- wegen
der zeitlichen Begrenzung des Gesetzes dessen Wiederaufhören verlangen, läuft
auf eine völlige Verkennung der Bedeutung dieser Begrenzung hinaus.

Jedenfalls hätte der. welcher den Ruf nach dem gemeinen Rechte erhebt,
die Aufgabe, näher nachzuweisen, wie das "Problem" zu lösen sei. Die
Nativnalzeitung hat hierzu einen schwachen Anlauf genommen, aber, wie uns
scheint, mit wenig Glück. Für das Strafgesetzbuch hält sie nur eine Vervoll¬
ständigung in der Richtung für nötig, daß Angriffe auf die Eigentumsordnung
unter Strafe gestellt werden. Sie will ferner im Preßgesetz die Einrichtung
der "Sitzredakteure" beseitigen. Und endlich will sie das bisher noch fehlende
Neichsgcsetz über Versammlungs- und Vereinsrecht hergestellt haben, in welchem
einige schärfere Bestimmungen, als in dem preußischen, Aufnahme finden könnten.
Das ist alles. In einem vorausgehenden Artikel hat sie aber ihren Vorschlägen
schon das üble Prognostikon gestellt, daß mit ihnen die jetzige "Ruhe" in der
sozialdemokratischen Agitation zu Ende sein würde. Das schade aber auch nichts.
Denn die öffentliche Agitation sei besser als eine geheime. Der geheimen Agi¬
tation sei jede Zügellosigkeit gestattet. Die öffentliche werde durch Strafrichter
und Polizei in Zaum gehalten. Die Arbeiter würden den Züricher "Sozial¬
demokraten" nicht mehr lesen, wenn sie ihre Ansichten in offen erscheinenden
Schriften vertreten fänden.

Wir sind in dieser Beziehung durchaus andrer Ansicht. Wir stellen zu¬
nächst die Frage: Was hat das Sozialistengcsetz eigentlich gewollt? Hat man
wirklich geglaubt, in einer kurzen, überhaupt nur absehbaren Reihe von Jahren
den sozialistischen Gedanken aus der Welt schaffen zu können? Daran hat
sicherlich niemand gedacht. Auch war es von vornherein nicht zweifelhaft, daß
die Sozialdemokratie insgeheim fortagitiren und ihre Verbindung möglichst
aufrecht erhalten werde. Das, was man von dem Gesetz unmittelbar erwarten
durfte, war, daß der wüsten öffentlichen Agitation und der daraus hervor¬
gehenden Verwilderung der Massen Einhalt gethan werde. Und diesen Zweck
hat das Gesetz vollkommen erreicht. Mögen auch heute noch zehntausend Ar¬
beiter in ihrer stillen Klause allwöchentlich einmal den "Sozialdemokraten"
lesen, es ist doch ein gewaltiger Unterschied gegen früher, wo Hunderttausende
von Arbeitern allabendlich auf jedem Wirtshaustisch die ärgsten Giftblätter
fanden und in jeder Versammlung die heftigsten Brandreden zu hören bekamen.
Gerade die ungescheute Öffentlichkeit, mit der die sozialdemokratische Agitation
auftreten konnte, gab ihr einen Schein von Berechtigung, der dem bethörten
Arbeiter imponiren mußte. Das alles ist heute anders geworden. Es ist so
sehr anders geworden, daß heute die sozialistischen Führer im Reichstage sogar


Das Sozialistengesetz und die Rückkehr zum gemeinen Recht.

keinen Tadel aussprechen —, muß man die regelmäßige Erneuerung des Gesetzes
und die daran sich knüpfende Verhandlung als ein unvermeidliches Übel in den
Kauf nehmen. Deshalb aber — obwohl die Verhältnisse, welche zum Erlaß
des Gesetzes führten, heute noch gerade so liegen, wie vor zehn Jahren — wegen
der zeitlichen Begrenzung des Gesetzes dessen Wiederaufhören verlangen, läuft
auf eine völlige Verkennung der Bedeutung dieser Begrenzung hinaus.

Jedenfalls hätte der. welcher den Ruf nach dem gemeinen Rechte erhebt,
die Aufgabe, näher nachzuweisen, wie das „Problem" zu lösen sei. Die
Nativnalzeitung hat hierzu einen schwachen Anlauf genommen, aber, wie uns
scheint, mit wenig Glück. Für das Strafgesetzbuch hält sie nur eine Vervoll¬
ständigung in der Richtung für nötig, daß Angriffe auf die Eigentumsordnung
unter Strafe gestellt werden. Sie will ferner im Preßgesetz die Einrichtung
der „Sitzredakteure" beseitigen. Und endlich will sie das bisher noch fehlende
Neichsgcsetz über Versammlungs- und Vereinsrecht hergestellt haben, in welchem
einige schärfere Bestimmungen, als in dem preußischen, Aufnahme finden könnten.
Das ist alles. In einem vorausgehenden Artikel hat sie aber ihren Vorschlägen
schon das üble Prognostikon gestellt, daß mit ihnen die jetzige „Ruhe" in der
sozialdemokratischen Agitation zu Ende sein würde. Das schade aber auch nichts.
Denn die öffentliche Agitation sei besser als eine geheime. Der geheimen Agi¬
tation sei jede Zügellosigkeit gestattet. Die öffentliche werde durch Strafrichter
und Polizei in Zaum gehalten. Die Arbeiter würden den Züricher „Sozial¬
demokraten" nicht mehr lesen, wenn sie ihre Ansichten in offen erscheinenden
Schriften vertreten fänden.

Wir sind in dieser Beziehung durchaus andrer Ansicht. Wir stellen zu¬
nächst die Frage: Was hat das Sozialistengcsetz eigentlich gewollt? Hat man
wirklich geglaubt, in einer kurzen, überhaupt nur absehbaren Reihe von Jahren
den sozialistischen Gedanken aus der Welt schaffen zu können? Daran hat
sicherlich niemand gedacht. Auch war es von vornherein nicht zweifelhaft, daß
die Sozialdemokratie insgeheim fortagitiren und ihre Verbindung möglichst
aufrecht erhalten werde. Das, was man von dem Gesetz unmittelbar erwarten
durfte, war, daß der wüsten öffentlichen Agitation und der daraus hervor¬
gehenden Verwilderung der Massen Einhalt gethan werde. Und diesen Zweck
hat das Gesetz vollkommen erreicht. Mögen auch heute noch zehntausend Ar¬
beiter in ihrer stillen Klause allwöchentlich einmal den „Sozialdemokraten"
lesen, es ist doch ein gewaltiger Unterschied gegen früher, wo Hunderttausende
von Arbeitern allabendlich auf jedem Wirtshaustisch die ärgsten Giftblätter
fanden und in jeder Versammlung die heftigsten Brandreden zu hören bekamen.
Gerade die ungescheute Öffentlichkeit, mit der die sozialdemokratische Agitation
auftreten konnte, gab ihr einen Schein von Berechtigung, der dem bethörten
Arbeiter imponiren mußte. Das alles ist heute anders geworden. Es ist so
sehr anders geworden, daß heute die sozialistischen Führer im Reichstage sogar


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[0533] Das Sozialistengesetz und die Rückkehr zum gemeinen Recht. keinen Tadel aussprechen —, muß man die regelmäßige Erneuerung des Gesetzes und die daran sich knüpfende Verhandlung als ein unvermeidliches Übel in den Kauf nehmen. Deshalb aber — obwohl die Verhältnisse, welche zum Erlaß des Gesetzes führten, heute noch gerade so liegen, wie vor zehn Jahren — wegen der zeitlichen Begrenzung des Gesetzes dessen Wiederaufhören verlangen, läuft auf eine völlige Verkennung der Bedeutung dieser Begrenzung hinaus. Jedenfalls hätte der. welcher den Ruf nach dem gemeinen Rechte erhebt, die Aufgabe, näher nachzuweisen, wie das „Problem" zu lösen sei. Die Nativnalzeitung hat hierzu einen schwachen Anlauf genommen, aber, wie uns scheint, mit wenig Glück. Für das Strafgesetzbuch hält sie nur eine Vervoll¬ ständigung in der Richtung für nötig, daß Angriffe auf die Eigentumsordnung unter Strafe gestellt werden. Sie will ferner im Preßgesetz die Einrichtung der „Sitzredakteure" beseitigen. Und endlich will sie das bisher noch fehlende Neichsgcsetz über Versammlungs- und Vereinsrecht hergestellt haben, in welchem einige schärfere Bestimmungen, als in dem preußischen, Aufnahme finden könnten. Das ist alles. In einem vorausgehenden Artikel hat sie aber ihren Vorschlägen schon das üble Prognostikon gestellt, daß mit ihnen die jetzige „Ruhe" in der sozialdemokratischen Agitation zu Ende sein würde. Das schade aber auch nichts. Denn die öffentliche Agitation sei besser als eine geheime. Der geheimen Agi¬ tation sei jede Zügellosigkeit gestattet. Die öffentliche werde durch Strafrichter und Polizei in Zaum gehalten. Die Arbeiter würden den Züricher „Sozial¬ demokraten" nicht mehr lesen, wenn sie ihre Ansichten in offen erscheinenden Schriften vertreten fänden. Wir sind in dieser Beziehung durchaus andrer Ansicht. Wir stellen zu¬ nächst die Frage: Was hat das Sozialistengcsetz eigentlich gewollt? Hat man wirklich geglaubt, in einer kurzen, überhaupt nur absehbaren Reihe von Jahren den sozialistischen Gedanken aus der Welt schaffen zu können? Daran hat sicherlich niemand gedacht. Auch war es von vornherein nicht zweifelhaft, daß die Sozialdemokratie insgeheim fortagitiren und ihre Verbindung möglichst aufrecht erhalten werde. Das, was man von dem Gesetz unmittelbar erwarten durfte, war, daß der wüsten öffentlichen Agitation und der daraus hervor¬ gehenden Verwilderung der Massen Einhalt gethan werde. Und diesen Zweck hat das Gesetz vollkommen erreicht. Mögen auch heute noch zehntausend Ar¬ beiter in ihrer stillen Klause allwöchentlich einmal den „Sozialdemokraten" lesen, es ist doch ein gewaltiger Unterschied gegen früher, wo Hunderttausende von Arbeitern allabendlich auf jedem Wirtshaustisch die ärgsten Giftblätter fanden und in jeder Versammlung die heftigsten Brandreden zu hören bekamen. Gerade die ungescheute Öffentlichkeit, mit der die sozialdemokratische Agitation auftreten konnte, gab ihr einen Schein von Berechtigung, der dem bethörten Arbeiter imponiren mußte. Das alles ist heute anders geworden. Es ist so sehr anders geworden, daß heute die sozialistischen Führer im Reichstage sogar

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/533>, abgerufen am 28.09.2024.