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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Der wahrhafte Friede.

irre gemacht, als der gute Abbe de Samt Pierre die europäischen Kabinette mit
seinen rührenden Petitionen um die endlich Konstituirung einer Friedensliga.
Allein es würde deshalb doch sehr ungerecht sein, diese Ideen einfach lächerlich
und abgeschmackt zu finden. Wenn wir sie anch, um die Übertragung auf that¬
sächliche Verhältnisse zu erleichtern, aus natürlichen Stimmungen abgeleitet
haben, eben diese Stimmungen bedeuten doch wiederum etwas für sich, sind im
Ganzen der Erscheinungswelt notwendig und tief begründet. Und so kommen
wir umgekehrt wieder von den Stimmungen auf Ideen, und diese in ihrer Rein¬
heit zu erfassen, ist nichts weniger als lächerlich, ist erhaben. Man muß sich
nur den Kopf ansehen, der sie vorträgt, und Zeit und Umstände, auf die sie
angewendet werden. Hierbei hat man nun freilich ganz besonders in unsrer Zeit
nur allzuoft Gelegenheit, zu beobachten, daß auch in den Erörterungen vom
ewigen Krieg und ewigen Frieden vom Erhabnen bis zum Lächerlichen nur ein
Schritt ist.

Es war sicherlich einer der genialsten und erhabensten Philosophen, der
zuerst die Idee vom ewigen Kriege faßte. Und der zugleich kühnste und be¬
sonnenste Denker, den unsre Erde trug, Kant, hat doch nicht umhin gekonnt, die
seiner Zeit so werte Idee vom ewigen Frieden in das System seiner Philo¬
sophie aufzunehmen. Es war mehr witzig als philosophisch von Hegel, daß er
Kants Gedanken eines europäischen Areopags, bei dem alle Streitigkeiten an¬
hängig zu machen wären, mit der allerdings richtigen Frage abzufertigen glaubte,
wo denn nun die Willensvollstreckcr jenes Areopags sein sollten. Denn dieser
Einwurf wird hinfällig, sobald man diesen Gedanken nicht in solch äußerlicher
Weise, sondern in dem bei Kant ganz selbstverständlichen Sinne eines politischen
Ideals faßt, welches sich von selbst einstellt, sobald die Grundsätze der prak¬
tischen Vernunft, d. y. die Grundsätze der reinen Sittlichkeit, nicht bloß auf
das Verhältnis der Menschen, sondern auch auf das der Völker zu einander
angewendet werden. Dann treten nämlich den viel erörterten Völkerrechten die
stets nach Möglichkeit in den Hintergrund geschobenen Völkerpflichten mit einem
male in ganz andrer Beleuchtung gegenüber. Und die erste dieser Pflichten,
aus welcher alle andern gefolgert werden können, wird natürlich der ewige
Grundsatz der Moral sein, der in der negativen volkstümlichen Fassung bei
allem, was Menscheuantlitz trägt, bekannt ist oder nötigenfalls sehr rasch be¬
griffen wird: Was dn nicht willst, das man dir thu, das füg auch keinem
andern zu! In Wirklichkeit tritt nun allerdings diese Völkerpflicht (ganz wie
im privaten Leben) mit allen nur möglichen, wirklichen oder eingebildeten Völker¬
rechten in Kollision. Die Entscheidung hierüber liegt aber keineswegs in der
plump-mechanischen Abstraktion eines europäischen Gleichgewichts, aus der man
alles und (wie sich in der Zeit des zweiten französischen Kaiserreiches gezeigt
hat) das schreiendste Unrecht folgern kann, sondern sie liegt eben bei jenem
Kantischen Areopag. der unsichtbar über die Ansprüche und Streitigkeiten der


Grenzboten I. 1888. 63
Der wahrhafte Friede.

irre gemacht, als der gute Abbe de Samt Pierre die europäischen Kabinette mit
seinen rührenden Petitionen um die endlich Konstituirung einer Friedensliga.
Allein es würde deshalb doch sehr ungerecht sein, diese Ideen einfach lächerlich
und abgeschmackt zu finden. Wenn wir sie anch, um die Übertragung auf that¬
sächliche Verhältnisse zu erleichtern, aus natürlichen Stimmungen abgeleitet
haben, eben diese Stimmungen bedeuten doch wiederum etwas für sich, sind im
Ganzen der Erscheinungswelt notwendig und tief begründet. Und so kommen
wir umgekehrt wieder von den Stimmungen auf Ideen, und diese in ihrer Rein¬
heit zu erfassen, ist nichts weniger als lächerlich, ist erhaben. Man muß sich
nur den Kopf ansehen, der sie vorträgt, und Zeit und Umstände, auf die sie
angewendet werden. Hierbei hat man nun freilich ganz besonders in unsrer Zeit
nur allzuoft Gelegenheit, zu beobachten, daß auch in den Erörterungen vom
ewigen Krieg und ewigen Frieden vom Erhabnen bis zum Lächerlichen nur ein
Schritt ist.

Es war sicherlich einer der genialsten und erhabensten Philosophen, der
zuerst die Idee vom ewigen Kriege faßte. Und der zugleich kühnste und be¬
sonnenste Denker, den unsre Erde trug, Kant, hat doch nicht umhin gekonnt, die
seiner Zeit so werte Idee vom ewigen Frieden in das System seiner Philo¬
sophie aufzunehmen. Es war mehr witzig als philosophisch von Hegel, daß er
Kants Gedanken eines europäischen Areopags, bei dem alle Streitigkeiten an¬
hängig zu machen wären, mit der allerdings richtigen Frage abzufertigen glaubte,
wo denn nun die Willensvollstreckcr jenes Areopags sein sollten. Denn dieser
Einwurf wird hinfällig, sobald man diesen Gedanken nicht in solch äußerlicher
Weise, sondern in dem bei Kant ganz selbstverständlichen Sinne eines politischen
Ideals faßt, welches sich von selbst einstellt, sobald die Grundsätze der prak¬
tischen Vernunft, d. y. die Grundsätze der reinen Sittlichkeit, nicht bloß auf
das Verhältnis der Menschen, sondern auch auf das der Völker zu einander
angewendet werden. Dann treten nämlich den viel erörterten Völkerrechten die
stets nach Möglichkeit in den Hintergrund geschobenen Völkerpflichten mit einem
male in ganz andrer Beleuchtung gegenüber. Und die erste dieser Pflichten,
aus welcher alle andern gefolgert werden können, wird natürlich der ewige
Grundsatz der Moral sein, der in der negativen volkstümlichen Fassung bei
allem, was Menscheuantlitz trägt, bekannt ist oder nötigenfalls sehr rasch be¬
griffen wird: Was dn nicht willst, das man dir thu, das füg auch keinem
andern zu! In Wirklichkeit tritt nun allerdings diese Völkerpflicht (ganz wie
im privaten Leben) mit allen nur möglichen, wirklichen oder eingebildeten Völker¬
rechten in Kollision. Die Entscheidung hierüber liegt aber keineswegs in der
plump-mechanischen Abstraktion eines europäischen Gleichgewichts, aus der man
alles und (wie sich in der Zeit des zweiten französischen Kaiserreiches gezeigt
hat) das schreiendste Unrecht folgern kann, sondern sie liegt eben bei jenem
Kantischen Areopag. der unsichtbar über die Ansprüche und Streitigkeiten der


Grenzboten I. 1888. 63
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/505>, abgerufen am 28.09.2024.