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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Litteratur.

gelangte, so hat es in dieser Hinsicht am guten Willen der Franzosen nicht ge¬
fehlt. Der französische Gesandte Waddington hatte dagegen die Genugthuung, daß
er los mains nettes, d. h. nichts nach Hause brachte.

Item: Krieg wie Bündnis mit den Franzosen haben den Russen seit hundert
Jahren ein Reich von etwa 1000000 Qu.-Ku. und gegen zwanzig Millionen Ein¬
wohner eingebracht, darunter die wichtigsten politischen und militärischen Stellungen
in Polen, an der Donan und am Schwarzen Meer.

Und welche Gegenleistung hat Frankreich für das alles erhalten? Nun
-- wird man sagen -- durch die Napoleonischen Friedensschlüsse nnter russischer
Mitwirkung eine sehr große (Lüneville, Preßburg, Tilsit, Wien). Aber wo ist
sie? Im Pariser Frieden (1814, 1815) ist, ebenfalls unter russischer Mitwirkung,
alles verloren gegangen, von den Kolonien ganz zu schweigen. Und was hat
Nußland, als Frankreich 1870 und 1871 in Not war, zu dessen Gunsten gethan?
Zunächst hat es dnrch seine drohende Neutralität Oesterreich abgehalten, Frankreich
beizuspringen, dann den französischen Bittgesandten Thiers kühl ablaufen lassen,
dagegen die Gelegenheit, d. i. die Ohnmacht Frankreichs benutzt, um die lästigsten
Bedingungen des Vertrages von 1856 durch die Londoner Uebereinkunft vom
13. März 1871 abzuschütteln, endlich der Annexion von Elsaß und Lothringen
durch die Deutschen mit philosophischer Ruhe zugesehen.

Item: Frankreich hat zwar nicht xour 1o roi as ?rnsL"z, wohl aber sehr er¬
sprießlich xour l'oinxizrour liusss gearbeitet und dafür nicht den "Dank des Hauses
Oesterreich," sondern den noch viel edlern des Hauses Romanow geerntet. Und
doch hat Dcroulede an Katkoffs Grabe geweint! Lamsnti Sö,t. Werden aber die
Franzosen jemals gescheit werden?




Litteratur.
Der Kulturkampf zwischen Asien und Europa. Von Dr. Adolf Wahrmund.
Berlin, Reuthers Verlagsbuchhandlung.

Der Verfasser dieser kleinen Schrift, Professor an der k. k. Orientalischen
Akademie in Wien, hat sich durch ein Buch bekannt gemacht, welches die so vielfach
durch Hereinziehung fremder Materien verdunkelte Judenfrage auf denjenigen Boden
stellt, auf welchem allein sie richtig beurteilt werden kann. Und der Beifall, den
die frühere Arbeit gefunden hat, hat zur Folge gehabt, daß die neue wenige Tage
nach ihrem Erscheinen schon in zweiter Auflage gedruckt werden mußte: ein erfreu¬
licher Beweis, daß eine litterarische Erscheinung doch noch ohne und gegen die
Eintagslitteratur ihren Weg machen kann. Denn da gegen den Kern der Aus¬
führungen Wahrmunds sich nichts einwenden läßt, so scheint der große Teil der
Presse, dem jene Ausführungen sehr unangenehm sein müssen, es vorgezogen zu haben,
sowohl "das Gesetz des Nomadentnms" als den "Kulturkampf" zu verschweigen.
Im Grunde ist die zweite Schrift die Anwendung der durch die erste gewonnenen
Ergebnisse auf die große Frage, welche Europa seit Jahr und Tag in Spannung
erhält, nachdem sie seit einem halben Jahrhundert schon ein Dutzend mal auf der
Tagesordnung gestanden hat. Der Nomade steht und bleibt immerdar unter dem


Litteratur.

gelangte, so hat es in dieser Hinsicht am guten Willen der Franzosen nicht ge¬
fehlt. Der französische Gesandte Waddington hatte dagegen die Genugthuung, daß
er los mains nettes, d. h. nichts nach Hause brachte.

Item: Krieg wie Bündnis mit den Franzosen haben den Russen seit hundert
Jahren ein Reich von etwa 1000000 Qu.-Ku. und gegen zwanzig Millionen Ein¬
wohner eingebracht, darunter die wichtigsten politischen und militärischen Stellungen
in Polen, an der Donan und am Schwarzen Meer.

Und welche Gegenleistung hat Frankreich für das alles erhalten? Nun
— wird man sagen — durch die Napoleonischen Friedensschlüsse nnter russischer
Mitwirkung eine sehr große (Lüneville, Preßburg, Tilsit, Wien). Aber wo ist
sie? Im Pariser Frieden (1814, 1815) ist, ebenfalls unter russischer Mitwirkung,
alles verloren gegangen, von den Kolonien ganz zu schweigen. Und was hat
Nußland, als Frankreich 1870 und 1871 in Not war, zu dessen Gunsten gethan?
Zunächst hat es dnrch seine drohende Neutralität Oesterreich abgehalten, Frankreich
beizuspringen, dann den französischen Bittgesandten Thiers kühl ablaufen lassen,
dagegen die Gelegenheit, d. i. die Ohnmacht Frankreichs benutzt, um die lästigsten
Bedingungen des Vertrages von 1856 durch die Londoner Uebereinkunft vom
13. März 1871 abzuschütteln, endlich der Annexion von Elsaß und Lothringen
durch die Deutschen mit philosophischer Ruhe zugesehen.

Item: Frankreich hat zwar nicht xour 1o roi as ?rnsL«z, wohl aber sehr er¬
sprießlich xour l'oinxizrour liusss gearbeitet und dafür nicht den „Dank des Hauses
Oesterreich," sondern den noch viel edlern des Hauses Romanow geerntet. Und
doch hat Dcroulede an Katkoffs Grabe geweint! Lamsnti Sö,t. Werden aber die
Franzosen jemals gescheit werden?




Litteratur.
Der Kulturkampf zwischen Asien und Europa. Von Dr. Adolf Wahrmund.
Berlin, Reuthers Verlagsbuchhandlung.

Der Verfasser dieser kleinen Schrift, Professor an der k. k. Orientalischen
Akademie in Wien, hat sich durch ein Buch bekannt gemacht, welches die so vielfach
durch Hereinziehung fremder Materien verdunkelte Judenfrage auf denjenigen Boden
stellt, auf welchem allein sie richtig beurteilt werden kann. Und der Beifall, den
die frühere Arbeit gefunden hat, hat zur Folge gehabt, daß die neue wenige Tage
nach ihrem Erscheinen schon in zweiter Auflage gedruckt werden mußte: ein erfreu¬
licher Beweis, daß eine litterarische Erscheinung doch noch ohne und gegen die
Eintagslitteratur ihren Weg machen kann. Denn da gegen den Kern der Aus¬
führungen Wahrmunds sich nichts einwenden läßt, so scheint der große Teil der
Presse, dem jene Ausführungen sehr unangenehm sein müssen, es vorgezogen zu haben,
sowohl „das Gesetz des Nomadentnms" als den „Kulturkampf" zu verschweigen.
Im Grunde ist die zweite Schrift die Anwendung der durch die erste gewonnenen
Ergebnisse auf die große Frage, welche Europa seit Jahr und Tag in Spannung
erhält, nachdem sie seit einem halben Jahrhundert schon ein Dutzend mal auf der
Tagesordnung gestanden hat. Der Nomade steht und bleibt immerdar unter dem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/430>, abgerufen am 28.09.2024.