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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Die Krankheit des Jahrhunderts.

Vermißt er nicht, die Liebe zu Lulu erklärt er für eine Selbsttäuschung, und
so lebt er denn nach seiner Weise weiter, tritt in einer großen sozialdemokratischen
Versammlung den Hoffnungen der Sozialdemokratie auf das Jahrtausend des
allgemeinen Genießens und Wohlergehens nach Maßgabe seiner Überzeugungen
energisch gegenüber, kann aber dabei eine gewisse trübe Sympathie für die Agi¬
tation nicht unterdrücken, wird nach dem Attentat von 1878 in häßlichster Weise
denunzirt, von da an polizeilich überwacht, schenkt eine große Summe zur
Unterstützung von hungernden Frauen und Kindern ausgewiesener Sozial-
demokraten und wird darüber selbst ausgewiesen. Bis hierher vermag man
eine schwache Sympathie für den wunderlichen Helden zu bewahren, der sein
Empfinden und sein Handeln so gar nicht in Einklang zu setzen vermag und
der das, was er für recht hält, immer nur s. 1-z. Don Quixote in Szene
zu setzen weiß. Was nnn kommt, ist kläglich. Herr Doktor Wilhelm Eyn-
hardt besucht zuerst seinen alten Freund Paul Haber in Hamburg, kann
es aber bei diesem trotz der rückhaltslosesten Gastfreundschaft nicht über sich
gewinnen, sich irgend ein unmittelbares, erreichbares Ziel zu setzen, und verläßt
Haders Haus und Deutschland überhaupt, als der Landrat dem Gutsbesitzer
Vorstellungen über den Aufenthalt des gefährlichen Sozialdemokraten in
dessen Hause macht. Er flicht nach Ostende und von hier wieder weg, als
er mit seiner frühern Geliebten Lulu zusammentrifft, die so unglücklich ge¬
worden ist, als nur ein Weib werden kann. Ruhe findet er endlich in einem
kleinen französischen Seebade Unit, im Departement der Somme. Und hier
führt ihn sein Mißgeschick im Hotel mit einer Gräfin Pilar Pvzaldez zu¬
sammen, einer jener männeraussaugenden Heldinnen, die kraft ihrer Geburt und
ihres Vermögens zur großen Welt, kraft ihrer Natur zur Halbwelt im schlimmsten
Sinne gehören und bis über das fünfzigste Lebensjahr hinaus nach dem "Rechten"
zu suchen Pflegen. Obschon der Philosoph und Vertreter des Idealismus der
Frau Gräfin in schroffer, ja fast roher Weise erklärt, daß er nur die keuschen
und heiligen Männer liebe, die nie ein Weib berührt haben, und versichert, daß
das Weib den Mann zur Tierheit herabzieht, so macht es doch der nach neuer
Liebe durstigen geringe Mühe, ihn zu erobern. Sie überrumpelt ihn eines
Abends, wie Philine seinen Namensvetter Wilhelm Meister. Von hier an lebt
Doktor Eynhardt mit der begehrlichen Spanierin in wilder Ehe, und die Einzel¬
heiten dieses Lebens sind breit genug ausgemalt, um selbst bei den Jüngern
Zolas Gnade zu finden. Das Leben, welches er in Paris ein der Seite seiner
Geliebten -- die er eigentlich nicht liebt --, ein halbes Jahr lang führt, ist aller¬
dings nicht beneidenswert. Ein Ende entflieht er den Armen Pilars, kehrt ge¬
brochenen Mutes nach Deutschland zurück, wo er bei Paul und Malwine Haber
in Hamburg die alte herzliche Aufnahme findet, aber innerlich gebrochen, seiner
ehemaligen sehr starken Selbstachtung beraubt, an leine Zukunft mehr zu glauben
wagt. Er reicht aber doch auf Schrötters Betrieb ein Gesuch um Gestattung


Die Krankheit des Jahrhunderts.

Vermißt er nicht, die Liebe zu Lulu erklärt er für eine Selbsttäuschung, und
so lebt er denn nach seiner Weise weiter, tritt in einer großen sozialdemokratischen
Versammlung den Hoffnungen der Sozialdemokratie auf das Jahrtausend des
allgemeinen Genießens und Wohlergehens nach Maßgabe seiner Überzeugungen
energisch gegenüber, kann aber dabei eine gewisse trübe Sympathie für die Agi¬
tation nicht unterdrücken, wird nach dem Attentat von 1878 in häßlichster Weise
denunzirt, von da an polizeilich überwacht, schenkt eine große Summe zur
Unterstützung von hungernden Frauen und Kindern ausgewiesener Sozial-
demokraten und wird darüber selbst ausgewiesen. Bis hierher vermag man
eine schwache Sympathie für den wunderlichen Helden zu bewahren, der sein
Empfinden und sein Handeln so gar nicht in Einklang zu setzen vermag und
der das, was er für recht hält, immer nur s. 1-z. Don Quixote in Szene
zu setzen weiß. Was nnn kommt, ist kläglich. Herr Doktor Wilhelm Eyn-
hardt besucht zuerst seinen alten Freund Paul Haber in Hamburg, kann
es aber bei diesem trotz der rückhaltslosesten Gastfreundschaft nicht über sich
gewinnen, sich irgend ein unmittelbares, erreichbares Ziel zu setzen, und verläßt
Haders Haus und Deutschland überhaupt, als der Landrat dem Gutsbesitzer
Vorstellungen über den Aufenthalt des gefährlichen Sozialdemokraten in
dessen Hause macht. Er flicht nach Ostende und von hier wieder weg, als
er mit seiner frühern Geliebten Lulu zusammentrifft, die so unglücklich ge¬
worden ist, als nur ein Weib werden kann. Ruhe findet er endlich in einem
kleinen französischen Seebade Unit, im Departement der Somme. Und hier
führt ihn sein Mißgeschick im Hotel mit einer Gräfin Pilar Pvzaldez zu¬
sammen, einer jener männeraussaugenden Heldinnen, die kraft ihrer Geburt und
ihres Vermögens zur großen Welt, kraft ihrer Natur zur Halbwelt im schlimmsten
Sinne gehören und bis über das fünfzigste Lebensjahr hinaus nach dem „Rechten"
zu suchen Pflegen. Obschon der Philosoph und Vertreter des Idealismus der
Frau Gräfin in schroffer, ja fast roher Weise erklärt, daß er nur die keuschen
und heiligen Männer liebe, die nie ein Weib berührt haben, und versichert, daß
das Weib den Mann zur Tierheit herabzieht, so macht es doch der nach neuer
Liebe durstigen geringe Mühe, ihn zu erobern. Sie überrumpelt ihn eines
Abends, wie Philine seinen Namensvetter Wilhelm Meister. Von hier an lebt
Doktor Eynhardt mit der begehrlichen Spanierin in wilder Ehe, und die Einzel¬
heiten dieses Lebens sind breit genug ausgemalt, um selbst bei den Jüngern
Zolas Gnade zu finden. Das Leben, welches er in Paris ein der Seite seiner
Geliebten — die er eigentlich nicht liebt —, ein halbes Jahr lang führt, ist aller¬
dings nicht beneidenswert. Ein Ende entflieht er den Armen Pilars, kehrt ge¬
brochenen Mutes nach Deutschland zurück, wo er bei Paul und Malwine Haber
in Hamburg die alte herzliche Aufnahme findet, aber innerlich gebrochen, seiner
ehemaligen sehr starken Selbstachtung beraubt, an leine Zukunft mehr zu glauben
wagt. Er reicht aber doch auf Schrötters Betrieb ein Gesuch um Gestattung


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[0421] Die Krankheit des Jahrhunderts. Vermißt er nicht, die Liebe zu Lulu erklärt er für eine Selbsttäuschung, und so lebt er denn nach seiner Weise weiter, tritt in einer großen sozialdemokratischen Versammlung den Hoffnungen der Sozialdemokratie auf das Jahrtausend des allgemeinen Genießens und Wohlergehens nach Maßgabe seiner Überzeugungen energisch gegenüber, kann aber dabei eine gewisse trübe Sympathie für die Agi¬ tation nicht unterdrücken, wird nach dem Attentat von 1878 in häßlichster Weise denunzirt, von da an polizeilich überwacht, schenkt eine große Summe zur Unterstützung von hungernden Frauen und Kindern ausgewiesener Sozial- demokraten und wird darüber selbst ausgewiesen. Bis hierher vermag man eine schwache Sympathie für den wunderlichen Helden zu bewahren, der sein Empfinden und sein Handeln so gar nicht in Einklang zu setzen vermag und der das, was er für recht hält, immer nur s. 1-z. Don Quixote in Szene zu setzen weiß. Was nnn kommt, ist kläglich. Herr Doktor Wilhelm Eyn- hardt besucht zuerst seinen alten Freund Paul Haber in Hamburg, kann es aber bei diesem trotz der rückhaltslosesten Gastfreundschaft nicht über sich gewinnen, sich irgend ein unmittelbares, erreichbares Ziel zu setzen, und verläßt Haders Haus und Deutschland überhaupt, als der Landrat dem Gutsbesitzer Vorstellungen über den Aufenthalt des gefährlichen Sozialdemokraten in dessen Hause macht. Er flicht nach Ostende und von hier wieder weg, als er mit seiner frühern Geliebten Lulu zusammentrifft, die so unglücklich ge¬ worden ist, als nur ein Weib werden kann. Ruhe findet er endlich in einem kleinen französischen Seebade Unit, im Departement der Somme. Und hier führt ihn sein Mißgeschick im Hotel mit einer Gräfin Pilar Pvzaldez zu¬ sammen, einer jener männeraussaugenden Heldinnen, die kraft ihrer Geburt und ihres Vermögens zur großen Welt, kraft ihrer Natur zur Halbwelt im schlimmsten Sinne gehören und bis über das fünfzigste Lebensjahr hinaus nach dem „Rechten" zu suchen Pflegen. Obschon der Philosoph und Vertreter des Idealismus der Frau Gräfin in schroffer, ja fast roher Weise erklärt, daß er nur die keuschen und heiligen Männer liebe, die nie ein Weib berührt haben, und versichert, daß das Weib den Mann zur Tierheit herabzieht, so macht es doch der nach neuer Liebe durstigen geringe Mühe, ihn zu erobern. Sie überrumpelt ihn eines Abends, wie Philine seinen Namensvetter Wilhelm Meister. Von hier an lebt Doktor Eynhardt mit der begehrlichen Spanierin in wilder Ehe, und die Einzel¬ heiten dieses Lebens sind breit genug ausgemalt, um selbst bei den Jüngern Zolas Gnade zu finden. Das Leben, welches er in Paris ein der Seite seiner Geliebten — die er eigentlich nicht liebt —, ein halbes Jahr lang führt, ist aller¬ dings nicht beneidenswert. Ein Ende entflieht er den Armen Pilars, kehrt ge¬ brochenen Mutes nach Deutschland zurück, wo er bei Paul und Malwine Haber in Hamburg die alte herzliche Aufnahme findet, aber innerlich gebrochen, seiner ehemaligen sehr starken Selbstachtung beraubt, an leine Zukunft mehr zu glauben wagt. Er reicht aber doch auf Schrötters Betrieb ein Gesuch um Gestattung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/421>, abgerufen am 28.09.2024.