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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Die Krankheit des Jahrhunderts.

fachen "Herrn von" befördert sieht. Nun -- dem wird sich ja mit einiger
Geduld und einigem Gelde nachträglich wohl abhelfen lassen.

Dies Strebertum, welches Paul Haber vertritt, ist sonach die eigentliche
Krankheit des Jahrhunderts? Der Mangel idealer Gesinnung, das Kleben am
Niedrigen und Nächsten, die Verachtung edlerer Empfindungen, die gänzliche
Gleichgiltigkeit gegen tiefere Forschungen und Erkenntnisse, der blinde Glaube
an Äußerlichkeiten, der Götzendienst vor Erfolg und Geld, das Banausentum
und die Servilität sind gewiß schlimme Lebenselemente; inwiefern sie aber in
Verbindung mit konservativer Überzeugung, mit nationaler Gesinnung und mit
positiven Bestrebungen auf irgend welchem Lebensgebiete stehen, bleibt uns auch
nach Herrn Nordaus Roman ein völliges Rätsel. Der Verfasser sucht durch
den Hintergrund, den er seiner Erfindung verleiht, und durch das Verhältnis
der Gestalten zu diesem Hintergrunde den Glauben zu erwecken, daß das gesamte
deutsche Leben der Gegenwart unter der Herrschaft jener häßlichen und widrigen
Elemente stehe. Die Zeichnung des Herrn Paul Haber in Ehren -- es giebt
Leute wie er unter uns, und es muß sie geben, aber die einzigen und die
maßgebenden sind sie glücklicherweise nicht, und die "Krankheit des Jahrhunderts"
vertreten sie keineswegs. Übrigens sei anerkannt, daß gerade in dieser Gestalt
Nordau am ehesten eine gewisse Objektivität, einen Zug poetischen Wahrheits¬
sinnes bethätigt hat. Der Streber Paul ist im Grunde ein vortrefflicher Gesell,
welcher nach des alten Simon Dach Worten "Treue erzeugen und Freundschaft
halten kann." Er vergißt unter keinen Umständen, daß er Wilhelm Eynhardt
die Begründung seines Glückes dankt, hält an ihm fest, auch als der Träumer
wegen verweigerten Duells als Reserveoffizier entlassen und wegen vermeinter
Begünstigung der sozialistischen Umtriebe aus der Reichshauptstadt ausgewiesen
wird. Selbst Doktor Schroeter muß am Schlüsse einräumen, daß der Platte,
mittelmäßige Dutzendmensch, wenn er heute verschwände, vermißt werden würde.
"Ein blühendes Land und Hunderte von Menschen, deren Geschick er verbessert
hat, würden laut bezeugen, daß sein Erdenwallen nicht unnütz gewesen ist."
Selbst der Verfasser deutet an, daß Paul Haber am Ende so übel nicht sei,
ja wenn er nur fortschrittlich fühlte, wählte und wühlte, so würde er sofort
allen wünschenswerten Idealismus besitzen.

Oder irren wir uns: soll nicht das Strebertum und der Mangel an idealer
Gesinnung (Ideale sind nach Nordau immer nur die von 1848!), sondern die
pessimistische und am Leben verzagende Thatlosigkeit die Krankheit des Jahr¬
hunderts sein? "Die vornehme, große Seele hinterläßt keine Spur, und der
platte, mittelmäßige Mensch gräbt seinen Namenszug dauerhaft in die Erde des
Vaterlandes." Freilich der unglückliche Dörfling, den der nüchterne Paul
schlechtweg für verrückt erklärt, nimmt sich das Leben, als er sein philosophisches
Buch vollendet hat, Wilhelm Eynhardt verliert bei der Rettung von Pauls
Kinde das Leben, ehe er sein Buch vollenden konnte, und Doktor Schroeter


Die Krankheit des Jahrhunderts.

fachen „Herrn von" befördert sieht. Nun — dem wird sich ja mit einiger
Geduld und einigem Gelde nachträglich wohl abhelfen lassen.

Dies Strebertum, welches Paul Haber vertritt, ist sonach die eigentliche
Krankheit des Jahrhunderts? Der Mangel idealer Gesinnung, das Kleben am
Niedrigen und Nächsten, die Verachtung edlerer Empfindungen, die gänzliche
Gleichgiltigkeit gegen tiefere Forschungen und Erkenntnisse, der blinde Glaube
an Äußerlichkeiten, der Götzendienst vor Erfolg und Geld, das Banausentum
und die Servilität sind gewiß schlimme Lebenselemente; inwiefern sie aber in
Verbindung mit konservativer Überzeugung, mit nationaler Gesinnung und mit
positiven Bestrebungen auf irgend welchem Lebensgebiete stehen, bleibt uns auch
nach Herrn Nordaus Roman ein völliges Rätsel. Der Verfasser sucht durch
den Hintergrund, den er seiner Erfindung verleiht, und durch das Verhältnis
der Gestalten zu diesem Hintergrunde den Glauben zu erwecken, daß das gesamte
deutsche Leben der Gegenwart unter der Herrschaft jener häßlichen und widrigen
Elemente stehe. Die Zeichnung des Herrn Paul Haber in Ehren — es giebt
Leute wie er unter uns, und es muß sie geben, aber die einzigen und die
maßgebenden sind sie glücklicherweise nicht, und die „Krankheit des Jahrhunderts"
vertreten sie keineswegs. Übrigens sei anerkannt, daß gerade in dieser Gestalt
Nordau am ehesten eine gewisse Objektivität, einen Zug poetischen Wahrheits¬
sinnes bethätigt hat. Der Streber Paul ist im Grunde ein vortrefflicher Gesell,
welcher nach des alten Simon Dach Worten „Treue erzeugen und Freundschaft
halten kann." Er vergißt unter keinen Umständen, daß er Wilhelm Eynhardt
die Begründung seines Glückes dankt, hält an ihm fest, auch als der Träumer
wegen verweigerten Duells als Reserveoffizier entlassen und wegen vermeinter
Begünstigung der sozialistischen Umtriebe aus der Reichshauptstadt ausgewiesen
wird. Selbst Doktor Schroeter muß am Schlüsse einräumen, daß der Platte,
mittelmäßige Dutzendmensch, wenn er heute verschwände, vermißt werden würde.
„Ein blühendes Land und Hunderte von Menschen, deren Geschick er verbessert
hat, würden laut bezeugen, daß sein Erdenwallen nicht unnütz gewesen ist."
Selbst der Verfasser deutet an, daß Paul Haber am Ende so übel nicht sei,
ja wenn er nur fortschrittlich fühlte, wählte und wühlte, so würde er sofort
allen wünschenswerten Idealismus besitzen.

Oder irren wir uns: soll nicht das Strebertum und der Mangel an idealer
Gesinnung (Ideale sind nach Nordau immer nur die von 1848!), sondern die
pessimistische und am Leben verzagende Thatlosigkeit die Krankheit des Jahr¬
hunderts sein? „Die vornehme, große Seele hinterläßt keine Spur, und der
platte, mittelmäßige Mensch gräbt seinen Namenszug dauerhaft in die Erde des
Vaterlandes." Freilich der unglückliche Dörfling, den der nüchterne Paul
schlechtweg für verrückt erklärt, nimmt sich das Leben, als er sein philosophisches
Buch vollendet hat, Wilhelm Eynhardt verliert bei der Rettung von Pauls
Kinde das Leben, ehe er sein Buch vollenden konnte, und Doktor Schroeter


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[0418] Die Krankheit des Jahrhunderts. fachen „Herrn von" befördert sieht. Nun — dem wird sich ja mit einiger Geduld und einigem Gelde nachträglich wohl abhelfen lassen. Dies Strebertum, welches Paul Haber vertritt, ist sonach die eigentliche Krankheit des Jahrhunderts? Der Mangel idealer Gesinnung, das Kleben am Niedrigen und Nächsten, die Verachtung edlerer Empfindungen, die gänzliche Gleichgiltigkeit gegen tiefere Forschungen und Erkenntnisse, der blinde Glaube an Äußerlichkeiten, der Götzendienst vor Erfolg und Geld, das Banausentum und die Servilität sind gewiß schlimme Lebenselemente; inwiefern sie aber in Verbindung mit konservativer Überzeugung, mit nationaler Gesinnung und mit positiven Bestrebungen auf irgend welchem Lebensgebiete stehen, bleibt uns auch nach Herrn Nordaus Roman ein völliges Rätsel. Der Verfasser sucht durch den Hintergrund, den er seiner Erfindung verleiht, und durch das Verhältnis der Gestalten zu diesem Hintergrunde den Glauben zu erwecken, daß das gesamte deutsche Leben der Gegenwart unter der Herrschaft jener häßlichen und widrigen Elemente stehe. Die Zeichnung des Herrn Paul Haber in Ehren — es giebt Leute wie er unter uns, und es muß sie geben, aber die einzigen und die maßgebenden sind sie glücklicherweise nicht, und die „Krankheit des Jahrhunderts" vertreten sie keineswegs. Übrigens sei anerkannt, daß gerade in dieser Gestalt Nordau am ehesten eine gewisse Objektivität, einen Zug poetischen Wahrheits¬ sinnes bethätigt hat. Der Streber Paul ist im Grunde ein vortrefflicher Gesell, welcher nach des alten Simon Dach Worten „Treue erzeugen und Freundschaft halten kann." Er vergißt unter keinen Umständen, daß er Wilhelm Eynhardt die Begründung seines Glückes dankt, hält an ihm fest, auch als der Träumer wegen verweigerten Duells als Reserveoffizier entlassen und wegen vermeinter Begünstigung der sozialistischen Umtriebe aus der Reichshauptstadt ausgewiesen wird. Selbst Doktor Schroeter muß am Schlüsse einräumen, daß der Platte, mittelmäßige Dutzendmensch, wenn er heute verschwände, vermißt werden würde. „Ein blühendes Land und Hunderte von Menschen, deren Geschick er verbessert hat, würden laut bezeugen, daß sein Erdenwallen nicht unnütz gewesen ist." Selbst der Verfasser deutet an, daß Paul Haber am Ende so übel nicht sei, ja wenn er nur fortschrittlich fühlte, wählte und wühlte, so würde er sofort allen wünschenswerten Idealismus besitzen. Oder irren wir uns: soll nicht das Strebertum und der Mangel an idealer Gesinnung (Ideale sind nach Nordau immer nur die von 1848!), sondern die pessimistische und am Leben verzagende Thatlosigkeit die Krankheit des Jahr¬ hunderts sein? „Die vornehme, große Seele hinterläßt keine Spur, und der platte, mittelmäßige Mensch gräbt seinen Namenszug dauerhaft in die Erde des Vaterlandes." Freilich der unglückliche Dörfling, den der nüchterne Paul schlechtweg für verrückt erklärt, nimmt sich das Leben, als er sein philosophisches Buch vollendet hat, Wilhelm Eynhardt verliert bei der Rettung von Pauls Kinde das Leben, ehe er sein Buch vollenden konnte, und Doktor Schroeter

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/418>, abgerufen am 28.09.2024.