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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Die Krankheit des Jahrhunderts.

unbegreiflich könnte höchstens sein, daß er bei diesen Ansichten doch zur Form
des Romnns gegriffen hat. Indessen auch Jenn Jacques Rousseau, welcher die
Kunst mit dem herzlichen Haß eines demokratischen Weltbeglückers verfolgte, ist
schließlich durch einen Roman "Die neue Heloise" unsterblicher geworden als
durch die Abhandlung über den schlimmen Einfluß der Künste und Wissenschaften
auf die menschliche Tugend oder den Oontrat soeml; möglich, daß Herr
or. Max Nordau ein gleiches von seiner "Krankheit des Jahrhunderts" hofft,
möglich auch, daß er nur nach einen, passenden Anlaß gesucht hat, seiue Meinung
von seinem Jahrhundert noch einmal zu sagen, ohne geradezu eine neue Folge
der "Konventionellen Lügen" anzukündigen.

Daß das Jahrhundert krank sei und des Arztes dringend bedürfe, besagt
schon der Titel des Nordauschen Romans, und es wird auch im Verlauf der Ge¬
schichte des weitern erörtert. Daß es nicht an einer einzigen Krankheit, sondern
von der Bradypepsie bis zur Hydropisie an allen erdenklichen Krankheiten leidet,
für welche das große Universalheilmittel lediglich im politisch-sozialen Programm
des Berliner Fortschritts oder in der republikanischen Gesinnung zu liegen scheint,
geht aus der Erzählung selbst hervor. Zwar verhält sich der Hauptheld des
Romans, der naturwissenschaftliche Philosoph Dr. Wilhelm Eynhardt, gegenüber
der Verkündigung eines tausendjährigen Reiches der Gleichheit und Brüder¬
lichkeit etwas kühl und zweiflerisch, er beabsichtigt eine "Geschichte der mensch¬
lichen Unwissenheit" zu schreiben, in welcher der moderne politische Freisinn ganz
gewiß ein Kapitel verdienen würde. Aber da Dr. Eynhardt schließlich seinen
Untergang findet, ohne sein Buch vollendet zu haben, sein Leben für das Kind
seines Freundes, des "Strebers" der Geschichte, aufopfert, so bleibt der aus
Indien heimgekehrte alte Achtundvierziger Dr. Schroeter als der zugleich that¬
kräftige und ideale Vertreter der bessern Menschheit übrig. Der aber schildert
das gegenwärtige Deutschland wie folgt: "Man schmeichelt den niedrigsten
Volkstrieben und zieht sie mit raffinirter Entmannungskunst groß. Wohin ich
immer sehe, es kommt mich ein Grauen an. Alles ist zermalmt, alles ist ver¬
wüstet, nichts hat der herrschende Wille aufrecht gelassen. Selbst die Jugend,
unsre Hoffnung, ist teilweise durchseucht. Soll ich Ihnen alles sagen? Die
tröstlichsten Menschenerscheinungen, die ich im heutigen Deutschland sehe, sind
die Sozialisten. Sie haben Unabhängigkeit, Opfermut, Charakter, Idealismus."
Und so weiter mit Grazie w wüniwni. Als Gegenspieler oder Vertreter der
gegenteiligen Anschauung erscheint Paul Haber, bei Beginn des Romans ein
einfacher Ingenieur, der durch eine kluge und glückliche Heirat zu einem mäßigen
Vermögen gelangt, dieses praktisch im Anbau von großen Moorstrecken anlegt
und dabei so glänzende Ergebnisse erzielt, daß er am Schlüsse des Romans
als großer Grundbesitzer, Ritter mehrerer Orden, Rittmeister der Landwehr¬
kavallerie auftritt und geadelt, freilich aber nicht ganz glücklich wird, da er
auf die Erhebung in den Freiherrnstand gerechnet hatte und sich mir zürn ein-


Grcnzbotm I. 1888. W
Die Krankheit des Jahrhunderts.

unbegreiflich könnte höchstens sein, daß er bei diesen Ansichten doch zur Form
des Romnns gegriffen hat. Indessen auch Jenn Jacques Rousseau, welcher die
Kunst mit dem herzlichen Haß eines demokratischen Weltbeglückers verfolgte, ist
schließlich durch einen Roman „Die neue Heloise" unsterblicher geworden als
durch die Abhandlung über den schlimmen Einfluß der Künste und Wissenschaften
auf die menschliche Tugend oder den Oontrat soeml; möglich, daß Herr
or. Max Nordau ein gleiches von seiner „Krankheit des Jahrhunderts" hofft,
möglich auch, daß er nur nach einen, passenden Anlaß gesucht hat, seiue Meinung
von seinem Jahrhundert noch einmal zu sagen, ohne geradezu eine neue Folge
der „Konventionellen Lügen" anzukündigen.

Daß das Jahrhundert krank sei und des Arztes dringend bedürfe, besagt
schon der Titel des Nordauschen Romans, und es wird auch im Verlauf der Ge¬
schichte des weitern erörtert. Daß es nicht an einer einzigen Krankheit, sondern
von der Bradypepsie bis zur Hydropisie an allen erdenklichen Krankheiten leidet,
für welche das große Universalheilmittel lediglich im politisch-sozialen Programm
des Berliner Fortschritts oder in der republikanischen Gesinnung zu liegen scheint,
geht aus der Erzählung selbst hervor. Zwar verhält sich der Hauptheld des
Romans, der naturwissenschaftliche Philosoph Dr. Wilhelm Eynhardt, gegenüber
der Verkündigung eines tausendjährigen Reiches der Gleichheit und Brüder¬
lichkeit etwas kühl und zweiflerisch, er beabsichtigt eine „Geschichte der mensch¬
lichen Unwissenheit" zu schreiben, in welcher der moderne politische Freisinn ganz
gewiß ein Kapitel verdienen würde. Aber da Dr. Eynhardt schließlich seinen
Untergang findet, ohne sein Buch vollendet zu haben, sein Leben für das Kind
seines Freundes, des „Strebers" der Geschichte, aufopfert, so bleibt der aus
Indien heimgekehrte alte Achtundvierziger Dr. Schroeter als der zugleich that¬
kräftige und ideale Vertreter der bessern Menschheit übrig. Der aber schildert
das gegenwärtige Deutschland wie folgt: „Man schmeichelt den niedrigsten
Volkstrieben und zieht sie mit raffinirter Entmannungskunst groß. Wohin ich
immer sehe, es kommt mich ein Grauen an. Alles ist zermalmt, alles ist ver¬
wüstet, nichts hat der herrschende Wille aufrecht gelassen. Selbst die Jugend,
unsre Hoffnung, ist teilweise durchseucht. Soll ich Ihnen alles sagen? Die
tröstlichsten Menschenerscheinungen, die ich im heutigen Deutschland sehe, sind
die Sozialisten. Sie haben Unabhängigkeit, Opfermut, Charakter, Idealismus."
Und so weiter mit Grazie w wüniwni. Als Gegenspieler oder Vertreter der
gegenteiligen Anschauung erscheint Paul Haber, bei Beginn des Romans ein
einfacher Ingenieur, der durch eine kluge und glückliche Heirat zu einem mäßigen
Vermögen gelangt, dieses praktisch im Anbau von großen Moorstrecken anlegt
und dabei so glänzende Ergebnisse erzielt, daß er am Schlüsse des Romans
als großer Grundbesitzer, Ritter mehrerer Orden, Rittmeister der Landwehr¬
kavallerie auftritt und geadelt, freilich aber nicht ganz glücklich wird, da er
auf die Erhebung in den Freiherrnstand gerechnet hatte und sich mir zürn ein-


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[0417] Die Krankheit des Jahrhunderts. unbegreiflich könnte höchstens sein, daß er bei diesen Ansichten doch zur Form des Romnns gegriffen hat. Indessen auch Jenn Jacques Rousseau, welcher die Kunst mit dem herzlichen Haß eines demokratischen Weltbeglückers verfolgte, ist schließlich durch einen Roman „Die neue Heloise" unsterblicher geworden als durch die Abhandlung über den schlimmen Einfluß der Künste und Wissenschaften auf die menschliche Tugend oder den Oontrat soeml; möglich, daß Herr or. Max Nordau ein gleiches von seiner „Krankheit des Jahrhunderts" hofft, möglich auch, daß er nur nach einen, passenden Anlaß gesucht hat, seiue Meinung von seinem Jahrhundert noch einmal zu sagen, ohne geradezu eine neue Folge der „Konventionellen Lügen" anzukündigen. Daß das Jahrhundert krank sei und des Arztes dringend bedürfe, besagt schon der Titel des Nordauschen Romans, und es wird auch im Verlauf der Ge¬ schichte des weitern erörtert. Daß es nicht an einer einzigen Krankheit, sondern von der Bradypepsie bis zur Hydropisie an allen erdenklichen Krankheiten leidet, für welche das große Universalheilmittel lediglich im politisch-sozialen Programm des Berliner Fortschritts oder in der republikanischen Gesinnung zu liegen scheint, geht aus der Erzählung selbst hervor. Zwar verhält sich der Hauptheld des Romans, der naturwissenschaftliche Philosoph Dr. Wilhelm Eynhardt, gegenüber der Verkündigung eines tausendjährigen Reiches der Gleichheit und Brüder¬ lichkeit etwas kühl und zweiflerisch, er beabsichtigt eine „Geschichte der mensch¬ lichen Unwissenheit" zu schreiben, in welcher der moderne politische Freisinn ganz gewiß ein Kapitel verdienen würde. Aber da Dr. Eynhardt schließlich seinen Untergang findet, ohne sein Buch vollendet zu haben, sein Leben für das Kind seines Freundes, des „Strebers" der Geschichte, aufopfert, so bleibt der aus Indien heimgekehrte alte Achtundvierziger Dr. Schroeter als der zugleich that¬ kräftige und ideale Vertreter der bessern Menschheit übrig. Der aber schildert das gegenwärtige Deutschland wie folgt: „Man schmeichelt den niedrigsten Volkstrieben und zieht sie mit raffinirter Entmannungskunst groß. Wohin ich immer sehe, es kommt mich ein Grauen an. Alles ist zermalmt, alles ist ver¬ wüstet, nichts hat der herrschende Wille aufrecht gelassen. Selbst die Jugend, unsre Hoffnung, ist teilweise durchseucht. Soll ich Ihnen alles sagen? Die tröstlichsten Menschenerscheinungen, die ich im heutigen Deutschland sehe, sind die Sozialisten. Sie haben Unabhängigkeit, Opfermut, Charakter, Idealismus." Und so weiter mit Grazie w wüniwni. Als Gegenspieler oder Vertreter der gegenteiligen Anschauung erscheint Paul Haber, bei Beginn des Romans ein einfacher Ingenieur, der durch eine kluge und glückliche Heirat zu einem mäßigen Vermögen gelangt, dieses praktisch im Anbau von großen Moorstrecken anlegt und dabei so glänzende Ergebnisse erzielt, daß er am Schlüsse des Romans als großer Grundbesitzer, Ritter mehrerer Orden, Rittmeister der Landwehr¬ kavallerie auftritt und geadelt, freilich aber nicht ganz glücklich wird, da er auf die Erhebung in den Freiherrnstand gerechnet hatte und sich mir zürn ein- Grcnzbotm I. 1888. W

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/417>, abgerufen am 28.09.2024.