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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Der Arzt und der Kranke.

Arzte es schließlich ganz bequem finden, in allen halbwegs ungewöhnlichen
Fällen ans die Berufung eines Spezialisten zu dringen; sie sind dann aller
Kämpfe und Sorgen ledig und waschen ihre Händeln Unschuld. Nach einigen
Jahrzehnten wird es nicht mehr Ärzte genug geben, welche sich etwas ernstes
zutrauen, der Stand wird in seiner Leistungsfähigkeit und in seiner Vernfs-
freudigkcit herunterkommen, und dann wird das Publikum über die uutttchtigen
Ärzte klagen, auf welche zurückzugreifen es doch in mancher Lage des Lebens
nicht vermeiden kann.

Und die Spczialärzte? Die wachsen ja wie Pilze ans der Erde, es könnten
ihrer viele infolge von Überbürdung frühzeitig altern, ohne daß man um ihren
Ersatz sonderlich besorgt zu sein brauchte. Aber ein verschwenderischer Verbrauch
unsrer ersten medizinischen Größen ist eine ernstere Sache. Mau muß sie nur
gesehen haben, diese Meister der Kunst, wie sie, in den kurze" Pausen ihrer auf¬
reibenden Thätigkeit nervös abgespannt und sich nach Nuhe sehnend, immer
wieder in den Dienst der Menschheit hinausgezogen werden, wo jeder Kranke,
nur von seinen eignen Interessen erfüllt, mit seinen Leiden und Klagen den
Vielbegehrten am liebsten für sich ganz allein in Anspruch nehmen möchte,
während es doch so viel schwerere Leiden zu lindern giebt. Ein Mißbrauch
dieser kostbaren Kräfte ist tief zu beklagen und nur dadurch zu vermeiden, daß
man seinen Hausarzt über die Notwendigkeit einer solchen Befragung entscheiden
läßt. Erscheint es aber aussichtslos, ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen
dem Arzte und dem Kranken zu begründen, dann gebe man es ganz auf, und
zwar lieber heute als morgen, denn eine Trennung ist unter diesen Umständen
eine Erlösung für beide Teile.

Daß ärztliche Verordnungen gewissenhaft befolgt werden müssen, wird
jedem einleuchten, und doch erlebt man in.diesem Pnnkte die wunderlichsten
Dinge. Eine falsche Vorstellung von dem, was eine Arznei wirken soll und
kann, liegt manchem Irrtum zu Grunde. Wenn jemand schon nach dem ersten
Eßlöffel der gegen ein altes, eingewurzeltes Übel verschriebenen Mixtur erhebliche
Besserung gespürt haben will, so ist dies ebenso thöricht, als wenn eine mcdizin-
bedürftige Dame die ihr verordneten gänzlich harmlosen Tropfen beiseite
stellt, weil sie entschieden zu scharf seien und ihr furchtbares Herzklopfen ver¬
ursacht haben. Nicht selten werden ärztliche Anordnungen aus Zerstreuung
oder in der Aufregung über den Krankheitszustand gar nicht ordentlich erfaßt.
Manche Leute siud in ihrer Angst wirklich wie geistesabwesend und vermögen
sich dann die einfachsten Vorschriften nicht einzuprägen. Geistige Schlaffheit
und Nachlässigkeit kommen häufig hinzu. Einem Kinde werden Wasserumschläge
um die Brust verordnet, sie werden aber nicht gemacht, weil die Mutter aus
dem Schreien ihres Kindes beim ersten Umschlage sofort schließt, daß sie gewiß
nachteilig sein würden. Bei einem Säugling handelt es sich um die Frage, ob
das Kind bei der bisherigen Nahrung noch zunimmt. Der Arzt macht seine


Der Arzt und der Kranke.

Arzte es schließlich ganz bequem finden, in allen halbwegs ungewöhnlichen
Fällen ans die Berufung eines Spezialisten zu dringen; sie sind dann aller
Kämpfe und Sorgen ledig und waschen ihre Händeln Unschuld. Nach einigen
Jahrzehnten wird es nicht mehr Ärzte genug geben, welche sich etwas ernstes
zutrauen, der Stand wird in seiner Leistungsfähigkeit und in seiner Vernfs-
freudigkcit herunterkommen, und dann wird das Publikum über die uutttchtigen
Ärzte klagen, auf welche zurückzugreifen es doch in mancher Lage des Lebens
nicht vermeiden kann.

Und die Spczialärzte? Die wachsen ja wie Pilze ans der Erde, es könnten
ihrer viele infolge von Überbürdung frühzeitig altern, ohne daß man um ihren
Ersatz sonderlich besorgt zu sein brauchte. Aber ein verschwenderischer Verbrauch
unsrer ersten medizinischen Größen ist eine ernstere Sache. Mau muß sie nur
gesehen haben, diese Meister der Kunst, wie sie, in den kurze» Pausen ihrer auf¬
reibenden Thätigkeit nervös abgespannt und sich nach Nuhe sehnend, immer
wieder in den Dienst der Menschheit hinausgezogen werden, wo jeder Kranke,
nur von seinen eignen Interessen erfüllt, mit seinen Leiden und Klagen den
Vielbegehrten am liebsten für sich ganz allein in Anspruch nehmen möchte,
während es doch so viel schwerere Leiden zu lindern giebt. Ein Mißbrauch
dieser kostbaren Kräfte ist tief zu beklagen und nur dadurch zu vermeiden, daß
man seinen Hausarzt über die Notwendigkeit einer solchen Befragung entscheiden
läßt. Erscheint es aber aussichtslos, ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen
dem Arzte und dem Kranken zu begründen, dann gebe man es ganz auf, und
zwar lieber heute als morgen, denn eine Trennung ist unter diesen Umständen
eine Erlösung für beide Teile.

Daß ärztliche Verordnungen gewissenhaft befolgt werden müssen, wird
jedem einleuchten, und doch erlebt man in.diesem Pnnkte die wunderlichsten
Dinge. Eine falsche Vorstellung von dem, was eine Arznei wirken soll und
kann, liegt manchem Irrtum zu Grunde. Wenn jemand schon nach dem ersten
Eßlöffel der gegen ein altes, eingewurzeltes Übel verschriebenen Mixtur erhebliche
Besserung gespürt haben will, so ist dies ebenso thöricht, als wenn eine mcdizin-
bedürftige Dame die ihr verordneten gänzlich harmlosen Tropfen beiseite
stellt, weil sie entschieden zu scharf seien und ihr furchtbares Herzklopfen ver¬
ursacht haben. Nicht selten werden ärztliche Anordnungen aus Zerstreuung
oder in der Aufregung über den Krankheitszustand gar nicht ordentlich erfaßt.
Manche Leute siud in ihrer Angst wirklich wie geistesabwesend und vermögen
sich dann die einfachsten Vorschriften nicht einzuprägen. Geistige Schlaffheit
und Nachlässigkeit kommen häufig hinzu. Einem Kinde werden Wasserumschläge
um die Brust verordnet, sie werden aber nicht gemacht, weil die Mutter aus
dem Schreien ihres Kindes beim ersten Umschlage sofort schließt, daß sie gewiß
nachteilig sein würden. Bei einem Säugling handelt es sich um die Frage, ob
das Kind bei der bisherigen Nahrung noch zunimmt. Der Arzt macht seine


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[0031] Der Arzt und der Kranke. Arzte es schließlich ganz bequem finden, in allen halbwegs ungewöhnlichen Fällen ans die Berufung eines Spezialisten zu dringen; sie sind dann aller Kämpfe und Sorgen ledig und waschen ihre Händeln Unschuld. Nach einigen Jahrzehnten wird es nicht mehr Ärzte genug geben, welche sich etwas ernstes zutrauen, der Stand wird in seiner Leistungsfähigkeit und in seiner Vernfs- freudigkcit herunterkommen, und dann wird das Publikum über die uutttchtigen Ärzte klagen, auf welche zurückzugreifen es doch in mancher Lage des Lebens nicht vermeiden kann. Und die Spczialärzte? Die wachsen ja wie Pilze ans der Erde, es könnten ihrer viele infolge von Überbürdung frühzeitig altern, ohne daß man um ihren Ersatz sonderlich besorgt zu sein brauchte. Aber ein verschwenderischer Verbrauch unsrer ersten medizinischen Größen ist eine ernstere Sache. Mau muß sie nur gesehen haben, diese Meister der Kunst, wie sie, in den kurze» Pausen ihrer auf¬ reibenden Thätigkeit nervös abgespannt und sich nach Nuhe sehnend, immer wieder in den Dienst der Menschheit hinausgezogen werden, wo jeder Kranke, nur von seinen eignen Interessen erfüllt, mit seinen Leiden und Klagen den Vielbegehrten am liebsten für sich ganz allein in Anspruch nehmen möchte, während es doch so viel schwerere Leiden zu lindern giebt. Ein Mißbrauch dieser kostbaren Kräfte ist tief zu beklagen und nur dadurch zu vermeiden, daß man seinen Hausarzt über die Notwendigkeit einer solchen Befragung entscheiden läßt. Erscheint es aber aussichtslos, ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen dem Arzte und dem Kranken zu begründen, dann gebe man es ganz auf, und zwar lieber heute als morgen, denn eine Trennung ist unter diesen Umständen eine Erlösung für beide Teile. Daß ärztliche Verordnungen gewissenhaft befolgt werden müssen, wird jedem einleuchten, und doch erlebt man in.diesem Pnnkte die wunderlichsten Dinge. Eine falsche Vorstellung von dem, was eine Arznei wirken soll und kann, liegt manchem Irrtum zu Grunde. Wenn jemand schon nach dem ersten Eßlöffel der gegen ein altes, eingewurzeltes Übel verschriebenen Mixtur erhebliche Besserung gespürt haben will, so ist dies ebenso thöricht, als wenn eine mcdizin- bedürftige Dame die ihr verordneten gänzlich harmlosen Tropfen beiseite stellt, weil sie entschieden zu scharf seien und ihr furchtbares Herzklopfen ver¬ ursacht haben. Nicht selten werden ärztliche Anordnungen aus Zerstreuung oder in der Aufregung über den Krankheitszustand gar nicht ordentlich erfaßt. Manche Leute siud in ihrer Angst wirklich wie geistesabwesend und vermögen sich dann die einfachsten Vorschriften nicht einzuprägen. Geistige Schlaffheit und Nachlässigkeit kommen häufig hinzu. Einem Kinde werden Wasserumschläge um die Brust verordnet, sie werden aber nicht gemacht, weil die Mutter aus dem Schreien ihres Kindes beim ersten Umschlage sofort schließt, daß sie gewiß nachteilig sein würden. Bei einem Säugling handelt es sich um die Frage, ob das Kind bei der bisherigen Nahrung noch zunimmt. Der Arzt macht seine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/31>, abgerufen am 21.10.2024.