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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Ans der Strcifrcchtspflege.

diesen Punkt in seinem Vortrage über die Reform des juristischen Studiums sehr
treffend erörtert. "Die Strafrechtspflege -- sagt er -- stellt neue und wesentlich
andre Anforderungen an den Richter, Staatsanwalt und Verteidiger. Soll sie
ihre hohe und schwere Aufgabe erfüllen, die Rechtsgenossen und zwar die Ge¬
samtheit derselben wie jeden Einzelnen zu schützen gegen verbrecherische Angriffe,
so ist für die an ihr beteiligten eine dürftige Kenntnis der Strafgesetze, eine
gewisse formalistische Gewandtheit in Auslegung und Anwendung der Rechts¬
normen in keiner Weise genügend. Der strafrechtliche Praktiker muß in der
Seele des Verbrechers wie in einem offnen Buche lesen können, er muß genau
bekannt sein mit all den dunkeln Seiten des gesellschaftlichen Lebens, bewandert
in der eigentümlichen, fast ständisch geschlossenen Gliederung des berufsmäßigen
Verbrechertums, er muß die Strafe erkannt haben als eines der staatlichen
Sicherungsmittel, das neben gar manchem andern der planmäßigen und zielbe¬
wußter Bekämpfung des Verbrechens zu dienen bestimmt ist. Psychologie und
Psychiatrie, Kriminalstatistik und die weitverzweigten Gebiete des Gefängnis-
Wesens müssen ihm durchaus geläufig sein, soll er nicht zeitlebens ein Stümper
bleiben, der vor den Geschworenen nichts voraus hat, als etwas Routine."
Entspräche die Ausbildung der deutschen Strafrichter diesen Anforderungen, so
dürfte der Strafschutz wohl in geringerm Maße zu Klagen Anlaß geben,
so dürften Urteile, welche der Ansicht sind, mit einer Geldstrafe von zehn oder
zwanzig Mark eine Genugthuung für eine Ehrenkränkung zu geben, nicht in so
unermeßlicher Zahl vorkommen, wie es der Fall ist. Zur Zeit entspricht die
wissenschaftliche Fähigkeit und Ausbildung eines großen Teiles der deutschen
Strafrichter durchaus nicht den Anforderungen, welche die Strafrechtswissen-
schaft an sie stellen muß, und es ist deshalb nur natürlich, wenn die Straf¬
justiz so lahm und altersschwach ist, daß sich ihr gegenüber die Unzufriedenheit
in einer Stärke geltend macht, wie kaum zuvor. Nicht eher werden wir zu
einer gesunden, den Bedürfnissen Rechnung tragenden Justiz gelangen, als bis die
Einseitigkeit der privatrechtlichen Bildung beseitigt ist, nicht eher wird die Straf-
rechtspflege wieder das sein, was sie sein sollte, aber schon lange nicht mehr ist,
als bis unsre Richter sich mit dem Gedanken vertraut gemacht haben, daß das
öffentliche Recht nicht dazu da ist, neben dem Privatrecht die Rolle des Aschen¬
brödels zu spielen, sondern auf Gleichberechtigung mit diesem im vollsten Maße
Anspruch hat. Wir denken zu gut von der Mehrheit unsrer Richter, als daß
wir annehmen könnten, mich sie huldigten jener sinnlosen und kindischen Auf¬
fassung, der man bei ältern Ncchtscmwnlteu nicht selten begegnet, daß die privat-
rechtlichen Wissenszweige das juristische Denken in höherm Grade und deshalb
auch viel schärfere Köpfe beanspruchten als die öffentlich-rechtlichen. Über die
Dummheit, welche sich in dieser Meinung verkörpert, ein Wort zu verlieren,
wäre eine Versündigung gegen den gesunden Menschenverstand; bezeichnend ist
es. daß gerade diejenigen Herren sie mit Vorliebe vertreten, welche im öffentlichen


Ans der Strcifrcchtspflege.

diesen Punkt in seinem Vortrage über die Reform des juristischen Studiums sehr
treffend erörtert. „Die Strafrechtspflege — sagt er — stellt neue und wesentlich
andre Anforderungen an den Richter, Staatsanwalt und Verteidiger. Soll sie
ihre hohe und schwere Aufgabe erfüllen, die Rechtsgenossen und zwar die Ge¬
samtheit derselben wie jeden Einzelnen zu schützen gegen verbrecherische Angriffe,
so ist für die an ihr beteiligten eine dürftige Kenntnis der Strafgesetze, eine
gewisse formalistische Gewandtheit in Auslegung und Anwendung der Rechts¬
normen in keiner Weise genügend. Der strafrechtliche Praktiker muß in der
Seele des Verbrechers wie in einem offnen Buche lesen können, er muß genau
bekannt sein mit all den dunkeln Seiten des gesellschaftlichen Lebens, bewandert
in der eigentümlichen, fast ständisch geschlossenen Gliederung des berufsmäßigen
Verbrechertums, er muß die Strafe erkannt haben als eines der staatlichen
Sicherungsmittel, das neben gar manchem andern der planmäßigen und zielbe¬
wußter Bekämpfung des Verbrechens zu dienen bestimmt ist. Psychologie und
Psychiatrie, Kriminalstatistik und die weitverzweigten Gebiete des Gefängnis-
Wesens müssen ihm durchaus geläufig sein, soll er nicht zeitlebens ein Stümper
bleiben, der vor den Geschworenen nichts voraus hat, als etwas Routine."
Entspräche die Ausbildung der deutschen Strafrichter diesen Anforderungen, so
dürfte der Strafschutz wohl in geringerm Maße zu Klagen Anlaß geben,
so dürften Urteile, welche der Ansicht sind, mit einer Geldstrafe von zehn oder
zwanzig Mark eine Genugthuung für eine Ehrenkränkung zu geben, nicht in so
unermeßlicher Zahl vorkommen, wie es der Fall ist. Zur Zeit entspricht die
wissenschaftliche Fähigkeit und Ausbildung eines großen Teiles der deutschen
Strafrichter durchaus nicht den Anforderungen, welche die Strafrechtswissen-
schaft an sie stellen muß, und es ist deshalb nur natürlich, wenn die Straf¬
justiz so lahm und altersschwach ist, daß sich ihr gegenüber die Unzufriedenheit
in einer Stärke geltend macht, wie kaum zuvor. Nicht eher werden wir zu
einer gesunden, den Bedürfnissen Rechnung tragenden Justiz gelangen, als bis die
Einseitigkeit der privatrechtlichen Bildung beseitigt ist, nicht eher wird die Straf-
rechtspflege wieder das sein, was sie sein sollte, aber schon lange nicht mehr ist,
als bis unsre Richter sich mit dem Gedanken vertraut gemacht haben, daß das
öffentliche Recht nicht dazu da ist, neben dem Privatrecht die Rolle des Aschen¬
brödels zu spielen, sondern auf Gleichberechtigung mit diesem im vollsten Maße
Anspruch hat. Wir denken zu gut von der Mehrheit unsrer Richter, als daß
wir annehmen könnten, mich sie huldigten jener sinnlosen und kindischen Auf¬
fassung, der man bei ältern Ncchtscmwnlteu nicht selten begegnet, daß die privat-
rechtlichen Wissenszweige das juristische Denken in höherm Grade und deshalb
auch viel schärfere Köpfe beanspruchten als die öffentlich-rechtlichen. Über die
Dummheit, welche sich in dieser Meinung verkörpert, ein Wort zu verlieren,
wäre eine Versündigung gegen den gesunden Menschenverstand; bezeichnend ist
es. daß gerade diejenigen Herren sie mit Vorliebe vertreten, welche im öffentlichen


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[0229] Ans der Strcifrcchtspflege. diesen Punkt in seinem Vortrage über die Reform des juristischen Studiums sehr treffend erörtert. „Die Strafrechtspflege — sagt er — stellt neue und wesentlich andre Anforderungen an den Richter, Staatsanwalt und Verteidiger. Soll sie ihre hohe und schwere Aufgabe erfüllen, die Rechtsgenossen und zwar die Ge¬ samtheit derselben wie jeden Einzelnen zu schützen gegen verbrecherische Angriffe, so ist für die an ihr beteiligten eine dürftige Kenntnis der Strafgesetze, eine gewisse formalistische Gewandtheit in Auslegung und Anwendung der Rechts¬ normen in keiner Weise genügend. Der strafrechtliche Praktiker muß in der Seele des Verbrechers wie in einem offnen Buche lesen können, er muß genau bekannt sein mit all den dunkeln Seiten des gesellschaftlichen Lebens, bewandert in der eigentümlichen, fast ständisch geschlossenen Gliederung des berufsmäßigen Verbrechertums, er muß die Strafe erkannt haben als eines der staatlichen Sicherungsmittel, das neben gar manchem andern der planmäßigen und zielbe¬ wußter Bekämpfung des Verbrechens zu dienen bestimmt ist. Psychologie und Psychiatrie, Kriminalstatistik und die weitverzweigten Gebiete des Gefängnis- Wesens müssen ihm durchaus geläufig sein, soll er nicht zeitlebens ein Stümper bleiben, der vor den Geschworenen nichts voraus hat, als etwas Routine." Entspräche die Ausbildung der deutschen Strafrichter diesen Anforderungen, so dürfte der Strafschutz wohl in geringerm Maße zu Klagen Anlaß geben, so dürften Urteile, welche der Ansicht sind, mit einer Geldstrafe von zehn oder zwanzig Mark eine Genugthuung für eine Ehrenkränkung zu geben, nicht in so unermeßlicher Zahl vorkommen, wie es der Fall ist. Zur Zeit entspricht die wissenschaftliche Fähigkeit und Ausbildung eines großen Teiles der deutschen Strafrichter durchaus nicht den Anforderungen, welche die Strafrechtswissen- schaft an sie stellen muß, und es ist deshalb nur natürlich, wenn die Straf¬ justiz so lahm und altersschwach ist, daß sich ihr gegenüber die Unzufriedenheit in einer Stärke geltend macht, wie kaum zuvor. Nicht eher werden wir zu einer gesunden, den Bedürfnissen Rechnung tragenden Justiz gelangen, als bis die Einseitigkeit der privatrechtlichen Bildung beseitigt ist, nicht eher wird die Straf- rechtspflege wieder das sein, was sie sein sollte, aber schon lange nicht mehr ist, als bis unsre Richter sich mit dem Gedanken vertraut gemacht haben, daß das öffentliche Recht nicht dazu da ist, neben dem Privatrecht die Rolle des Aschen¬ brödels zu spielen, sondern auf Gleichberechtigung mit diesem im vollsten Maße Anspruch hat. Wir denken zu gut von der Mehrheit unsrer Richter, als daß wir annehmen könnten, mich sie huldigten jener sinnlosen und kindischen Auf¬ fassung, der man bei ältern Ncchtscmwnlteu nicht selten begegnet, daß die privat- rechtlichen Wissenszweige das juristische Denken in höherm Grade und deshalb auch viel schärfere Köpfe beanspruchten als die öffentlich-rechtlichen. Über die Dummheit, welche sich in dieser Meinung verkörpert, ein Wort zu verlieren, wäre eine Versündigung gegen den gesunden Menschenverstand; bezeichnend ist es. daß gerade diejenigen Herren sie mit Vorliebe vertreten, welche im öffentlichen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/229>, abgerufen am 28.09.2024.