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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Zwei Wiegen.

seiner Tochter war. Auch Loris erkennt sie nicht, da sie alle Spuren ihres
Vackfischalters verloren oder absichtlich verwischt hat. Ihn erfüllt nur die
Leidenschaft für Agncte, die er nach ihrer Rückkehr aus dem städtischen
Pensionat in der väterlichen Mühle unweit dem Vallinschen Schlosse wieder¬
findet. Und nun entwickelt sich die an und für sich gewiß fesselnde Roman¬
handlung: wie Loris nach und nach zur Erkenntnis gelangt, daß die kokette,
eitle, herzlose, selbstsüchtige Meduscnschöuhcit Agncte nicht das rechte Weib
für ihn, den Lelcmdsprößling, sein könne, wie er die Leidenschaft für sie
unterdrückt, und wie hingegen die unerkannte Leonore allmählich ihm näher
tritt. Durch diese seine innere Entwicklung wird Loris zu einer lebendigen,
dichterisch anmutenden Gestalt. Loris und Leonore stehen anfänglich auf dem
Zcmlfuß: seine Freigeisterei verletzt ihre Kirchlichkeit, seine Kühnheit erscheint
ihr anfänglich als zwecklose Wagehalsigkeit, bis auch sie sein großes Herz und
sein humanes Streben schätzen lernt und mit stiller, verborgener Eifersucht
seine Leidenschaft für Agnete beobachtet. Aber Leonore nimmt den Kampf um
den Mann mit der schönen Müllerstochter tapfer auf und wagt schließlich
etwas, was die Grenzen weiblicher Schamhaftigkeit erreicht. Die Lelandswiege
ist in Gefahr, verloren zu gehen, sie ist jenseits der preußischen Grenze, bei
einer Lelandstochter, die an einen Gutspcichtcr in Russisch-Polen verheiratet
ist. Unruhen revolutionärer Art geben sich kund, gerade das Schloß jenes
Pächters ist ein gefährdeter Ort, Loris soll die Wiege holen. Aber er ist
durch eine andre Unternehmung diesseits festgehalten, und da wagt es Leonore
ohne sein Vorwissen, in der sichern Hoffnung, daß sie trotz aller Hindernisse
seine Gattin werden wird, hinüber zu fahren, um die Wiege zu retten. So
erfüllt sie die alte Familientradition: alle Lelandfrauen haben sich ihre Männer
kcimpfcnd geholt. Der Kampf um die Wiege selbst bleibt ihr indes erspart;
der Humor der Handlung führt es herbei, daß gerade Agnete, nachdem sie
mit einem polnischen Abenteurer und Anstifter der Revolte durchgegangen,
Loris endgiltig verabschiedet, dem entlarvten polnischen Schwindler jedoch
auch den Laufpaß in derber Weise gegeben hat, wortwörtlich den Kampf um
die Wiege besteht und dabei ihre heroische Körperkraft entdeckt. Ans der stei¬
nernen Kokette wird plötzlich eine Heldin, was dem Verfasser selbst schon so
Phantastisch erschienen ist. daß er sie nach diesem Auftritte in die Versenkung
seines Theaters verschwinden läßt. Auch das endliche Sichsinden der beiden
Nvmauhclden, Leonorens und Loris, hat er schwach und oberflächlich abgethan.

Neben dieser Haupthandlung laufen nun zahlreiche Episoden her. teils von
barockem Humor, die sämtlich dem naturwissenschaftlichen Enthusiasmus Wilhelm
Jordans Spielraum zu geben bestimmt sind. Der liberkräftige Loris muß ja
auch zu thun haben, die Liebelei allein vermag nicht, ihn auszufüllen. Da ist vor
allein der fabelhafte Transport der an den Füßen gelähmten Jobäa Schönborn,
dessen Zurüstung und Ausführung den größten Teil seiner Volontürzeit ans


Zwei Wiegen.

seiner Tochter war. Auch Loris erkennt sie nicht, da sie alle Spuren ihres
Vackfischalters verloren oder absichtlich verwischt hat. Ihn erfüllt nur die
Leidenschaft für Agncte, die er nach ihrer Rückkehr aus dem städtischen
Pensionat in der väterlichen Mühle unweit dem Vallinschen Schlosse wieder¬
findet. Und nun entwickelt sich die an und für sich gewiß fesselnde Roman¬
handlung: wie Loris nach und nach zur Erkenntnis gelangt, daß die kokette,
eitle, herzlose, selbstsüchtige Meduscnschöuhcit Agncte nicht das rechte Weib
für ihn, den Lelcmdsprößling, sein könne, wie er die Leidenschaft für sie
unterdrückt, und wie hingegen die unerkannte Leonore allmählich ihm näher
tritt. Durch diese seine innere Entwicklung wird Loris zu einer lebendigen,
dichterisch anmutenden Gestalt. Loris und Leonore stehen anfänglich auf dem
Zcmlfuß: seine Freigeisterei verletzt ihre Kirchlichkeit, seine Kühnheit erscheint
ihr anfänglich als zwecklose Wagehalsigkeit, bis auch sie sein großes Herz und
sein humanes Streben schätzen lernt und mit stiller, verborgener Eifersucht
seine Leidenschaft für Agnete beobachtet. Aber Leonore nimmt den Kampf um
den Mann mit der schönen Müllerstochter tapfer auf und wagt schließlich
etwas, was die Grenzen weiblicher Schamhaftigkeit erreicht. Die Lelandswiege
ist in Gefahr, verloren zu gehen, sie ist jenseits der preußischen Grenze, bei
einer Lelandstochter, die an einen Gutspcichtcr in Russisch-Polen verheiratet
ist. Unruhen revolutionärer Art geben sich kund, gerade das Schloß jenes
Pächters ist ein gefährdeter Ort, Loris soll die Wiege holen. Aber er ist
durch eine andre Unternehmung diesseits festgehalten, und da wagt es Leonore
ohne sein Vorwissen, in der sichern Hoffnung, daß sie trotz aller Hindernisse
seine Gattin werden wird, hinüber zu fahren, um die Wiege zu retten. So
erfüllt sie die alte Familientradition: alle Lelandfrauen haben sich ihre Männer
kcimpfcnd geholt. Der Kampf um die Wiege selbst bleibt ihr indes erspart;
der Humor der Handlung führt es herbei, daß gerade Agnete, nachdem sie
mit einem polnischen Abenteurer und Anstifter der Revolte durchgegangen,
Loris endgiltig verabschiedet, dem entlarvten polnischen Schwindler jedoch
auch den Laufpaß in derber Weise gegeben hat, wortwörtlich den Kampf um
die Wiege besteht und dabei ihre heroische Körperkraft entdeckt. Ans der stei¬
nernen Kokette wird plötzlich eine Heldin, was dem Verfasser selbst schon so
Phantastisch erschienen ist. daß er sie nach diesem Auftritte in die Versenkung
seines Theaters verschwinden läßt. Auch das endliche Sichsinden der beiden
Nvmauhclden, Leonorens und Loris, hat er schwach und oberflächlich abgethan.

Neben dieser Haupthandlung laufen nun zahlreiche Episoden her. teils von
barockem Humor, die sämtlich dem naturwissenschaftlichen Enthusiasmus Wilhelm
Jordans Spielraum zu geben bestimmt sind. Der liberkräftige Loris muß ja
auch zu thun haben, die Liebelei allein vermag nicht, ihn auszufüllen. Da ist vor
allein der fabelhafte Transport der an den Füßen gelähmten Jobäa Schönborn,
dessen Zurüstung und Ausführung den größten Teil seiner Volontürzeit ans


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[0207] Zwei Wiegen. seiner Tochter war. Auch Loris erkennt sie nicht, da sie alle Spuren ihres Vackfischalters verloren oder absichtlich verwischt hat. Ihn erfüllt nur die Leidenschaft für Agncte, die er nach ihrer Rückkehr aus dem städtischen Pensionat in der väterlichen Mühle unweit dem Vallinschen Schlosse wieder¬ findet. Und nun entwickelt sich die an und für sich gewiß fesselnde Roman¬ handlung: wie Loris nach und nach zur Erkenntnis gelangt, daß die kokette, eitle, herzlose, selbstsüchtige Meduscnschöuhcit Agncte nicht das rechte Weib für ihn, den Lelcmdsprößling, sein könne, wie er die Leidenschaft für sie unterdrückt, und wie hingegen die unerkannte Leonore allmählich ihm näher tritt. Durch diese seine innere Entwicklung wird Loris zu einer lebendigen, dichterisch anmutenden Gestalt. Loris und Leonore stehen anfänglich auf dem Zcmlfuß: seine Freigeisterei verletzt ihre Kirchlichkeit, seine Kühnheit erscheint ihr anfänglich als zwecklose Wagehalsigkeit, bis auch sie sein großes Herz und sein humanes Streben schätzen lernt und mit stiller, verborgener Eifersucht seine Leidenschaft für Agnete beobachtet. Aber Leonore nimmt den Kampf um den Mann mit der schönen Müllerstochter tapfer auf und wagt schließlich etwas, was die Grenzen weiblicher Schamhaftigkeit erreicht. Die Lelandswiege ist in Gefahr, verloren zu gehen, sie ist jenseits der preußischen Grenze, bei einer Lelandstochter, die an einen Gutspcichtcr in Russisch-Polen verheiratet ist. Unruhen revolutionärer Art geben sich kund, gerade das Schloß jenes Pächters ist ein gefährdeter Ort, Loris soll die Wiege holen. Aber er ist durch eine andre Unternehmung diesseits festgehalten, und da wagt es Leonore ohne sein Vorwissen, in der sichern Hoffnung, daß sie trotz aller Hindernisse seine Gattin werden wird, hinüber zu fahren, um die Wiege zu retten. So erfüllt sie die alte Familientradition: alle Lelandfrauen haben sich ihre Männer kcimpfcnd geholt. Der Kampf um die Wiege selbst bleibt ihr indes erspart; der Humor der Handlung führt es herbei, daß gerade Agnete, nachdem sie mit einem polnischen Abenteurer und Anstifter der Revolte durchgegangen, Loris endgiltig verabschiedet, dem entlarvten polnischen Schwindler jedoch auch den Laufpaß in derber Weise gegeben hat, wortwörtlich den Kampf um die Wiege besteht und dabei ihre heroische Körperkraft entdeckt. Ans der stei¬ nernen Kokette wird plötzlich eine Heldin, was dem Verfasser selbst schon so Phantastisch erschienen ist. daß er sie nach diesem Auftritte in die Versenkung seines Theaters verschwinden läßt. Auch das endliche Sichsinden der beiden Nvmauhclden, Leonorens und Loris, hat er schwach und oberflächlich abgethan. Neben dieser Haupthandlung laufen nun zahlreiche Episoden her. teils von barockem Humor, die sämtlich dem naturwissenschaftlichen Enthusiasmus Wilhelm Jordans Spielraum zu geben bestimmt sind. Der liberkräftige Loris muß ja auch zu thun haben, die Liebelei allein vermag nicht, ihn auszufüllen. Da ist vor allein der fabelhafte Transport der an den Füßen gelähmten Jobäa Schönborn, dessen Zurüstung und Ausführung den größten Teil seiner Volontürzeit ans

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/207>, abgerufen am 28.09.2024.