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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Zwei Wiegen.

keit zweifeln möchte. Lebenswahr zu sein ist aber auch Pflicht selbst der idea¬
listischen Kunst.

So hat Jordan gleich in seinem Helden das Ideal eines Mannes nach
seinem Herzen geschaffen und alle erdenklichen Tugenden in der Person Loris
Lelcmds vereinigt. Loris ist der Sohn einer Familie von begabten, schönen
und starken Menschen, die ihre Herkunft mit adlichen Ahnenstolze bis in die
ferne Vergangenheit des alten deutschen Heidentums zurückführen. Schon in der
Gymnasiastenzeit hat er durch seine Körperkraft und sein frisch liebenswürdiges,
hochherziges Wesen alle Welt in Erstaunen gesetzt und bezaubert. Auf der
Universität erwarb er sich wegen seiner Streiche den Ehrentitel des "tollen
Lelcmd," den schon sein Vater in jungen Jahren geführt hatte. Noch zur
rechten Zeit indes besann er sich seiner höhern Pflicht und begann ernsthaft
Medizin zu studiren, auch hierin dem väterlichen Beispiele folgend, und zur
gesetzlichen Frist bestand er seine Prüfungen mit unerhört glänzendem Erfolge.
Aber Loris ist nicht bloß ein genialer Arzt, sondern auch genial in aller
Naturbeobachtung, gewandt in aller philosophischen Dialektik, es giebt keine
Wissenschaft, in der er nicht trotz seiner Jugend zu Hause wäre. Sein wesent¬
liches Talent ist die Praxis im höchsten Sinne: die Menschenbildung. Er
weiß alle Welt nach seinem Willen und nach seinen Überzeugungen zu lenken.
Wie alle Welt von ihm entzückt ist, die Frauen sämtlich in ihn verliebt, die
Männer alle seine Bewundrer sind, so wird er an jedem einzelnen unversehens
zum Pädagogen, und Jordan hält schließlich nicht mit dem Ausblick zurück,
daß dieser Loris berufen sei, in seinem Kreise die neue Heilslehre der Welt-
freude praktisch und theoretisch zu verkörpern; also wieder ein Apostolat, wie
das jenes Sebald. Loris macht auch noch eine interessante Liebesgeschichte
durch, welche die eigentliche Romanhandluug bildet.

Bei einem seiner wagehalsigen Geniestreiche hatte der Primaner Loris in
merkwürdiger Weise die Bekanntschaft Leonorens, der ihm wahlverwandten
Tochter des ostpreußischen Gutsbesitzers Ballin gemacht. Loris badete in heißer
Jahreszeit in einem Flusse, auf dessen Uferwicsen sich die jungen Pferde des
Schönbvrntschen Gestüts tummelten. Plötzlich kam ihm der Einfall, sich nackt,
wie er war, auf eines der ungezähnten Füllen zu schwingen und -- ein
neuer Centaur -- es zum gehorsamen Ritte zu zwingen. Gedacht, gethan.
Aber das wilde Roß wandelte den kecken Centaurenjttngling zum Mazeppa um,
er verlor bald die Gewalt über die isabellenfarbige Stute, sie ging mit ihm
durch, und nach einer tollen Jagd stürzte sie unter ihm vor dem Lusthäuschen
des Schönbornschen Schlosses zusammen, wo sich gerade eine Müdchenschar aus
einem Pensionat harmlos unterhielt. Die Mädchen stoben auseinander, nur
el" mutiges Wesen blieb -- eine neue Nausikaa -- stehen. Kein schönes Geschöpf,
ein unausgewachsener, mehr derber als anmutiger Backfisch, aus dessen großen,
schönen Augen man jedoch eine liebenswürdige Frauenseele im Keime ahnen


Zwei Wiegen.

keit zweifeln möchte. Lebenswahr zu sein ist aber auch Pflicht selbst der idea¬
listischen Kunst.

So hat Jordan gleich in seinem Helden das Ideal eines Mannes nach
seinem Herzen geschaffen und alle erdenklichen Tugenden in der Person Loris
Lelcmds vereinigt. Loris ist der Sohn einer Familie von begabten, schönen
und starken Menschen, die ihre Herkunft mit adlichen Ahnenstolze bis in die
ferne Vergangenheit des alten deutschen Heidentums zurückführen. Schon in der
Gymnasiastenzeit hat er durch seine Körperkraft und sein frisch liebenswürdiges,
hochherziges Wesen alle Welt in Erstaunen gesetzt und bezaubert. Auf der
Universität erwarb er sich wegen seiner Streiche den Ehrentitel des „tollen
Lelcmd," den schon sein Vater in jungen Jahren geführt hatte. Noch zur
rechten Zeit indes besann er sich seiner höhern Pflicht und begann ernsthaft
Medizin zu studiren, auch hierin dem väterlichen Beispiele folgend, und zur
gesetzlichen Frist bestand er seine Prüfungen mit unerhört glänzendem Erfolge.
Aber Loris ist nicht bloß ein genialer Arzt, sondern auch genial in aller
Naturbeobachtung, gewandt in aller philosophischen Dialektik, es giebt keine
Wissenschaft, in der er nicht trotz seiner Jugend zu Hause wäre. Sein wesent¬
liches Talent ist die Praxis im höchsten Sinne: die Menschenbildung. Er
weiß alle Welt nach seinem Willen und nach seinen Überzeugungen zu lenken.
Wie alle Welt von ihm entzückt ist, die Frauen sämtlich in ihn verliebt, die
Männer alle seine Bewundrer sind, so wird er an jedem einzelnen unversehens
zum Pädagogen, und Jordan hält schließlich nicht mit dem Ausblick zurück,
daß dieser Loris berufen sei, in seinem Kreise die neue Heilslehre der Welt-
freude praktisch und theoretisch zu verkörpern; also wieder ein Apostolat, wie
das jenes Sebald. Loris macht auch noch eine interessante Liebesgeschichte
durch, welche die eigentliche Romanhandluug bildet.

Bei einem seiner wagehalsigen Geniestreiche hatte der Primaner Loris in
merkwürdiger Weise die Bekanntschaft Leonorens, der ihm wahlverwandten
Tochter des ostpreußischen Gutsbesitzers Ballin gemacht. Loris badete in heißer
Jahreszeit in einem Flusse, auf dessen Uferwicsen sich die jungen Pferde des
Schönbvrntschen Gestüts tummelten. Plötzlich kam ihm der Einfall, sich nackt,
wie er war, auf eines der ungezähnten Füllen zu schwingen und — ein
neuer Centaur — es zum gehorsamen Ritte zu zwingen. Gedacht, gethan.
Aber das wilde Roß wandelte den kecken Centaurenjttngling zum Mazeppa um,
er verlor bald die Gewalt über die isabellenfarbige Stute, sie ging mit ihm
durch, und nach einer tollen Jagd stürzte sie unter ihm vor dem Lusthäuschen
des Schönbornschen Schlosses zusammen, wo sich gerade eine Müdchenschar aus
einem Pensionat harmlos unterhielt. Die Mädchen stoben auseinander, nur
el» mutiges Wesen blieb — eine neue Nausikaa — stehen. Kein schönes Geschöpf,
ein unausgewachsener, mehr derber als anmutiger Backfisch, aus dessen großen,
schönen Augen man jedoch eine liebenswürdige Frauenseele im Keime ahnen


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[0205] Zwei Wiegen. keit zweifeln möchte. Lebenswahr zu sein ist aber auch Pflicht selbst der idea¬ listischen Kunst. So hat Jordan gleich in seinem Helden das Ideal eines Mannes nach seinem Herzen geschaffen und alle erdenklichen Tugenden in der Person Loris Lelcmds vereinigt. Loris ist der Sohn einer Familie von begabten, schönen und starken Menschen, die ihre Herkunft mit adlichen Ahnenstolze bis in die ferne Vergangenheit des alten deutschen Heidentums zurückführen. Schon in der Gymnasiastenzeit hat er durch seine Körperkraft und sein frisch liebenswürdiges, hochherziges Wesen alle Welt in Erstaunen gesetzt und bezaubert. Auf der Universität erwarb er sich wegen seiner Streiche den Ehrentitel des „tollen Lelcmd," den schon sein Vater in jungen Jahren geführt hatte. Noch zur rechten Zeit indes besann er sich seiner höhern Pflicht und begann ernsthaft Medizin zu studiren, auch hierin dem väterlichen Beispiele folgend, und zur gesetzlichen Frist bestand er seine Prüfungen mit unerhört glänzendem Erfolge. Aber Loris ist nicht bloß ein genialer Arzt, sondern auch genial in aller Naturbeobachtung, gewandt in aller philosophischen Dialektik, es giebt keine Wissenschaft, in der er nicht trotz seiner Jugend zu Hause wäre. Sein wesent¬ liches Talent ist die Praxis im höchsten Sinne: die Menschenbildung. Er weiß alle Welt nach seinem Willen und nach seinen Überzeugungen zu lenken. Wie alle Welt von ihm entzückt ist, die Frauen sämtlich in ihn verliebt, die Männer alle seine Bewundrer sind, so wird er an jedem einzelnen unversehens zum Pädagogen, und Jordan hält schließlich nicht mit dem Ausblick zurück, daß dieser Loris berufen sei, in seinem Kreise die neue Heilslehre der Welt- freude praktisch und theoretisch zu verkörpern; also wieder ein Apostolat, wie das jenes Sebald. Loris macht auch noch eine interessante Liebesgeschichte durch, welche die eigentliche Romanhandluug bildet. Bei einem seiner wagehalsigen Geniestreiche hatte der Primaner Loris in merkwürdiger Weise die Bekanntschaft Leonorens, der ihm wahlverwandten Tochter des ostpreußischen Gutsbesitzers Ballin gemacht. Loris badete in heißer Jahreszeit in einem Flusse, auf dessen Uferwicsen sich die jungen Pferde des Schönbvrntschen Gestüts tummelten. Plötzlich kam ihm der Einfall, sich nackt, wie er war, auf eines der ungezähnten Füllen zu schwingen und — ein neuer Centaur — es zum gehorsamen Ritte zu zwingen. Gedacht, gethan. Aber das wilde Roß wandelte den kecken Centaurenjttngling zum Mazeppa um, er verlor bald die Gewalt über die isabellenfarbige Stute, sie ging mit ihm durch, und nach einer tollen Jagd stürzte sie unter ihm vor dem Lusthäuschen des Schönbornschen Schlosses zusammen, wo sich gerade eine Müdchenschar aus einem Pensionat harmlos unterhielt. Die Mädchen stoben auseinander, nur el» mutiges Wesen blieb — eine neue Nausikaa — stehen. Kein schönes Geschöpf, ein unausgewachsener, mehr derber als anmutiger Backfisch, aus dessen großen, schönen Augen man jedoch eine liebenswürdige Frauenseele im Keime ahnen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/205>, abgerufen am 28.09.2024.