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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Zwei Wiegen.

und besitzt noch jetzt viele Anhänger; darum ist hauptsächlich gegen seine Lehre,
seine Erkenntnis- und Willenstheorie, sowie gegen seineu Pessimismus die Polemik
des Verkündigers der Weltfreude gerichtet.

Was den gründlicher unterrichteten Jordan von den ihm verwandten Na¬
turalisten wesentlich scheidet, ist sein leidenschaftlicher sittlicher und künstlerischer
Idealismus. Das Studium der Naturwissenschaften hat ihn zur entgegengesetzten
Erkenntnis als den Franzosen geführt, nicht zur krankhaften Verzweiflung, nicht
zur Erkenntnis der Ohnmacht des Menschen gegenüber den ehernen Natur¬
gesetzen, sondern im Gegenteil zur Bewunderung des Menschengeistes, der im
Laufe der langen Jahrhunderte eine Entwicklung nach aufwärts durchgemacht
hat und sich immer mehr der vollkommenen Herrschaft über die Natur nähern
muß. Jordans enthusiastisches Naturell gab hier -- wie bei jedem Schrift¬
steller -- den Ausschlag. Sein eignes ästhetisches Bekenntnis legt er mit den
glühenden Worten seines Helden Loris Lelcmd ab: "Wer die Kunst mi߬
braucht, Kränkungen zu vergelten; wer sie der Teufelin Rachsucht zur Sklavin
verkauft, dem, und sei er noch so begabt, dem entzieht die strenge Göttin die
Segenskraft zum wahren, höchsten Beruf des Künstlers, der kein andrer ist,
als uns mit der Trübsal im Leben zu versöhnen, indem er uns mit seinen
Werken erhebt zur Weltfreude. Den verdammt sie zum Virtuosen der satanischen
Afterkunst, welche von jedem Wesen nur die Makel und Gebrechen sieht und als
Spottgeburten in Schauerstücken mit ausgespitzter (!) Fingerfertigkeit darstellt.
Der erbuhlt sich Beifall mir vom gruselsüchtigen Pöbel und der Schar jener
gallkranken Wcltlästerer, denen es ein hämisches Vergnügen bereitet, in seinem
Zerrspiegel alles ebenso erbärmlich und schadhaft zu erblicken, wie sie selber es
sind. Der ist ebenso verdrossen abgeneigt als unfähig, von Heldenkümpfen er¬
hebende, zur Bewunderung hinreißende Thaten opferwilligen Mutes zu versinn¬
lichen, aber desto gewandter und erpichter, dem Beschauer eine Gänsehaut auf¬
zustöbern mit scheußlichen Verwundungen, entsetzlichen Leichenhaufen und Schädel¬
pyramiden. Der wähnt sich ein Verdienst zu erwerben, wenn er Correggios
heilige Nacht verhöhnt und an der Krippe zu Bethlehem ekelhaft naturgetreu
schauen läßt, was da das Öchslein und das Eselein misteten. Der verkommt
in seiner elenden Gesinnung so weit, daß er allen Ernstes seine Unflätigkeit
ausprahlt als eine Großthat, wenn er die göttliche Jdealgestalt, die der Glaube
der Volker dem Heiland angezogen hat, auszulöschen sich erfrecht mit einem
schmierigen Bocher" (II, 30). Mit dieser -- bezüglich ihrer Einseitigkeit nur
durch die Leidenschaft des Sprechers gerechtfertigten -- Standrede hat Jordan
seine eignen künstlerischen Grundsätze dargelegt, und in der That hat er in
seinem Roman nur zwei wirklich schlechte Menschen unter den zahlreichen
guten, und beide nur als Nebengestalten gezeichnet. Alle andern sind, sei es
nun geistig oder körperlich oder beides zusammen, ideale Menschen, so ideal,
daß man häufig an der Möglichkeit ihrer Existenz, an ihrer Wahrscheinlich-


Zwei Wiegen.

und besitzt noch jetzt viele Anhänger; darum ist hauptsächlich gegen seine Lehre,
seine Erkenntnis- und Willenstheorie, sowie gegen seineu Pessimismus die Polemik
des Verkündigers der Weltfreude gerichtet.

Was den gründlicher unterrichteten Jordan von den ihm verwandten Na¬
turalisten wesentlich scheidet, ist sein leidenschaftlicher sittlicher und künstlerischer
Idealismus. Das Studium der Naturwissenschaften hat ihn zur entgegengesetzten
Erkenntnis als den Franzosen geführt, nicht zur krankhaften Verzweiflung, nicht
zur Erkenntnis der Ohnmacht des Menschen gegenüber den ehernen Natur¬
gesetzen, sondern im Gegenteil zur Bewunderung des Menschengeistes, der im
Laufe der langen Jahrhunderte eine Entwicklung nach aufwärts durchgemacht
hat und sich immer mehr der vollkommenen Herrschaft über die Natur nähern
muß. Jordans enthusiastisches Naturell gab hier — wie bei jedem Schrift¬
steller — den Ausschlag. Sein eignes ästhetisches Bekenntnis legt er mit den
glühenden Worten seines Helden Loris Lelcmd ab: „Wer die Kunst mi߬
braucht, Kränkungen zu vergelten; wer sie der Teufelin Rachsucht zur Sklavin
verkauft, dem, und sei er noch so begabt, dem entzieht die strenge Göttin die
Segenskraft zum wahren, höchsten Beruf des Künstlers, der kein andrer ist,
als uns mit der Trübsal im Leben zu versöhnen, indem er uns mit seinen
Werken erhebt zur Weltfreude. Den verdammt sie zum Virtuosen der satanischen
Afterkunst, welche von jedem Wesen nur die Makel und Gebrechen sieht und als
Spottgeburten in Schauerstücken mit ausgespitzter (!) Fingerfertigkeit darstellt.
Der erbuhlt sich Beifall mir vom gruselsüchtigen Pöbel und der Schar jener
gallkranken Wcltlästerer, denen es ein hämisches Vergnügen bereitet, in seinem
Zerrspiegel alles ebenso erbärmlich und schadhaft zu erblicken, wie sie selber es
sind. Der ist ebenso verdrossen abgeneigt als unfähig, von Heldenkümpfen er¬
hebende, zur Bewunderung hinreißende Thaten opferwilligen Mutes zu versinn¬
lichen, aber desto gewandter und erpichter, dem Beschauer eine Gänsehaut auf¬
zustöbern mit scheußlichen Verwundungen, entsetzlichen Leichenhaufen und Schädel¬
pyramiden. Der wähnt sich ein Verdienst zu erwerben, wenn er Correggios
heilige Nacht verhöhnt und an der Krippe zu Bethlehem ekelhaft naturgetreu
schauen läßt, was da das Öchslein und das Eselein misteten. Der verkommt
in seiner elenden Gesinnung so weit, daß er allen Ernstes seine Unflätigkeit
ausprahlt als eine Großthat, wenn er die göttliche Jdealgestalt, die der Glaube
der Volker dem Heiland angezogen hat, auszulöschen sich erfrecht mit einem
schmierigen Bocher" (II, 30). Mit dieser — bezüglich ihrer Einseitigkeit nur
durch die Leidenschaft des Sprechers gerechtfertigten — Standrede hat Jordan
seine eignen künstlerischen Grundsätze dargelegt, und in der That hat er in
seinem Roman nur zwei wirklich schlechte Menschen unter den zahlreichen
guten, und beide nur als Nebengestalten gezeichnet. Alle andern sind, sei es
nun geistig oder körperlich oder beides zusammen, ideale Menschen, so ideal,
daß man häufig an der Möglichkeit ihrer Existenz, an ihrer Wahrscheinlich-


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[0204] Zwei Wiegen. und besitzt noch jetzt viele Anhänger; darum ist hauptsächlich gegen seine Lehre, seine Erkenntnis- und Willenstheorie, sowie gegen seineu Pessimismus die Polemik des Verkündigers der Weltfreude gerichtet. Was den gründlicher unterrichteten Jordan von den ihm verwandten Na¬ turalisten wesentlich scheidet, ist sein leidenschaftlicher sittlicher und künstlerischer Idealismus. Das Studium der Naturwissenschaften hat ihn zur entgegengesetzten Erkenntnis als den Franzosen geführt, nicht zur krankhaften Verzweiflung, nicht zur Erkenntnis der Ohnmacht des Menschen gegenüber den ehernen Natur¬ gesetzen, sondern im Gegenteil zur Bewunderung des Menschengeistes, der im Laufe der langen Jahrhunderte eine Entwicklung nach aufwärts durchgemacht hat und sich immer mehr der vollkommenen Herrschaft über die Natur nähern muß. Jordans enthusiastisches Naturell gab hier — wie bei jedem Schrift¬ steller — den Ausschlag. Sein eignes ästhetisches Bekenntnis legt er mit den glühenden Worten seines Helden Loris Lelcmd ab: „Wer die Kunst mi߬ braucht, Kränkungen zu vergelten; wer sie der Teufelin Rachsucht zur Sklavin verkauft, dem, und sei er noch so begabt, dem entzieht die strenge Göttin die Segenskraft zum wahren, höchsten Beruf des Künstlers, der kein andrer ist, als uns mit der Trübsal im Leben zu versöhnen, indem er uns mit seinen Werken erhebt zur Weltfreude. Den verdammt sie zum Virtuosen der satanischen Afterkunst, welche von jedem Wesen nur die Makel und Gebrechen sieht und als Spottgeburten in Schauerstücken mit ausgespitzter (!) Fingerfertigkeit darstellt. Der erbuhlt sich Beifall mir vom gruselsüchtigen Pöbel und der Schar jener gallkranken Wcltlästerer, denen es ein hämisches Vergnügen bereitet, in seinem Zerrspiegel alles ebenso erbärmlich und schadhaft zu erblicken, wie sie selber es sind. Der ist ebenso verdrossen abgeneigt als unfähig, von Heldenkümpfen er¬ hebende, zur Bewunderung hinreißende Thaten opferwilligen Mutes zu versinn¬ lichen, aber desto gewandter und erpichter, dem Beschauer eine Gänsehaut auf¬ zustöbern mit scheußlichen Verwundungen, entsetzlichen Leichenhaufen und Schädel¬ pyramiden. Der wähnt sich ein Verdienst zu erwerben, wenn er Correggios heilige Nacht verhöhnt und an der Krippe zu Bethlehem ekelhaft naturgetreu schauen läßt, was da das Öchslein und das Eselein misteten. Der verkommt in seiner elenden Gesinnung so weit, daß er allen Ernstes seine Unflätigkeit ausprahlt als eine Großthat, wenn er die göttliche Jdealgestalt, die der Glaube der Volker dem Heiland angezogen hat, auszulöschen sich erfrecht mit einem schmierigen Bocher" (II, 30). Mit dieser — bezüglich ihrer Einseitigkeit nur durch die Leidenschaft des Sprechers gerechtfertigten — Standrede hat Jordan seine eignen künstlerischen Grundsätze dargelegt, und in der That hat er in seinem Roman nur zwei wirklich schlechte Menschen unter den zahlreichen guten, und beide nur als Nebengestalten gezeichnet. Alle andern sind, sei es nun geistig oder körperlich oder beides zusammen, ideale Menschen, so ideal, daß man häufig an der Möglichkeit ihrer Existenz, an ihrer Wahrscheinlich-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/204>, abgerufen am 28.09.2024.