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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Friedrich von Gentz.

Viel gelegen. Was haben sie denn jetzt von ihrer Selbständigkeit? "Jetzt hat
alles, groß und klein, für sich selbst gesorgt, gekämpft, geblutet, Tribute gezahlt,
Frieden geschlossen, vom Unglück seines Nachbars gelebt, den Gang der gemein¬
schaftlichen Unternehmung aus allen Kräften erschwert, den Genuß einer traurigen
Herrschaft unter deu Bajonetten des Feindes behauptet. Und was ist die Folge
davon? Die Einzelnen verarmt, das Reich zerstückelt, die gemeinschaftliche
Verfassung ihrer Auflösung nahe gebracht -- welche deutsche Feder möchte
dies Gemälde vollenden!" So ruft denn Gentz die Mächte Europas auf zu
einer erneuten, stärkern Verbindung. Man möge nicht an politische Einzel¬
interessen denken. "Das höchste politische Interesse ist doch immer noch weniger
bedeutend als das Interesse einer unabhängigen Existenz."

Wie wir sehen, sind es höchst bedeutende Antriebe, welche die schrift¬
stellerische Thätigkeit dieses Mannes damals gab. Für den Augenblick blieben
sie zwar unfruchtbar, doch haben sie zuletzt zur Befreiung Deutschlands und
Europas geführt. Es kommt aber noch etwas hinzu, das die ideale Wirk¬
samkeit derselben ungemein verstärkte. Gentz hatte gerade während der letzten
neunziger Jahre die moderne ästhetische Bildung ganz in sich aufgenommen,
Haym hat, wenn wir nicht irren, zuerst darauf verwiesen, wie stark die Prosa¬
schriften Schillers -- der Aufsatz über "Anmut und Würde" (1793), namentlich
aber die "Briefe über ästhestische Erziehung" -- auf Gentz einwirkten. Wilhelm
von Humboldt fchrieb damals an Schiller, Gentz sei der einzige Mensch in
Berlin, in dem diese Briefe einen wohlverstandnen Enthusiasmus erzeugt hätten.
In seinem Journal suchte er sich nun in der Form ganz der klassischen Schule
anzuschließen. Nicht als schwerfälliger Reichspublizist erschien er vor dem
Publikum, sondern als durchaus moderner Schriftsteller, der politische Vorwürfe
auf das schöngeistige Gebiet übertrug. Von der alten, schwerfälligen, trocknen
BeHandlungsweise war keine Spur in seinen Aufsätzen, ebenso sehr hütete er
sich vor banalen Überschwang: er strebte darnach, und es gelang ihm auch, den
sprödesten Stoff in eine schöne Form zu gießen.

Daß Gentz im Jahre 1802 aus preußischen Diensten in österreichische über¬
trat, bildet einen rein äußerlichen Abschnitt seines Lebens. Von 1797 bis 1869
hat er unausgesetzt in demselben Sinne publizistisch gewirkt; die Flugschriften
aber, die Memoiren, die Briefe dieser Periode gehören der klassischen Literatur
Deutschlands an. Da ist vor allem die Denkschrift, die er 1804 dem Erzherzog
Johann überreichte, die Fragmente zur Geschichte des europäischen Gleich¬
gewichts, die er im Jahre 1805 in einer gräflichen Villa zu Hietzing schrieb,
die berühmte Vorrede dazu, 1806 in Dresden verfaßt, dann eine Denkschrift,
die erst Prokesch-Osten veröffentlichen konnte: "Gedanken über die Frage:
Was würde das Haus Österreich unter den jetzigen Umständen zu beschließen
haben, um Deutschland auf eine dauernde Weise von fremder Gewalt zu be¬
freien?" Dieselbe war für Stadion bestimmt und ist gegen Ende des Jahres


Friedrich von Gentz.

Viel gelegen. Was haben sie denn jetzt von ihrer Selbständigkeit? „Jetzt hat
alles, groß und klein, für sich selbst gesorgt, gekämpft, geblutet, Tribute gezahlt,
Frieden geschlossen, vom Unglück seines Nachbars gelebt, den Gang der gemein¬
schaftlichen Unternehmung aus allen Kräften erschwert, den Genuß einer traurigen
Herrschaft unter deu Bajonetten des Feindes behauptet. Und was ist die Folge
davon? Die Einzelnen verarmt, das Reich zerstückelt, die gemeinschaftliche
Verfassung ihrer Auflösung nahe gebracht — welche deutsche Feder möchte
dies Gemälde vollenden!" So ruft denn Gentz die Mächte Europas auf zu
einer erneuten, stärkern Verbindung. Man möge nicht an politische Einzel¬
interessen denken. „Das höchste politische Interesse ist doch immer noch weniger
bedeutend als das Interesse einer unabhängigen Existenz."

Wie wir sehen, sind es höchst bedeutende Antriebe, welche die schrift¬
stellerische Thätigkeit dieses Mannes damals gab. Für den Augenblick blieben
sie zwar unfruchtbar, doch haben sie zuletzt zur Befreiung Deutschlands und
Europas geführt. Es kommt aber noch etwas hinzu, das die ideale Wirk¬
samkeit derselben ungemein verstärkte. Gentz hatte gerade während der letzten
neunziger Jahre die moderne ästhetische Bildung ganz in sich aufgenommen,
Haym hat, wenn wir nicht irren, zuerst darauf verwiesen, wie stark die Prosa¬
schriften Schillers — der Aufsatz über „Anmut und Würde" (1793), namentlich
aber die „Briefe über ästhestische Erziehung" — auf Gentz einwirkten. Wilhelm
von Humboldt fchrieb damals an Schiller, Gentz sei der einzige Mensch in
Berlin, in dem diese Briefe einen wohlverstandnen Enthusiasmus erzeugt hätten.
In seinem Journal suchte er sich nun in der Form ganz der klassischen Schule
anzuschließen. Nicht als schwerfälliger Reichspublizist erschien er vor dem
Publikum, sondern als durchaus moderner Schriftsteller, der politische Vorwürfe
auf das schöngeistige Gebiet übertrug. Von der alten, schwerfälligen, trocknen
BeHandlungsweise war keine Spur in seinen Aufsätzen, ebenso sehr hütete er
sich vor banalen Überschwang: er strebte darnach, und es gelang ihm auch, den
sprödesten Stoff in eine schöne Form zu gießen.

Daß Gentz im Jahre 1802 aus preußischen Diensten in österreichische über¬
trat, bildet einen rein äußerlichen Abschnitt seines Lebens. Von 1797 bis 1869
hat er unausgesetzt in demselben Sinne publizistisch gewirkt; die Flugschriften
aber, die Memoiren, die Briefe dieser Periode gehören der klassischen Literatur
Deutschlands an. Da ist vor allem die Denkschrift, die er 1804 dem Erzherzog
Johann überreichte, die Fragmente zur Geschichte des europäischen Gleich¬
gewichts, die er im Jahre 1805 in einer gräflichen Villa zu Hietzing schrieb,
die berühmte Vorrede dazu, 1806 in Dresden verfaßt, dann eine Denkschrift,
die erst Prokesch-Osten veröffentlichen konnte: „Gedanken über die Frage:
Was würde das Haus Österreich unter den jetzigen Umständen zu beschließen
haben, um Deutschland auf eine dauernde Weise von fremder Gewalt zu be¬
freien?" Dieselbe war für Stadion bestimmt und ist gegen Ende des Jahres


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/74>, abgerufen am 17.09.2024.