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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Wilhelm Scherer über die Entstehungsgeschichte von Goethes Laufe.

Widerspruch zu heben zwischen seiner Meinung und der Karen Aussage Goethes,
wonach dieser glaubte, in der damals gedichteten Szene den Ton der alten
Dichtung vollständig wieder getroffen zu haben? Nichts. Er sagt nur: "Goethe
täuschte sich, wenn er den Faden wiedergefunden zu haben glaubte; unsre Szene
gerade beweist das Gegenteil!" Mit diesem Beispiel von Scherers Logik wollen
wir schließen.

Nur noch eine Bemerkung sei gestattet. Man wird vielleicht fragen,
warum wir mit unsrer Widerlegung nicht zu Scherers Lebzeiten hervorgetreten
seien. Darauf ist zu erwiedern, daß wir allerdings schon früher unsre Mei¬
nung geäußert haben, ebenso wie dies auch sonst eine nicht unbeträchtliche An¬
zahl von Literarhistorikern und Kritikern gethan hat, vor allem Zarncke, Düntzer,
Julian Schmidt, Kuno Fischer. Jeder von diesen hat aus der Fülle von Be¬
weisen, deren jeder einzelne schon zur Widerlegung genügt, eins oder das andre
herausgehoben. Aber dies geschah fast durchweg in Monographien oder in
Zeitschriften, die außerhalb der Fachkreise wenig gelesen werden. Die Wider¬
legungen blieben daher wirkungslos gegenüber der -- wie ohne weiteres zu¬
gegeben werden muß -- vortrefflich orgcinisirten Reklame, welche die Feuilletons
und die belletristischen Zeitschriften beherrschte und sich sorgfältig hütete, über
die vorgebrachten Einwände ein Sterbenswörtchen verlauten zu lassen. Scherer
selber versprach eine Widerlegung für spätere Zeit, nahm jedoch inzwischen die
Prosahypothese als eine feststehende Thatsache in seine Literaturgeschichte auf.
Man glaubte somit in Erwartung der in Aussicht gestellten Widerlegung zu¬
nächst von weiterer Polemik absehen zu können, zumal da sich die neue Theorie
in wissenschaftlicher Beziehung als gänzlich unfruchtbar erwies; es erschienen
fortwährend Lobeshymnen, aber keine Studien, durch welche die Schererscheu
Anregungen zu sichern Ergebnissen ausgebildet worden wären. Und da in¬
zwischen Scherers Tod eintrat, mußte es als ein Gebot des Anstcindes nicht
nur, sondern auch der schuldigen Achtung vor den großen Verdiensten des hoch¬
begabten Mannes erscheinen, wenn man seine schwächste Leistung mit dem Mantel
der christlichen Liebe bedeckt ließ. Aber da ertönten in den Nekrologen wieder von
neuem die wohlbekannte" Trompetenstöße, und es fehlte bei dieser Gelegenheit na¬
türlich auch nicht an allerlei Liebenswürdigkeiten für diejenigen, die sich von der
Vortrefflichkeit der neuen Faufttheorie nicht überzeugen konnten. Bei dieser
Gelegenheit konnte man sehen, daß es doch nicht wohlgethan war, den Unfug
so ruhig gewähren zu lassen; es zeigte sich, daß auch in weiteren Kreisen Leute,
denen Zeit und Lust zur selbständigen Nachprüfung der einschlägigen Fragen
mangelt, dem Einfluß der Reklame unbewußt unterlegen waren. Wie wir aus
Loepers Artikel über Schercrs Goethestudien (Deutsche Rundschau, Mai 1887)
ersehen, feierte der klassische Philolog Wahlen in seiner Berliner Rektoratsrede
vom 15. Oktober 1886 Scherer als einen Mann, der die Methode der klassischen
Philologie auf das Gebiet der neuern deutschen Literatur verpflanzt habe, und


Wilhelm Scherer über die Entstehungsgeschichte von Goethes Laufe.

Widerspruch zu heben zwischen seiner Meinung und der Karen Aussage Goethes,
wonach dieser glaubte, in der damals gedichteten Szene den Ton der alten
Dichtung vollständig wieder getroffen zu haben? Nichts. Er sagt nur: „Goethe
täuschte sich, wenn er den Faden wiedergefunden zu haben glaubte; unsre Szene
gerade beweist das Gegenteil!" Mit diesem Beispiel von Scherers Logik wollen
wir schließen.

Nur noch eine Bemerkung sei gestattet. Man wird vielleicht fragen,
warum wir mit unsrer Widerlegung nicht zu Scherers Lebzeiten hervorgetreten
seien. Darauf ist zu erwiedern, daß wir allerdings schon früher unsre Mei¬
nung geäußert haben, ebenso wie dies auch sonst eine nicht unbeträchtliche An¬
zahl von Literarhistorikern und Kritikern gethan hat, vor allem Zarncke, Düntzer,
Julian Schmidt, Kuno Fischer. Jeder von diesen hat aus der Fülle von Be¬
weisen, deren jeder einzelne schon zur Widerlegung genügt, eins oder das andre
herausgehoben. Aber dies geschah fast durchweg in Monographien oder in
Zeitschriften, die außerhalb der Fachkreise wenig gelesen werden. Die Wider¬
legungen blieben daher wirkungslos gegenüber der — wie ohne weiteres zu¬
gegeben werden muß — vortrefflich orgcinisirten Reklame, welche die Feuilletons
und die belletristischen Zeitschriften beherrschte und sich sorgfältig hütete, über
die vorgebrachten Einwände ein Sterbenswörtchen verlauten zu lassen. Scherer
selber versprach eine Widerlegung für spätere Zeit, nahm jedoch inzwischen die
Prosahypothese als eine feststehende Thatsache in seine Literaturgeschichte auf.
Man glaubte somit in Erwartung der in Aussicht gestellten Widerlegung zu¬
nächst von weiterer Polemik absehen zu können, zumal da sich die neue Theorie
in wissenschaftlicher Beziehung als gänzlich unfruchtbar erwies; es erschienen
fortwährend Lobeshymnen, aber keine Studien, durch welche die Schererscheu
Anregungen zu sichern Ergebnissen ausgebildet worden wären. Und da in¬
zwischen Scherers Tod eintrat, mußte es als ein Gebot des Anstcindes nicht
nur, sondern auch der schuldigen Achtung vor den großen Verdiensten des hoch¬
begabten Mannes erscheinen, wenn man seine schwächste Leistung mit dem Mantel
der christlichen Liebe bedeckt ließ. Aber da ertönten in den Nekrologen wieder von
neuem die wohlbekannte» Trompetenstöße, und es fehlte bei dieser Gelegenheit na¬
türlich auch nicht an allerlei Liebenswürdigkeiten für diejenigen, die sich von der
Vortrefflichkeit der neuen Faufttheorie nicht überzeugen konnten. Bei dieser
Gelegenheit konnte man sehen, daß es doch nicht wohlgethan war, den Unfug
so ruhig gewähren zu lassen; es zeigte sich, daß auch in weiteren Kreisen Leute,
denen Zeit und Lust zur selbständigen Nachprüfung der einschlägigen Fragen
mangelt, dem Einfluß der Reklame unbewußt unterlegen waren. Wie wir aus
Loepers Artikel über Schercrs Goethestudien (Deutsche Rundschau, Mai 1887)
ersehen, feierte der klassische Philolog Wahlen in seiner Berliner Rektoratsrede
vom 15. Oktober 1886 Scherer als einen Mann, der die Methode der klassischen
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[0643] Wilhelm Scherer über die Entstehungsgeschichte von Goethes Laufe. Widerspruch zu heben zwischen seiner Meinung und der Karen Aussage Goethes, wonach dieser glaubte, in der damals gedichteten Szene den Ton der alten Dichtung vollständig wieder getroffen zu haben? Nichts. Er sagt nur: „Goethe täuschte sich, wenn er den Faden wiedergefunden zu haben glaubte; unsre Szene gerade beweist das Gegenteil!" Mit diesem Beispiel von Scherers Logik wollen wir schließen. Nur noch eine Bemerkung sei gestattet. Man wird vielleicht fragen, warum wir mit unsrer Widerlegung nicht zu Scherers Lebzeiten hervorgetreten seien. Darauf ist zu erwiedern, daß wir allerdings schon früher unsre Mei¬ nung geäußert haben, ebenso wie dies auch sonst eine nicht unbeträchtliche An¬ zahl von Literarhistorikern und Kritikern gethan hat, vor allem Zarncke, Düntzer, Julian Schmidt, Kuno Fischer. Jeder von diesen hat aus der Fülle von Be¬ weisen, deren jeder einzelne schon zur Widerlegung genügt, eins oder das andre herausgehoben. Aber dies geschah fast durchweg in Monographien oder in Zeitschriften, die außerhalb der Fachkreise wenig gelesen werden. Die Wider¬ legungen blieben daher wirkungslos gegenüber der — wie ohne weiteres zu¬ gegeben werden muß — vortrefflich orgcinisirten Reklame, welche die Feuilletons und die belletristischen Zeitschriften beherrschte und sich sorgfältig hütete, über die vorgebrachten Einwände ein Sterbenswörtchen verlauten zu lassen. Scherer selber versprach eine Widerlegung für spätere Zeit, nahm jedoch inzwischen die Prosahypothese als eine feststehende Thatsache in seine Literaturgeschichte auf. Man glaubte somit in Erwartung der in Aussicht gestellten Widerlegung zu¬ nächst von weiterer Polemik absehen zu können, zumal da sich die neue Theorie in wissenschaftlicher Beziehung als gänzlich unfruchtbar erwies; es erschienen fortwährend Lobeshymnen, aber keine Studien, durch welche die Schererscheu Anregungen zu sichern Ergebnissen ausgebildet worden wären. Und da in¬ zwischen Scherers Tod eintrat, mußte es als ein Gebot des Anstcindes nicht nur, sondern auch der schuldigen Achtung vor den großen Verdiensten des hoch¬ begabten Mannes erscheinen, wenn man seine schwächste Leistung mit dem Mantel der christlichen Liebe bedeckt ließ. Aber da ertönten in den Nekrologen wieder von neuem die wohlbekannte» Trompetenstöße, und es fehlte bei dieser Gelegenheit na¬ türlich auch nicht an allerlei Liebenswürdigkeiten für diejenigen, die sich von der Vortrefflichkeit der neuen Faufttheorie nicht überzeugen konnten. Bei dieser Gelegenheit konnte man sehen, daß es doch nicht wohlgethan war, den Unfug so ruhig gewähren zu lassen; es zeigte sich, daß auch in weiteren Kreisen Leute, denen Zeit und Lust zur selbständigen Nachprüfung der einschlägigen Fragen mangelt, dem Einfluß der Reklame unbewußt unterlegen waren. Wie wir aus Loepers Artikel über Schercrs Goethestudien (Deutsche Rundschau, Mai 1887) ersehen, feierte der klassische Philolog Wahlen in seiner Berliner Rektoratsrede vom 15. Oktober 1886 Scherer als einen Mann, der die Methode der klassischen Philologie auf das Gebiet der neuern deutschen Literatur verpflanzt habe, und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/643>, abgerufen am 17.09.2024.