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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Wilhelm Scherer über die Entstehungsgeschichte von Goethes Laufe.

und Mephisto entzweit über Gretchen, Faust wütend über Mephisto, Kontrast
ihrer Empfindung, Mephistos kalte Ironie über das Schicksal des Mädchens,
diese selbst friedlos und in Qual gedacht." Was soll nun eine derartige Wieder¬
kehr ähnlicher Lagen auffallendes haben? Dasselbe könnte man doch auch von
den Monologen Hamlets sagen, ebenso von den verschiednen Szenen zwischen
Clavigo und Carlos oder zwischen Othello und Jago, Szenen, die eine gewisse
Ähnlichkeit zeigen, von denen jede aber an ihrem Platze steht. Daß die beiden
Gretchenszenen uns die Steigerung von Gretchens Verzweiflung vorführen, daß
Goethe niemals daran denken konnte, die Szene, in der Faust dem Mephistopheles
vorwirft, daß er ihm Gretchens Unglück verheimlicht habe, durch eine Szene zu
ersetzen, in welcher Mephistopheles Fausts Liebe zu Gretchen von neuem ent¬
facht -- darüber braucht man doch kein Wort zu verlieren. Mau scheut sich
förmlich, solche selbstverständliche Dinge vorzutragen; aber freilich, wenn ge¬
radezu sinnlose Behauptungen als höchster Triumph der Goethephilologie aus¬
posaunt werden, dann ist es doch erforderlich, einmal mit ein paar Worten den
wirklichen Sachverhalt darzulegen.

Im Zusammenhang seiner Ausführungen über die Szene "Wald und
Höhle" trägt Scherer "och eine weitere Entdeckung vor, die mit zu dem stärksten
gehört, was er uns in seinem Büchlein auftischt. Goethe sagt in dem oben an¬
geführten römischen Briefe, er habe nach langer Unterbrechung wieder den Faust
vorgenommen, und glaube, den Faden wiedergefunden zu haben; er habe Ende
Februar in Rom eine neue Szene gedichtet, die ganz im Tone der ältern Szenen
gehalten sei, nur dadurch, daß sie auf ein neues Blatt Papier geschrieben sei,
unterscheide sie sich von den ältern Szenen; "wenn ich das Papier räuchere, so
soll sie mir niemand aus den alten herausfinden." Man war früher allgemein
der Ansicht, diese Stelle beziehe sich auf die Szene in der Hexenküche, von der
Goethe selber sagt, er habe sie in Rom im Garten der Villa Borghese ge¬
dichtet. Hier hat Goethe in der That nach langer Unterbrechung im fernen
Süden den Ton der nordisch-romantischen Dichtung meisterlich wieder getroffen.
Scherer glaubt jedoch, Goethe habe in seinem Briefe nicht die Szene in der
Hexenküche, sondern die Szene "Wald und Höhle" gemeint. Der Gegen¬
satz zwischen den ältesten Bestandteilen des Faust und dem weihevollen Mo¬
nolog, der die Szene "Wald und Höhle" eröffnet, ist schon wiederholt hervor¬
gehoben worden. Dort spricht der Stürmer und Drünger, hier der gereifte
Mann, der sich auf der Grundlage Spinozas und der vergleichend naturwissen¬
schaftlichen Studien seine Weltanschauung gebildet hat. Dem entsprechend hier
nicht mehr die alten Hans Sachsschen Reime, sondern der Blankvers, den Goethe
zuerst zur Zeit der italienischen Reise in der Umarbeitung der Iphigenie, so¬
dann auch in andern Werken als die geeignetste Versform des klassischen Jdeal-
stils anwandte. Also in Form und Inhalt der schärfste Gegensatz gegen die
Sturm- und Drangszenen. Und was kann nun Scherer vorbringen, um den


Wilhelm Scherer über die Entstehungsgeschichte von Goethes Laufe.

und Mephisto entzweit über Gretchen, Faust wütend über Mephisto, Kontrast
ihrer Empfindung, Mephistos kalte Ironie über das Schicksal des Mädchens,
diese selbst friedlos und in Qual gedacht." Was soll nun eine derartige Wieder¬
kehr ähnlicher Lagen auffallendes haben? Dasselbe könnte man doch auch von
den Monologen Hamlets sagen, ebenso von den verschiednen Szenen zwischen
Clavigo und Carlos oder zwischen Othello und Jago, Szenen, die eine gewisse
Ähnlichkeit zeigen, von denen jede aber an ihrem Platze steht. Daß die beiden
Gretchenszenen uns die Steigerung von Gretchens Verzweiflung vorführen, daß
Goethe niemals daran denken konnte, die Szene, in der Faust dem Mephistopheles
vorwirft, daß er ihm Gretchens Unglück verheimlicht habe, durch eine Szene zu
ersetzen, in welcher Mephistopheles Fausts Liebe zu Gretchen von neuem ent¬
facht — darüber braucht man doch kein Wort zu verlieren. Mau scheut sich
förmlich, solche selbstverständliche Dinge vorzutragen; aber freilich, wenn ge¬
radezu sinnlose Behauptungen als höchster Triumph der Goethephilologie aus¬
posaunt werden, dann ist es doch erforderlich, einmal mit ein paar Worten den
wirklichen Sachverhalt darzulegen.

Im Zusammenhang seiner Ausführungen über die Szene „Wald und
Höhle" trägt Scherer »och eine weitere Entdeckung vor, die mit zu dem stärksten
gehört, was er uns in seinem Büchlein auftischt. Goethe sagt in dem oben an¬
geführten römischen Briefe, er habe nach langer Unterbrechung wieder den Faust
vorgenommen, und glaube, den Faden wiedergefunden zu haben; er habe Ende
Februar in Rom eine neue Szene gedichtet, die ganz im Tone der ältern Szenen
gehalten sei, nur dadurch, daß sie auf ein neues Blatt Papier geschrieben sei,
unterscheide sie sich von den ältern Szenen; „wenn ich das Papier räuchere, so
soll sie mir niemand aus den alten herausfinden." Man war früher allgemein
der Ansicht, diese Stelle beziehe sich auf die Szene in der Hexenküche, von der
Goethe selber sagt, er habe sie in Rom im Garten der Villa Borghese ge¬
dichtet. Hier hat Goethe in der That nach langer Unterbrechung im fernen
Süden den Ton der nordisch-romantischen Dichtung meisterlich wieder getroffen.
Scherer glaubt jedoch, Goethe habe in seinem Briefe nicht die Szene in der
Hexenküche, sondern die Szene „Wald und Höhle" gemeint. Der Gegen¬
satz zwischen den ältesten Bestandteilen des Faust und dem weihevollen Mo¬
nolog, der die Szene „Wald und Höhle" eröffnet, ist schon wiederholt hervor¬
gehoben worden. Dort spricht der Stürmer und Drünger, hier der gereifte
Mann, der sich auf der Grundlage Spinozas und der vergleichend naturwissen¬
schaftlichen Studien seine Weltanschauung gebildet hat. Dem entsprechend hier
nicht mehr die alten Hans Sachsschen Reime, sondern der Blankvers, den Goethe
zuerst zur Zeit der italienischen Reise in der Umarbeitung der Iphigenie, so¬
dann auch in andern Werken als die geeignetste Versform des klassischen Jdeal-
stils anwandte. Also in Form und Inhalt der schärfste Gegensatz gegen die
Sturm- und Drangszenen. Und was kann nun Scherer vorbringen, um den


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[0642] Wilhelm Scherer über die Entstehungsgeschichte von Goethes Laufe. und Mephisto entzweit über Gretchen, Faust wütend über Mephisto, Kontrast ihrer Empfindung, Mephistos kalte Ironie über das Schicksal des Mädchens, diese selbst friedlos und in Qual gedacht." Was soll nun eine derartige Wieder¬ kehr ähnlicher Lagen auffallendes haben? Dasselbe könnte man doch auch von den Monologen Hamlets sagen, ebenso von den verschiednen Szenen zwischen Clavigo und Carlos oder zwischen Othello und Jago, Szenen, die eine gewisse Ähnlichkeit zeigen, von denen jede aber an ihrem Platze steht. Daß die beiden Gretchenszenen uns die Steigerung von Gretchens Verzweiflung vorführen, daß Goethe niemals daran denken konnte, die Szene, in der Faust dem Mephistopheles vorwirft, daß er ihm Gretchens Unglück verheimlicht habe, durch eine Szene zu ersetzen, in welcher Mephistopheles Fausts Liebe zu Gretchen von neuem ent¬ facht — darüber braucht man doch kein Wort zu verlieren. Mau scheut sich förmlich, solche selbstverständliche Dinge vorzutragen; aber freilich, wenn ge¬ radezu sinnlose Behauptungen als höchster Triumph der Goethephilologie aus¬ posaunt werden, dann ist es doch erforderlich, einmal mit ein paar Worten den wirklichen Sachverhalt darzulegen. Im Zusammenhang seiner Ausführungen über die Szene „Wald und Höhle" trägt Scherer »och eine weitere Entdeckung vor, die mit zu dem stärksten gehört, was er uns in seinem Büchlein auftischt. Goethe sagt in dem oben an¬ geführten römischen Briefe, er habe nach langer Unterbrechung wieder den Faust vorgenommen, und glaube, den Faden wiedergefunden zu haben; er habe Ende Februar in Rom eine neue Szene gedichtet, die ganz im Tone der ältern Szenen gehalten sei, nur dadurch, daß sie auf ein neues Blatt Papier geschrieben sei, unterscheide sie sich von den ältern Szenen; „wenn ich das Papier räuchere, so soll sie mir niemand aus den alten herausfinden." Man war früher allgemein der Ansicht, diese Stelle beziehe sich auf die Szene in der Hexenküche, von der Goethe selber sagt, er habe sie in Rom im Garten der Villa Borghese ge¬ dichtet. Hier hat Goethe in der That nach langer Unterbrechung im fernen Süden den Ton der nordisch-romantischen Dichtung meisterlich wieder getroffen. Scherer glaubt jedoch, Goethe habe in seinem Briefe nicht die Szene in der Hexenküche, sondern die Szene „Wald und Höhle" gemeint. Der Gegen¬ satz zwischen den ältesten Bestandteilen des Faust und dem weihevollen Mo¬ nolog, der die Szene „Wald und Höhle" eröffnet, ist schon wiederholt hervor¬ gehoben worden. Dort spricht der Stürmer und Drünger, hier der gereifte Mann, der sich auf der Grundlage Spinozas und der vergleichend naturwissen¬ schaftlichen Studien seine Weltanschauung gebildet hat. Dem entsprechend hier nicht mehr die alten Hans Sachsschen Reime, sondern der Blankvers, den Goethe zuerst zur Zeit der italienischen Reise in der Umarbeitung der Iphigenie, so¬ dann auch in andern Werken als die geeignetste Versform des klassischen Jdeal- stils anwandte. Also in Form und Inhalt der schärfste Gegensatz gegen die Sturm- und Drangszenen. Und was kann nun Scherer vorbringen, um den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/642>, abgerufen am 17.09.2024.