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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Wilhelm Scherer über die Entstehungsgeschichte von Goethes Faust.

ihn im Jahre 1775 mit nach Weimar. Ich hatte ihn auf PostPapier ge¬
schrieben und nichts davon gestrichen, denn ich hütete mich, eine Zeile nieder¬
zuschreiben, die nicht gut war und die nicht bestehen konnte."

Das entschiedenste Zeugnis für die gänzliche Wertlosigkeit der Vermutung
Scherers ist jedoch in einem Briefe enthalten, den Goethe am 1. März 1788
von Rom aus an Herder richtete, als er nach jahrelanger Unterbrechung die
Arbeit am Faust wieder vornahm. Goethe schreibt: "Es war eine reichhaltige
Woche, die mir in der Erinnerung wie ein Monat vorkommt. Zuerst ward
der Plan zu Faust gemacht, und ich hoffe, diese Operation soll mir geglückt
sein. Natürlich ist es ein ander Ding, das Stück jetzt oder vor fünfzehn Jahren
ausschreiben; ich denke, es soll nichts dabei verlieren', besonders da ich jetzt
glaube, den Faden wieder gefunden zu haben. Auch was den Ton des Ganzen
betrifft, bin ich getröstet; ich habe schon eine neue Szene ausgeführt, und wenn
ich das Papier räuchere, so dächte ich, sollte sie mir niemand aus den alten
herausfinden. Da ich durch die lange Ruhe und Abgeschiedenheit ganz auf
das Niveau meiner eignen Existenz zurückgebracht bin, so ist es merkwürdig,
wie sehr ich mir gleiche und wie wenig mein Inneres durch Jahre und Be¬
gebenheiten gelitten hat. Das alte Manuskript macht mir manchmal zu
denken, wenn ich es vor mir sehe. Es ist noch das erste, ja in den Haupt¬
szenen gleich so ohne Konzept hingeschrieben; nun ist es so gelb von der Zeit,
so vergriffen -- die Lagen waren nie geheftet -- so mürbe und an den Rän¬
dern zerstoßen, daß er wirklich wie das Fragment eines alten Kodex aussieht,
sodaß ich, wie ich damals in eine frühere Welt mich mit Sinnen und Ahnen
versetzte, mich jetzt in eine selbstgclebte Vorzeit wieder versetzen muß."

Durch Goethes Worte, das Manuskript sei "noch das erste, ja in den
Hauptszenen gleich so ohne Konzept hingeschrieben," ist jeder Gedanke an die
Möglichkeit einer doppelten Bearbeitung, wie Scherer sie annimmt, ausgeschlossen.
Von einem Irrtum oder einem Gedächtnisfchler Goethes kann unter den ge¬
gebenen Umständen nicht die Rede sein. Daß jenes Manuskript die Szenen
aus der Jugendzeit in der Gestalt enthielt, wie sie Goethe in den letzten Frank¬
furter Jahren niedergeschrieben und nach Weimar mitgebracht hatte, ist un¬
zweifelhaft; ein Anhänger der Vermutung Schercrs könnte höchstens noch
annehmen, daß außerdem auch noch die ersten Prosaentwürfe sich mit unter
den Blättern des Manuskripts befunden hätten. Aber auch dann wäre es un¬
denkbar, daß Goethe sich über das Manuskript so hätte ausdrücken können. wie
er es in seinem Briefe gethan hat.

Wenn der Brief Goethes an irgend einem entlegenen Orte abgedruckt wäre,
könnte man es vielleicht für entschuldbar halten, daß Scherer mit seinem aben¬
teuerlichen Einfall von einem Prosa-Faust hervorzutreten wagte. Aber der Brief
steht in Goethes Italienischer Reise; zudem wird er fast von allen Fansterklcirern
als ein wichtiges Zeugnis abgedruckt, und Scherer selber hat, wie wir sehen


Wilhelm Scherer über die Entstehungsgeschichte von Goethes Faust.

ihn im Jahre 1775 mit nach Weimar. Ich hatte ihn auf PostPapier ge¬
schrieben und nichts davon gestrichen, denn ich hütete mich, eine Zeile nieder¬
zuschreiben, die nicht gut war und die nicht bestehen konnte."

Das entschiedenste Zeugnis für die gänzliche Wertlosigkeit der Vermutung
Scherers ist jedoch in einem Briefe enthalten, den Goethe am 1. März 1788
von Rom aus an Herder richtete, als er nach jahrelanger Unterbrechung die
Arbeit am Faust wieder vornahm. Goethe schreibt: „Es war eine reichhaltige
Woche, die mir in der Erinnerung wie ein Monat vorkommt. Zuerst ward
der Plan zu Faust gemacht, und ich hoffe, diese Operation soll mir geglückt
sein. Natürlich ist es ein ander Ding, das Stück jetzt oder vor fünfzehn Jahren
ausschreiben; ich denke, es soll nichts dabei verlieren', besonders da ich jetzt
glaube, den Faden wieder gefunden zu haben. Auch was den Ton des Ganzen
betrifft, bin ich getröstet; ich habe schon eine neue Szene ausgeführt, und wenn
ich das Papier räuchere, so dächte ich, sollte sie mir niemand aus den alten
herausfinden. Da ich durch die lange Ruhe und Abgeschiedenheit ganz auf
das Niveau meiner eignen Existenz zurückgebracht bin, so ist es merkwürdig,
wie sehr ich mir gleiche und wie wenig mein Inneres durch Jahre und Be¬
gebenheiten gelitten hat. Das alte Manuskript macht mir manchmal zu
denken, wenn ich es vor mir sehe. Es ist noch das erste, ja in den Haupt¬
szenen gleich so ohne Konzept hingeschrieben; nun ist es so gelb von der Zeit,
so vergriffen — die Lagen waren nie geheftet — so mürbe und an den Rän¬
dern zerstoßen, daß er wirklich wie das Fragment eines alten Kodex aussieht,
sodaß ich, wie ich damals in eine frühere Welt mich mit Sinnen und Ahnen
versetzte, mich jetzt in eine selbstgclebte Vorzeit wieder versetzen muß."

Durch Goethes Worte, das Manuskript sei „noch das erste, ja in den
Hauptszenen gleich so ohne Konzept hingeschrieben," ist jeder Gedanke an die
Möglichkeit einer doppelten Bearbeitung, wie Scherer sie annimmt, ausgeschlossen.
Von einem Irrtum oder einem Gedächtnisfchler Goethes kann unter den ge¬
gebenen Umständen nicht die Rede sein. Daß jenes Manuskript die Szenen
aus der Jugendzeit in der Gestalt enthielt, wie sie Goethe in den letzten Frank¬
furter Jahren niedergeschrieben und nach Weimar mitgebracht hatte, ist un¬
zweifelhaft; ein Anhänger der Vermutung Schercrs könnte höchstens noch
annehmen, daß außerdem auch noch die ersten Prosaentwürfe sich mit unter
den Blättern des Manuskripts befunden hätten. Aber auch dann wäre es un¬
denkbar, daß Goethe sich über das Manuskript so hätte ausdrücken können. wie
er es in seinem Briefe gethan hat.

Wenn der Brief Goethes an irgend einem entlegenen Orte abgedruckt wäre,
könnte man es vielleicht für entschuldbar halten, daß Scherer mit seinem aben¬
teuerlichen Einfall von einem Prosa-Faust hervorzutreten wagte. Aber der Brief
steht in Goethes Italienischer Reise; zudem wird er fast von allen Fansterklcirern
als ein wichtiges Zeugnis abgedruckt, und Scherer selber hat, wie wir sehen


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[0639] Wilhelm Scherer über die Entstehungsgeschichte von Goethes Faust. ihn im Jahre 1775 mit nach Weimar. Ich hatte ihn auf PostPapier ge¬ schrieben und nichts davon gestrichen, denn ich hütete mich, eine Zeile nieder¬ zuschreiben, die nicht gut war und die nicht bestehen konnte." Das entschiedenste Zeugnis für die gänzliche Wertlosigkeit der Vermutung Scherers ist jedoch in einem Briefe enthalten, den Goethe am 1. März 1788 von Rom aus an Herder richtete, als er nach jahrelanger Unterbrechung die Arbeit am Faust wieder vornahm. Goethe schreibt: „Es war eine reichhaltige Woche, die mir in der Erinnerung wie ein Monat vorkommt. Zuerst ward der Plan zu Faust gemacht, und ich hoffe, diese Operation soll mir geglückt sein. Natürlich ist es ein ander Ding, das Stück jetzt oder vor fünfzehn Jahren ausschreiben; ich denke, es soll nichts dabei verlieren', besonders da ich jetzt glaube, den Faden wieder gefunden zu haben. Auch was den Ton des Ganzen betrifft, bin ich getröstet; ich habe schon eine neue Szene ausgeführt, und wenn ich das Papier räuchere, so dächte ich, sollte sie mir niemand aus den alten herausfinden. Da ich durch die lange Ruhe und Abgeschiedenheit ganz auf das Niveau meiner eignen Existenz zurückgebracht bin, so ist es merkwürdig, wie sehr ich mir gleiche und wie wenig mein Inneres durch Jahre und Be¬ gebenheiten gelitten hat. Das alte Manuskript macht mir manchmal zu denken, wenn ich es vor mir sehe. Es ist noch das erste, ja in den Haupt¬ szenen gleich so ohne Konzept hingeschrieben; nun ist es so gelb von der Zeit, so vergriffen — die Lagen waren nie geheftet — so mürbe und an den Rän¬ dern zerstoßen, daß er wirklich wie das Fragment eines alten Kodex aussieht, sodaß ich, wie ich damals in eine frühere Welt mich mit Sinnen und Ahnen versetzte, mich jetzt in eine selbstgclebte Vorzeit wieder versetzen muß." Durch Goethes Worte, das Manuskript sei „noch das erste, ja in den Hauptszenen gleich so ohne Konzept hingeschrieben," ist jeder Gedanke an die Möglichkeit einer doppelten Bearbeitung, wie Scherer sie annimmt, ausgeschlossen. Von einem Irrtum oder einem Gedächtnisfchler Goethes kann unter den ge¬ gebenen Umständen nicht die Rede sein. Daß jenes Manuskript die Szenen aus der Jugendzeit in der Gestalt enthielt, wie sie Goethe in den letzten Frank¬ furter Jahren niedergeschrieben und nach Weimar mitgebracht hatte, ist un¬ zweifelhaft; ein Anhänger der Vermutung Schercrs könnte höchstens noch annehmen, daß außerdem auch noch die ersten Prosaentwürfe sich mit unter den Blättern des Manuskripts befunden hätten. Aber auch dann wäre es un¬ denkbar, daß Goethe sich über das Manuskript so hätte ausdrücken können. wie er es in seinem Briefe gethan hat. Wenn der Brief Goethes an irgend einem entlegenen Orte abgedruckt wäre, könnte man es vielleicht für entschuldbar halten, daß Scherer mit seinem aben¬ teuerlichen Einfall von einem Prosa-Faust hervorzutreten wagte. Aber der Brief steht in Goethes Italienischer Reise; zudem wird er fast von allen Fansterklcirern als ein wichtiges Zeugnis abgedruckt, und Scherer selber hat, wie wir sehen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/639>, abgerufen am 17.09.2024.