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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Wilhelm Scherer über die Entstehungsgeschichte von Goethes Faust.

(das Glaubensbekenntnis und die Domszene) berufen kann. Diese Stellen sind
durch klar hervortretenden rhythmischen Tonfall von der prosaischen Rede streng
geschieden, es ist kein Zweifel, daß wir hier die nämlichen reimlosen Kurzzeilen
vor uns haben, wie in Wanderers Sturmlied, in Schwager Kronos und in
einer Menge von andern Sturm- und Dranggedichten. Dieselbe Form hat
Goethe auch in dem Dialog "Der Wanderer" und in dem Wechselgesang zwischen
Ali und Fatime in dein dramatischen Fragment Mahomet angewendet.

Wenn Goethe im Faust zwischen verschiednen Stilarten und Versformen
abwechselt, so hat dies doch nichts so auffallendes, daß man deshalb zu einer
so gekünstelter Hypothese seine Zuflucht nehmen müßte. Ähnliches findet sich
bei den dramatischen Dichtern aller Völker und Zeiten. Und daß wir zwischen
den ältesten Bestandteilen des Faust solche Stilunterschiede bemerken, dafür
können wir noch den besondern Erklärungsgrund vorbringen, daß Goethe hier
trotz der theatralischen Wirksamkeit der einzelnen Szenen, doch nicht immer vor
Augen gehabt hat, wie die Teile sich in ein großes dramatisches Ganze ein¬
reihen sollten. Fast jede Szene ist in sich abgerundet. Der Anfang schließt
sich nicht unmittelbar an das Vorhergehende, das Ende weist nicht unmittelbar
auf das, was nachfolgt. Goethe bekennt selber, er habe keinen Stil gehabt,
er habe bei jeder Arbeit, je nachdem der Gegenstand war, auch nach dem Stil
tasten und suchen müssen. Und so finden wir, daß unter den Stilarten, in
denen er sich damals bewegte -- dem Hans Sachsschen Reim, den Pindarischen
reimlosen Verszeilen, der shakespearisirenden Prosa -- sich stets die ange¬
messenste und wirksamste in den ältesten Szenen des Faust einstellte.

Die vorgebrachten innern Gründe sind zur Widerlegung von Scherers
Einfall vollkommen ausreichend. Nun giebt es aber noch äußere Gründe,
welche die Annahme eines Prosaentwurfs in den ersten Sturm- und Drang¬
jahren vollkommen undenkbar erscheinen lassen. Allerdings "klang und summte"
schon in Goethes Straßburger Studienzeit (April 1770 bis Ende August 1771)
"die Faustfabel gar vieltönig in ihm wieder," und er hat wohl auch seinen
Freunden in den nächsten Jahren einiges über seinen Plan eines Faustdramas
mitgeteilt. Aber gerade bei Goethe sind wir am wenigsten berechtigt, aus dem
Plan auf eine sofortige Niederschrift zu schließen. Bekenne er doch selber:
"Mir drückten sich gewisse große Motive, Legenden, uraltgeschichtlich Über¬
liefertes so tief in den Sinn, daß ich sie vierzig bis fünfzig Jahre lebendig
und wirksam im Innern erhielt; mir schien der schönste Besitz, solche werte
Bilder oft in der Einbildungskraft erneut zu sehen, da sie sich denn zwar
immer umgestalteten, doch ohne sich zu verändern, einer reineren Form, einer
entschiedeneren Darstellung entgegenreiften." Ohne Zweifel ist es dem Dichter
auch mit dem Faust ähnlich ergangen. Das erste Zeugnis der Niederschrift stammt
aus dem Jahre 1774. Außerdem sagte Goethe selber in späterer Zeit zu
Eckermann: "Der Faust entstand mit meinem Werther jalso 1774^, ich brachte


Wilhelm Scherer über die Entstehungsgeschichte von Goethes Faust.

(das Glaubensbekenntnis und die Domszene) berufen kann. Diese Stellen sind
durch klar hervortretenden rhythmischen Tonfall von der prosaischen Rede streng
geschieden, es ist kein Zweifel, daß wir hier die nämlichen reimlosen Kurzzeilen
vor uns haben, wie in Wanderers Sturmlied, in Schwager Kronos und in
einer Menge von andern Sturm- und Dranggedichten. Dieselbe Form hat
Goethe auch in dem Dialog „Der Wanderer" und in dem Wechselgesang zwischen
Ali und Fatime in dein dramatischen Fragment Mahomet angewendet.

Wenn Goethe im Faust zwischen verschiednen Stilarten und Versformen
abwechselt, so hat dies doch nichts so auffallendes, daß man deshalb zu einer
so gekünstelter Hypothese seine Zuflucht nehmen müßte. Ähnliches findet sich
bei den dramatischen Dichtern aller Völker und Zeiten. Und daß wir zwischen
den ältesten Bestandteilen des Faust solche Stilunterschiede bemerken, dafür
können wir noch den besondern Erklärungsgrund vorbringen, daß Goethe hier
trotz der theatralischen Wirksamkeit der einzelnen Szenen, doch nicht immer vor
Augen gehabt hat, wie die Teile sich in ein großes dramatisches Ganze ein¬
reihen sollten. Fast jede Szene ist in sich abgerundet. Der Anfang schließt
sich nicht unmittelbar an das Vorhergehende, das Ende weist nicht unmittelbar
auf das, was nachfolgt. Goethe bekennt selber, er habe keinen Stil gehabt,
er habe bei jeder Arbeit, je nachdem der Gegenstand war, auch nach dem Stil
tasten und suchen müssen. Und so finden wir, daß unter den Stilarten, in
denen er sich damals bewegte — dem Hans Sachsschen Reim, den Pindarischen
reimlosen Verszeilen, der shakespearisirenden Prosa — sich stets die ange¬
messenste und wirksamste in den ältesten Szenen des Faust einstellte.

Die vorgebrachten innern Gründe sind zur Widerlegung von Scherers
Einfall vollkommen ausreichend. Nun giebt es aber noch äußere Gründe,
welche die Annahme eines Prosaentwurfs in den ersten Sturm- und Drang¬
jahren vollkommen undenkbar erscheinen lassen. Allerdings „klang und summte"
schon in Goethes Straßburger Studienzeit (April 1770 bis Ende August 1771)
„die Faustfabel gar vieltönig in ihm wieder," und er hat wohl auch seinen
Freunden in den nächsten Jahren einiges über seinen Plan eines Faustdramas
mitgeteilt. Aber gerade bei Goethe sind wir am wenigsten berechtigt, aus dem
Plan auf eine sofortige Niederschrift zu schließen. Bekenne er doch selber:
„Mir drückten sich gewisse große Motive, Legenden, uraltgeschichtlich Über¬
liefertes so tief in den Sinn, daß ich sie vierzig bis fünfzig Jahre lebendig
und wirksam im Innern erhielt; mir schien der schönste Besitz, solche werte
Bilder oft in der Einbildungskraft erneut zu sehen, da sie sich denn zwar
immer umgestalteten, doch ohne sich zu verändern, einer reineren Form, einer
entschiedeneren Darstellung entgegenreiften." Ohne Zweifel ist es dem Dichter
auch mit dem Faust ähnlich ergangen. Das erste Zeugnis der Niederschrift stammt
aus dem Jahre 1774. Außerdem sagte Goethe selber in späterer Zeit zu
Eckermann: „Der Faust entstand mit meinem Werther jalso 1774^, ich brachte


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[0638] Wilhelm Scherer über die Entstehungsgeschichte von Goethes Faust. (das Glaubensbekenntnis und die Domszene) berufen kann. Diese Stellen sind durch klar hervortretenden rhythmischen Tonfall von der prosaischen Rede streng geschieden, es ist kein Zweifel, daß wir hier die nämlichen reimlosen Kurzzeilen vor uns haben, wie in Wanderers Sturmlied, in Schwager Kronos und in einer Menge von andern Sturm- und Dranggedichten. Dieselbe Form hat Goethe auch in dem Dialog „Der Wanderer" und in dem Wechselgesang zwischen Ali und Fatime in dein dramatischen Fragment Mahomet angewendet. Wenn Goethe im Faust zwischen verschiednen Stilarten und Versformen abwechselt, so hat dies doch nichts so auffallendes, daß man deshalb zu einer so gekünstelter Hypothese seine Zuflucht nehmen müßte. Ähnliches findet sich bei den dramatischen Dichtern aller Völker und Zeiten. Und daß wir zwischen den ältesten Bestandteilen des Faust solche Stilunterschiede bemerken, dafür können wir noch den besondern Erklärungsgrund vorbringen, daß Goethe hier trotz der theatralischen Wirksamkeit der einzelnen Szenen, doch nicht immer vor Augen gehabt hat, wie die Teile sich in ein großes dramatisches Ganze ein¬ reihen sollten. Fast jede Szene ist in sich abgerundet. Der Anfang schließt sich nicht unmittelbar an das Vorhergehende, das Ende weist nicht unmittelbar auf das, was nachfolgt. Goethe bekennt selber, er habe keinen Stil gehabt, er habe bei jeder Arbeit, je nachdem der Gegenstand war, auch nach dem Stil tasten und suchen müssen. Und so finden wir, daß unter den Stilarten, in denen er sich damals bewegte — dem Hans Sachsschen Reim, den Pindarischen reimlosen Verszeilen, der shakespearisirenden Prosa — sich stets die ange¬ messenste und wirksamste in den ältesten Szenen des Faust einstellte. Die vorgebrachten innern Gründe sind zur Widerlegung von Scherers Einfall vollkommen ausreichend. Nun giebt es aber noch äußere Gründe, welche die Annahme eines Prosaentwurfs in den ersten Sturm- und Drang¬ jahren vollkommen undenkbar erscheinen lassen. Allerdings „klang und summte" schon in Goethes Straßburger Studienzeit (April 1770 bis Ende August 1771) „die Faustfabel gar vieltönig in ihm wieder," und er hat wohl auch seinen Freunden in den nächsten Jahren einiges über seinen Plan eines Faustdramas mitgeteilt. Aber gerade bei Goethe sind wir am wenigsten berechtigt, aus dem Plan auf eine sofortige Niederschrift zu schließen. Bekenne er doch selber: „Mir drückten sich gewisse große Motive, Legenden, uraltgeschichtlich Über¬ liefertes so tief in den Sinn, daß ich sie vierzig bis fünfzig Jahre lebendig und wirksam im Innern erhielt; mir schien der schönste Besitz, solche werte Bilder oft in der Einbildungskraft erneut zu sehen, da sie sich denn zwar immer umgestalteten, doch ohne sich zu verändern, einer reineren Form, einer entschiedeneren Darstellung entgegenreiften." Ohne Zweifel ist es dem Dichter auch mit dem Faust ähnlich ergangen. Das erste Zeugnis der Niederschrift stammt aus dem Jahre 1774. Außerdem sagte Goethe selber in späterer Zeit zu Eckermann: „Der Faust entstand mit meinem Werther jalso 1774^, ich brachte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/638>, abgerufen am 17.09.2024.