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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Wilhelm Scherer über die Entstehungsgeschichte vo>l Goethes Faust.

entgegenstehende Aussage Riemers irre machen zu lassen. Von namhafterer
Erklärern ist, so viel ich weiß, nur Düntzer von jeher der Meinung gewesen,
daß wir die Aussage Riemers als ein unumstößliches Zeugnis betrachten müßten.

Ferner waren die Erklärer darüber einig, daß Goethe schon in der ersten
Epoche Gretchen als Kindesmörderin eingekerkert und wahnsinnig vorzuführen
gedachte. Dies wird u. a. bewiesen durch das Trauerspiel "Die Kinder¬
mörderin" von Heinrich Leopold Wagner (1776). Wagner hat hier bekannt¬
lich, das Vertrauen Goethes mißbranchend, einige Hauptmotive der Gretchen-
tragödie verwertet, unter andern auch solche, die wir in der Kerkerszeue des
Faust wiederfinden. Ferner erzählte Wieland 1796 von einer Kerkerszene, die
ihm schon vor dem Erscheinen des Fragments bekannt gewesen sei, und wunderte
sich, daß Goethe diese Szene nicht mit ins Fragment aufgenommen habe. Wenn
wir mit diesen Zeugnissen die oben erwähnte Briefstelle über die Prosaszenen
zusammenhalten, so ist es klar, daß der Kerkerszene, so wie sie uns jetzt vor¬
liegt, ein Entwurf aus dem ersten Zustande der Dichtung, höchst wahrscheinlich
in Prosa, vorangegangen sein muß.

Dies alles sind Thatsachen, die schon vor dem Erscheinen der Unter¬
suchungen Schcrers bekannt und wiederholt ausgesprochen worden waren.

Das neue an Scherers Untersuchungen ist nun, daß er innerhalb der
Gruppe von Szenen, die in die Sturm- und Drangzeit zurückreichen, zwei ge¬
trennte Entwicklungsschichten unterscheiden will. Er meint, daß Goethe in der
ersten Hälfte der Sturm- und Drangperiode -- vor 1773 -- den Faust in
Prosa entworfen und alsdann erst in der zweiten Hälfte der Sturm- und Drang¬
periode sich entschlossen habe, in seiner Dichtung Neimverse nach Art der Hans
Sachsschen anzuwenden. Goethe habe also damals einige Szenen, von welchen
bereits ein Prvsaentwmf vorhanden war, in Reime gebracht, während er andre
zunächst in ihrer ursprünglichen Prvsaform gelassen habe. Außerdem seien
jedoch damals noch einige Neimszenen ohne Prosagrundlage hinzugedichtet
worden.

Bei der Begründung dieser Annahme einer doppelten Bearbeitung während
der Genieperiode geht Scherer von der Prosaszene aus, die sich, wie wir sahen,
aus dem ersten Zustande der Dichtung erhalten hat. Er vergleicht diese Szene
mit der ersten Niederschrift des Götz, die aus dem Jahre 1771 stammt, die Goethe
jedoch damals noch ungedruckt gelassen hatte und erst 1773 veröffentlichte, nicht
ohne sie vorher einer gründlichen Umarbeitung unterzogen zu haben. Bei dieser
Umarbeitung war Goethe bestrebt, einiges allzu krasse, allzu leidenschaftlich wilde
sowohl in Bezug auf den Inhalt als auch in Bezug auf die Form zu mildern
oder gänzlich zu tilgen. So opferte er z. B. die Szene, in welcher Adelheid
auf der Bühne erdrosselt wird, ferner eine Szene, in welcher eine Rittersfrau
die wütenden aufständischen Bauern vergebens um Gnade für ihren Gemahl
bittet u. a. in. Scherer glaubt nun nachweisen zu können, daß jene Prosa-


Wilhelm Scherer über die Entstehungsgeschichte vo>l Goethes Faust.

entgegenstehende Aussage Riemers irre machen zu lassen. Von namhafterer
Erklärern ist, so viel ich weiß, nur Düntzer von jeher der Meinung gewesen,
daß wir die Aussage Riemers als ein unumstößliches Zeugnis betrachten müßten.

Ferner waren die Erklärer darüber einig, daß Goethe schon in der ersten
Epoche Gretchen als Kindesmörderin eingekerkert und wahnsinnig vorzuführen
gedachte. Dies wird u. a. bewiesen durch das Trauerspiel „Die Kinder¬
mörderin" von Heinrich Leopold Wagner (1776). Wagner hat hier bekannt¬
lich, das Vertrauen Goethes mißbranchend, einige Hauptmotive der Gretchen-
tragödie verwertet, unter andern auch solche, die wir in der Kerkerszeue des
Faust wiederfinden. Ferner erzählte Wieland 1796 von einer Kerkerszene, die
ihm schon vor dem Erscheinen des Fragments bekannt gewesen sei, und wunderte
sich, daß Goethe diese Szene nicht mit ins Fragment aufgenommen habe. Wenn
wir mit diesen Zeugnissen die oben erwähnte Briefstelle über die Prosaszenen
zusammenhalten, so ist es klar, daß der Kerkerszene, so wie sie uns jetzt vor¬
liegt, ein Entwurf aus dem ersten Zustande der Dichtung, höchst wahrscheinlich
in Prosa, vorangegangen sein muß.

Dies alles sind Thatsachen, die schon vor dem Erscheinen der Unter¬
suchungen Schcrers bekannt und wiederholt ausgesprochen worden waren.

Das neue an Scherers Untersuchungen ist nun, daß er innerhalb der
Gruppe von Szenen, die in die Sturm- und Drangzeit zurückreichen, zwei ge¬
trennte Entwicklungsschichten unterscheiden will. Er meint, daß Goethe in der
ersten Hälfte der Sturm- und Drangperiode — vor 1773 — den Faust in
Prosa entworfen und alsdann erst in der zweiten Hälfte der Sturm- und Drang¬
periode sich entschlossen habe, in seiner Dichtung Neimverse nach Art der Hans
Sachsschen anzuwenden. Goethe habe also damals einige Szenen, von welchen
bereits ein Prvsaentwmf vorhanden war, in Reime gebracht, während er andre
zunächst in ihrer ursprünglichen Prvsaform gelassen habe. Außerdem seien
jedoch damals noch einige Neimszenen ohne Prosagrundlage hinzugedichtet
worden.

Bei der Begründung dieser Annahme einer doppelten Bearbeitung während
der Genieperiode geht Scherer von der Prosaszene aus, die sich, wie wir sahen,
aus dem ersten Zustande der Dichtung erhalten hat. Er vergleicht diese Szene
mit der ersten Niederschrift des Götz, die aus dem Jahre 1771 stammt, die Goethe
jedoch damals noch ungedruckt gelassen hatte und erst 1773 veröffentlichte, nicht
ohne sie vorher einer gründlichen Umarbeitung unterzogen zu haben. Bei dieser
Umarbeitung war Goethe bestrebt, einiges allzu krasse, allzu leidenschaftlich wilde
sowohl in Bezug auf den Inhalt als auch in Bezug auf die Form zu mildern
oder gänzlich zu tilgen. So opferte er z. B. die Szene, in welcher Adelheid
auf der Bühne erdrosselt wird, ferner eine Szene, in welcher eine Rittersfrau
die wütenden aufständischen Bauern vergebens um Gnade für ihren Gemahl
bittet u. a. in. Scherer glaubt nun nachweisen zu können, daß jene Prosa-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/635>, abgerufen am 17.09.2024.