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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Wilhelm Scherer über die Entstehungsgeschichte
von Goethes Faust.
Ein Beitrag zur Geschichte des literarischen Humbugs. von Wilhelm Lreizenach.

n den letzten Jahren ist bekanntlich für Scherers Untersuchungen
über die ältesten Bestandteile des Faust das Tamtam der Reklame
eifrig in Bewegung gesetzt worden. Da jedoch viele der begeisterten
Lobredner vor lauter Entzücken ganz vergaßen, den Leuten aus¬
einanderzusetzen, worin denn eigentlich Scherers Verdienste um
das tiefere Verständnis der Faustdichtung bestehen, so wird vielleicht manchem
Leser eine kritische Darlegung der Ansichten Scherers nicht unwillkommen sein.

Vergegenwärtigen wir uns zu diesem Zwecke zunächst mit ein paar Worten
den Stand der Frage vor dem Erscheinen der Untersuchungen Scherers,
1879.*)

Bereits vor dieser Zeit hatte sich immer mehr die Überzeugung Bahn ge¬
brochen, daß Goethes Faust nicht zu den Kunstwerken gehört, die rein aus sich
selbst erklärbar sind, daß viele schwierige Partien im Faust uns erst dann ver¬
ständlich werden, wenn wir uns vergegenwärtigt haben, in welchen Zeitpunkt
ihre Niederschrift fällt, welche Ereignisse in dem äußern Lebensgange und in
der innern Entwicklung des Dichters auf ihre Entstehung von Einfluß waren.
Namentlich war die Aufmerksamkeit schon darauf hingelenkt, daß unter den Faust¬
szenen, die im Jahre 1790 als Fragment veröffentlicht wurden, der Prolog im
Himmel und die Vertragsszene zwischen Faust und Mephistopheles noch nicht
vorhanden sind, daß diese Szenen, welche das Gefüge der vollendeten Dichtung
zusammenhalten, mit einigen Stellen des Fragments in Widerspruch stehen.
Wer das Fragment für sich allein liest, dem kann es nicht entgehen, daß nach
Goethes ursprünglichem Entwurf offenbar der Erdgeist in ganz andrer Weise,
als dies jetzt der Fall ist, in die Handlung eingreifen sollte; Mephistopheles
sollte als ein Abgesandter des Erdgeistes an Faust herantreten. Wenn man
nun auf Grund dieser Thatsache sich von den ursprünglich vorhandenen, später
jedoch wieder fallen gelassenen Absichten Goethes eine nähere Kenntnis ver¬
schaffen wollte, so mußte vor allen Dingen die Chronologie der einzelnen Szenen



Wilhelm Scherer, Aus Goethes Frühzeit. Straßburg, 1379.
Wilhelm Scherer über die Entstehungsgeschichte
von Goethes Faust.
Ein Beitrag zur Geschichte des literarischen Humbugs. von Wilhelm Lreizenach.

n den letzten Jahren ist bekanntlich für Scherers Untersuchungen
über die ältesten Bestandteile des Faust das Tamtam der Reklame
eifrig in Bewegung gesetzt worden. Da jedoch viele der begeisterten
Lobredner vor lauter Entzücken ganz vergaßen, den Leuten aus¬
einanderzusetzen, worin denn eigentlich Scherers Verdienste um
das tiefere Verständnis der Faustdichtung bestehen, so wird vielleicht manchem
Leser eine kritische Darlegung der Ansichten Scherers nicht unwillkommen sein.

Vergegenwärtigen wir uns zu diesem Zwecke zunächst mit ein paar Worten
den Stand der Frage vor dem Erscheinen der Untersuchungen Scherers,
1879.*)

Bereits vor dieser Zeit hatte sich immer mehr die Überzeugung Bahn ge¬
brochen, daß Goethes Faust nicht zu den Kunstwerken gehört, die rein aus sich
selbst erklärbar sind, daß viele schwierige Partien im Faust uns erst dann ver¬
ständlich werden, wenn wir uns vergegenwärtigt haben, in welchen Zeitpunkt
ihre Niederschrift fällt, welche Ereignisse in dem äußern Lebensgange und in
der innern Entwicklung des Dichters auf ihre Entstehung von Einfluß waren.
Namentlich war die Aufmerksamkeit schon darauf hingelenkt, daß unter den Faust¬
szenen, die im Jahre 1790 als Fragment veröffentlicht wurden, der Prolog im
Himmel und die Vertragsszene zwischen Faust und Mephistopheles noch nicht
vorhanden sind, daß diese Szenen, welche das Gefüge der vollendeten Dichtung
zusammenhalten, mit einigen Stellen des Fragments in Widerspruch stehen.
Wer das Fragment für sich allein liest, dem kann es nicht entgehen, daß nach
Goethes ursprünglichem Entwurf offenbar der Erdgeist in ganz andrer Weise,
als dies jetzt der Fall ist, in die Handlung eingreifen sollte; Mephistopheles
sollte als ein Abgesandter des Erdgeistes an Faust herantreten. Wenn man
nun auf Grund dieser Thatsache sich von den ursprünglich vorhandenen, später
jedoch wieder fallen gelassenen Absichten Goethes eine nähere Kenntnis ver¬
schaffen wollte, so mußte vor allen Dingen die Chronologie der einzelnen Szenen



Wilhelm Scherer, Aus Goethes Frühzeit. Straßburg, 1379.
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[0632] Wilhelm Scherer über die Entstehungsgeschichte von Goethes Faust. Ein Beitrag zur Geschichte des literarischen Humbugs. von Wilhelm Lreizenach. n den letzten Jahren ist bekanntlich für Scherers Untersuchungen über die ältesten Bestandteile des Faust das Tamtam der Reklame eifrig in Bewegung gesetzt worden. Da jedoch viele der begeisterten Lobredner vor lauter Entzücken ganz vergaßen, den Leuten aus¬ einanderzusetzen, worin denn eigentlich Scherers Verdienste um das tiefere Verständnis der Faustdichtung bestehen, so wird vielleicht manchem Leser eine kritische Darlegung der Ansichten Scherers nicht unwillkommen sein. Vergegenwärtigen wir uns zu diesem Zwecke zunächst mit ein paar Worten den Stand der Frage vor dem Erscheinen der Untersuchungen Scherers, 1879.*) Bereits vor dieser Zeit hatte sich immer mehr die Überzeugung Bahn ge¬ brochen, daß Goethes Faust nicht zu den Kunstwerken gehört, die rein aus sich selbst erklärbar sind, daß viele schwierige Partien im Faust uns erst dann ver¬ ständlich werden, wenn wir uns vergegenwärtigt haben, in welchen Zeitpunkt ihre Niederschrift fällt, welche Ereignisse in dem äußern Lebensgange und in der innern Entwicklung des Dichters auf ihre Entstehung von Einfluß waren. Namentlich war die Aufmerksamkeit schon darauf hingelenkt, daß unter den Faust¬ szenen, die im Jahre 1790 als Fragment veröffentlicht wurden, der Prolog im Himmel und die Vertragsszene zwischen Faust und Mephistopheles noch nicht vorhanden sind, daß diese Szenen, welche das Gefüge der vollendeten Dichtung zusammenhalten, mit einigen Stellen des Fragments in Widerspruch stehen. Wer das Fragment für sich allein liest, dem kann es nicht entgehen, daß nach Goethes ursprünglichem Entwurf offenbar der Erdgeist in ganz andrer Weise, als dies jetzt der Fall ist, in die Handlung eingreifen sollte; Mephistopheles sollte als ein Abgesandter des Erdgeistes an Faust herantreten. Wenn man nun auf Grund dieser Thatsache sich von den ursprünglich vorhandenen, später jedoch wieder fallen gelassenen Absichten Goethes eine nähere Kenntnis ver¬ schaffen wollte, so mußte vor allen Dingen die Chronologie der einzelnen Szenen Wilhelm Scherer, Aus Goethes Frühzeit. Straßburg, 1379.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/632>, abgerufen am 17.09.2024.