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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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TagebuchblLtter eines Sonntagsphilosophen.

Auge zusammen, aus dem die Täuschung der wirklichen Ente sich ergeben konnte
oder mußte?

Und noch stärker mußte die Wirkung sein bei einem Menschenbilde mit
dem Ausdruck der Seele in Blick und Miene (wie das Cranach gerade so be¬
wundernswürdig vermag), den man vorher ganz aus sich hineintragen mußte.

Aber bei Tieren, wie dort im Altertum von gemalten Weintrauben und
Vögeln erzählt wird? Ich habe doch eine sichere Nachricht von einem Hunde,
der eine gemalte, ziemlich lebensgroße Katze lebhaft anbellte. Gewiß hat jeder
Hund gerade das Bild der Katze, zu der er in einer so wunderbaren ein-
gebornen Beziehung steht, deutlich genug schon in sich selbst, aus vielfachster
Berührung, daß es ihm vor einem guten Katzenbilde ebenso gehen kann, wie
dem Grafen von Schwarzburg vor Cranachs Fasanen u. s. w. Und von reifen
Weinbeeren müssen auch die Staare ein recht deutliches Bild in sich haben (ein
gesehenes und ein geschmecktes), sonst könnten sie sich nicht jährlich auch weiter
her in den Weinbergen sammeln, wenn die Zeit da ist. --

' Nutzanwendung, wenn eine sein soll und etwas weiter greifen darf, viel¬
leicht nicht nötig -- Erstens: wenn uns im Leben unsrer Vorfahren, dem sich
die Neigung nun zuwendet, etwas aufstößt, das die Neigung durchkreuzen will,
weil wir es unverständlich finden oder wohl gar scharf ablehnen müssen, so
thun wir gut, unser Urteil zurückzuhalten und uus zu erinnern, daß das alte
Leben vielfach unter andern innern Gesichtspunkten stand und von andern Ver¬
hältnissen bedingt war, als unsre sind, und daß es jene zu ermitteln gilt. Wie
viel könnte ich davon erzählen, daß etwas, das mich an unsrer Vorzeit ärgerte,
mir durch geduldiges Beobachten nachher zur Freude oder Lehre wurde.

Zweitens: es ist uns recht gesund, dabei inne zu werden, daß auch unser
Standpunkt und unsre Gesichtspunkte von heute keineswegs, wie wir leicht
wähnen, etwas Sicheres, Notwendiges, Abschließendes sind, sondern gar viel
Fragliches, Zufälliges, Werdendes immer noch enthalten, d. h. daß auch sie,
also wir noch auf der Entwicklungslinie stehen, die weiter strebt und die es
zu erkennen gilt, um sie mit Bewußtsein richtig zu lenken; dazu muß man aber
rin verstehenden Übersehen weiter ausholen, ja so weit als möglich. Der kleinere
oder größere Umschwung der allbestimmendeu sogenannten Weltanschauung, der
ungefähr mit dem Auftreten eines neuen Geschlechts zusammentrifft, vollzieht
sich keineswegs in bloßem Fortschritt, sondern oft auch so, daß um eines teil¬
weise guten und richtigen Neuen willen das Kind mit dem Bade ausgeschüttet,
also vom Alten manches abgestoßen wird, was man daneben hätte bewahren
sollen. Der stille Zug der Zeit zum Leben und Denken der Vorfahren zurück,
der sich besonders seit 1870 so vielfach offenbart, ist selbst ein Zeichen davon,
daß das jetzt im gebildeten Bewußtsein sich geltend macht als richtige Fühlung,
vorbereitet durch die Bestrebungen der Romantik, obwohl die Anregung dazu
viel weiter zurückgeht.


TagebuchblLtter eines Sonntagsphilosophen.

Auge zusammen, aus dem die Täuschung der wirklichen Ente sich ergeben konnte
oder mußte?

Und noch stärker mußte die Wirkung sein bei einem Menschenbilde mit
dem Ausdruck der Seele in Blick und Miene (wie das Cranach gerade so be¬
wundernswürdig vermag), den man vorher ganz aus sich hineintragen mußte.

Aber bei Tieren, wie dort im Altertum von gemalten Weintrauben und
Vögeln erzählt wird? Ich habe doch eine sichere Nachricht von einem Hunde,
der eine gemalte, ziemlich lebensgroße Katze lebhaft anbellte. Gewiß hat jeder
Hund gerade das Bild der Katze, zu der er in einer so wunderbaren ein-
gebornen Beziehung steht, deutlich genug schon in sich selbst, aus vielfachster
Berührung, daß es ihm vor einem guten Katzenbilde ebenso gehen kann, wie
dem Grafen von Schwarzburg vor Cranachs Fasanen u. s. w. Und von reifen
Weinbeeren müssen auch die Staare ein recht deutliches Bild in sich haben (ein
gesehenes und ein geschmecktes), sonst könnten sie sich nicht jährlich auch weiter
her in den Weinbergen sammeln, wenn die Zeit da ist. —

' Nutzanwendung, wenn eine sein soll und etwas weiter greifen darf, viel¬
leicht nicht nötig — Erstens: wenn uns im Leben unsrer Vorfahren, dem sich
die Neigung nun zuwendet, etwas aufstößt, das die Neigung durchkreuzen will,
weil wir es unverständlich finden oder wohl gar scharf ablehnen müssen, so
thun wir gut, unser Urteil zurückzuhalten und uus zu erinnern, daß das alte
Leben vielfach unter andern innern Gesichtspunkten stand und von andern Ver¬
hältnissen bedingt war, als unsre sind, und daß es jene zu ermitteln gilt. Wie
viel könnte ich davon erzählen, daß etwas, das mich an unsrer Vorzeit ärgerte,
mir durch geduldiges Beobachten nachher zur Freude oder Lehre wurde.

Zweitens: es ist uns recht gesund, dabei inne zu werden, daß auch unser
Standpunkt und unsre Gesichtspunkte von heute keineswegs, wie wir leicht
wähnen, etwas Sicheres, Notwendiges, Abschließendes sind, sondern gar viel
Fragliches, Zufälliges, Werdendes immer noch enthalten, d. h. daß auch sie,
also wir noch auf der Entwicklungslinie stehen, die weiter strebt und die es
zu erkennen gilt, um sie mit Bewußtsein richtig zu lenken; dazu muß man aber
rin verstehenden Übersehen weiter ausholen, ja so weit als möglich. Der kleinere
oder größere Umschwung der allbestimmendeu sogenannten Weltanschauung, der
ungefähr mit dem Auftreten eines neuen Geschlechts zusammentrifft, vollzieht
sich keineswegs in bloßem Fortschritt, sondern oft auch so, daß um eines teil¬
weise guten und richtigen Neuen willen das Kind mit dem Bade ausgeschüttet,
also vom Alten manches abgestoßen wird, was man daneben hätte bewahren
sollen. Der stille Zug der Zeit zum Leben und Denken der Vorfahren zurück,
der sich besonders seit 1870 so vielfach offenbart, ist selbst ein Zeichen davon,
daß das jetzt im gebildeten Bewußtsein sich geltend macht als richtige Fühlung,
vorbereitet durch die Bestrebungen der Romantik, obwohl die Anregung dazu
viel weiter zurückgeht.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/600>, abgerufen am 17.09.2024.