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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

Gunst und Neigung zuwendet, immer weiter über die gelehrte" Kreise hinaus.
Da gilt es denn auch, so schwer das ist, wieder so denken, empfinden, sehen
zu lernen, wie die Zeit damals dachte, empfand, sah u. s. w. Ganz rein wird
das selten Einer erreichen, vielleicht Keiner, aber schon die Bemühung darum
ist mit einem 'ganz eigentümliche" Genuß verbunden, den genauer zu unter¬
suchen schon der Mühe wert wäre. Der Grund des Genusses scheint mir
wesentlich in dem Gefühl einer Erweiterung und Vertiefung des eignen innern
Lebens zu bestehen; man muß sich dabei seines modernen Selbst, seiner heutigen
Anschauungen und Empfindungen entäußern und gewinnt sich eben daraus doch
bereichert wieder. Diesen Genuß kennt jeder Sammler, ob er nun alte Kupfer¬
stiche und Holzschnitte oder Münzen und Medaillen oder Waffen oder alte
Scherze oder Worte und Wendungen sammelt; er sammelt sich damit zugleich
ein Stück des Lebens der Vorfahren in seiner Breite und Weite und seinem
Werden und Wachsen in die Seele hinein und gewinnt damit für sein eignes
inneres Leben eine Breite und Weite in Zeit und Raum, einen sichern Unter¬
grund, wie sie das bloße Leben in der Gegenwart nicht geben kann, das mehr
auf die Spitze als in die Breite geht. Daher anch die behagliche, ich möchte
sagen breite Ruhe, die mau bei solchen Sammlern gewöhnlich antrifft und mit
der sie auch Andere behaglich beruhigend anhauchen, wenn sie auf ihr Sammeln
zu reden kommen.

Um aber bei dem verschiednen Sehen verschiedner Zeiten und bei den
fraglichen Kunstgeschichtchen zu bleiben, so gälte es hier, sich auf deu Stand
des Kunstsehens zurückzuversetzen, auf dem jener Graf von Schwarzburg stand,
als er Cranachs gemalte wilde Ente sah. Er war wohl in der Entwickelung
seines Kunstangcs hinter den Andern zurückgeblieben, sah vielleicht Cranachsche
Malerei mit ihrem Farbenleben zum erstenmale.

Um den ersten Anlauf zu gewinnen, der uns sehr verwöhnte Leute von
heute in das Gleis des ältesten Kunstsehens zurückbringt, kann man sich an
"usre Kinder wende", sobald man darüber hinweg ist, in ihrem Treiben bloß
Kindisches z" sehen, nicht anch die ersten Äußerungen der reinen Natur, die sich
dann die Cultur nach ihre" geänderten oder gesteigerten Bedürfnissen zurecht
wacht, i" jedem Jahrhundert anders.

Wie spaßhaft sehen uns Erwachsene die Striche an. mit denen ein Kind
sich einen Baum, ein Pferd oder wovon seine kleine, aber lebendige Phantasie
eben voll ist. auf die Schiefertafel entwirft. Das Kind sieht sie doch gar nicht
als Spaß, sondern ganz ernst und befriedigt an. Meint man, daß es eben
nur die Striche so befriedigt steht, die wir allein sehen? Nein, es hat offenbar
außerdem den Baum, das Pferd, wie es sie gesehen hat, noch in sich vor dem
innern Auge und sieht sie sich i" die Striche hinein. Genauer: es hat den
Baum in dem behaltenen Eindruck nun wie zwischen sich und der Schiefertafel
schwebend, und er wird ihm durch die Striche so weit zugleich nach außen ge-


Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

Gunst und Neigung zuwendet, immer weiter über die gelehrte» Kreise hinaus.
Da gilt es denn auch, so schwer das ist, wieder so denken, empfinden, sehen
zu lernen, wie die Zeit damals dachte, empfand, sah u. s. w. Ganz rein wird
das selten Einer erreichen, vielleicht Keiner, aber schon die Bemühung darum
ist mit einem 'ganz eigentümliche» Genuß verbunden, den genauer zu unter¬
suchen schon der Mühe wert wäre. Der Grund des Genusses scheint mir
wesentlich in dem Gefühl einer Erweiterung und Vertiefung des eignen innern
Lebens zu bestehen; man muß sich dabei seines modernen Selbst, seiner heutigen
Anschauungen und Empfindungen entäußern und gewinnt sich eben daraus doch
bereichert wieder. Diesen Genuß kennt jeder Sammler, ob er nun alte Kupfer¬
stiche und Holzschnitte oder Münzen und Medaillen oder Waffen oder alte
Scherze oder Worte und Wendungen sammelt; er sammelt sich damit zugleich
ein Stück des Lebens der Vorfahren in seiner Breite und Weite und seinem
Werden und Wachsen in die Seele hinein und gewinnt damit für sein eignes
inneres Leben eine Breite und Weite in Zeit und Raum, einen sichern Unter¬
grund, wie sie das bloße Leben in der Gegenwart nicht geben kann, das mehr
auf die Spitze als in die Breite geht. Daher anch die behagliche, ich möchte
sagen breite Ruhe, die mau bei solchen Sammlern gewöhnlich antrifft und mit
der sie auch Andere behaglich beruhigend anhauchen, wenn sie auf ihr Sammeln
zu reden kommen.

Um aber bei dem verschiednen Sehen verschiedner Zeiten und bei den
fraglichen Kunstgeschichtchen zu bleiben, so gälte es hier, sich auf deu Stand
des Kunstsehens zurückzuversetzen, auf dem jener Graf von Schwarzburg stand,
als er Cranachs gemalte wilde Ente sah. Er war wohl in der Entwickelung
seines Kunstangcs hinter den Andern zurückgeblieben, sah vielleicht Cranachsche
Malerei mit ihrem Farbenleben zum erstenmale.

Um den ersten Anlauf zu gewinnen, der uns sehr verwöhnte Leute von
heute in das Gleis des ältesten Kunstsehens zurückbringt, kann man sich an
»usre Kinder wende», sobald man darüber hinweg ist, in ihrem Treiben bloß
Kindisches z» sehen, nicht anch die ersten Äußerungen der reinen Natur, die sich
dann die Cultur nach ihre» geänderten oder gesteigerten Bedürfnissen zurecht
wacht, i» jedem Jahrhundert anders.

Wie spaßhaft sehen uns Erwachsene die Striche an. mit denen ein Kind
sich einen Baum, ein Pferd oder wovon seine kleine, aber lebendige Phantasie
eben voll ist. auf die Schiefertafel entwirft. Das Kind sieht sie doch gar nicht
als Spaß, sondern ganz ernst und befriedigt an. Meint man, daß es eben
nur die Striche so befriedigt steht, die wir allein sehen? Nein, es hat offenbar
außerdem den Baum, das Pferd, wie es sie gesehen hat, noch in sich vor dem
innern Auge und sieht sie sich i» die Striche hinein. Genauer: es hat den
Baum in dem behaltenen Eindruck nun wie zwischen sich und der Schiefertafel
schwebend, und er wird ihm durch die Striche so weit zugleich nach außen ge-


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[0597] Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen. Gunst und Neigung zuwendet, immer weiter über die gelehrte» Kreise hinaus. Da gilt es denn auch, so schwer das ist, wieder so denken, empfinden, sehen zu lernen, wie die Zeit damals dachte, empfand, sah u. s. w. Ganz rein wird das selten Einer erreichen, vielleicht Keiner, aber schon die Bemühung darum ist mit einem 'ganz eigentümliche» Genuß verbunden, den genauer zu unter¬ suchen schon der Mühe wert wäre. Der Grund des Genusses scheint mir wesentlich in dem Gefühl einer Erweiterung und Vertiefung des eignen innern Lebens zu bestehen; man muß sich dabei seines modernen Selbst, seiner heutigen Anschauungen und Empfindungen entäußern und gewinnt sich eben daraus doch bereichert wieder. Diesen Genuß kennt jeder Sammler, ob er nun alte Kupfer¬ stiche und Holzschnitte oder Münzen und Medaillen oder Waffen oder alte Scherze oder Worte und Wendungen sammelt; er sammelt sich damit zugleich ein Stück des Lebens der Vorfahren in seiner Breite und Weite und seinem Werden und Wachsen in die Seele hinein und gewinnt damit für sein eignes inneres Leben eine Breite und Weite in Zeit und Raum, einen sichern Unter¬ grund, wie sie das bloße Leben in der Gegenwart nicht geben kann, das mehr auf die Spitze als in die Breite geht. Daher anch die behagliche, ich möchte sagen breite Ruhe, die mau bei solchen Sammlern gewöhnlich antrifft und mit der sie auch Andere behaglich beruhigend anhauchen, wenn sie auf ihr Sammeln zu reden kommen. Um aber bei dem verschiednen Sehen verschiedner Zeiten und bei den fraglichen Kunstgeschichtchen zu bleiben, so gälte es hier, sich auf deu Stand des Kunstsehens zurückzuversetzen, auf dem jener Graf von Schwarzburg stand, als er Cranachs gemalte wilde Ente sah. Er war wohl in der Entwickelung seines Kunstangcs hinter den Andern zurückgeblieben, sah vielleicht Cranachsche Malerei mit ihrem Farbenleben zum erstenmale. Um den ersten Anlauf zu gewinnen, der uns sehr verwöhnte Leute von heute in das Gleis des ältesten Kunstsehens zurückbringt, kann man sich an »usre Kinder wende», sobald man darüber hinweg ist, in ihrem Treiben bloß Kindisches z» sehen, nicht anch die ersten Äußerungen der reinen Natur, die sich dann die Cultur nach ihre» geänderten oder gesteigerten Bedürfnissen zurecht wacht, i» jedem Jahrhundert anders. Wie spaßhaft sehen uns Erwachsene die Striche an. mit denen ein Kind sich einen Baum, ein Pferd oder wovon seine kleine, aber lebendige Phantasie eben voll ist. auf die Schiefertafel entwirft. Das Kind sieht sie doch gar nicht als Spaß, sondern ganz ernst und befriedigt an. Meint man, daß es eben nur die Striche so befriedigt steht, die wir allein sehen? Nein, es hat offenbar außerdem den Baum, das Pferd, wie es sie gesehen hat, noch in sich vor dem innern Auge und sieht sie sich i» die Striche hinein. Genauer: es hat den Baum in dem behaltenen Eindruck nun wie zwischen sich und der Schiefertafel schwebend, und er wird ihm durch die Striche so weit zugleich nach außen ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/597>, abgerufen am 17.09.2024.