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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Das britische Weltreich und seine Aussichten.

im Süden und Südosten der europäischen Hälfte des Reiches, ans dem Pontus,
dem kaukasischen Isthmus, der Wolga und dem Kaspischen Meere wird es dann
möglich sein, im Verlaufe von etwa drei Wochen 40- bis 50000 russische Sol¬
daten mit den nötigen Pferden, Geschützen und Vorräten an Munition und
Proviant nach den wichtigsten Punkten an der Nordgrenze Afghanistans zu
befördern, wo sich jetzt schou nicht unerhebliche Streitkräfte befinden. Auf dem
Schwarzen Meere erreichen die entfernt stehenden Truppenkörper Poli und
Batna auf Dampfschiffen nach achtundvierzig Stunden, in der Hälfte dieser
Zeit können sie auf der Eisenbahn nach Baku geschafft werden, und abermals
in vierundzwanzig Stunden lassen sie sich, wieder auf Dampfern, an denen es
hier nicht mangelt, über das Kaspische Meere nach Usur Ada transportiren, wo
die Transkaspi-Bahn sie aufnimmt, um sie durch die Turkinenenwüste nach der
Oase Merw zu bringen. Diese ist 101 Quadratkilometer groß, vom Margab
bewässert und reich an Vieh für den Bedarf eines Heeres, dessen Reiterei sich
hier und in Russisch-Afghanistan durch Geschwader einer turkmenischen Miliz
beträchtlich verstärken würde. Stören ließe sich dieser Anmarsch nur auf dem
Schwarzen Meere, wenn die Pforte einer englischen Flotte die Durchfahrt durch
die Dardanellen und den Bosporus gestattet hätte. Der Kaukasus ist ebenso
sicher als das Kaspische Meer und die weitere Linie der Offensive gegen Herat,
da Persien, in seinem ganzen Norden von Nußland umfaßt, nicht wagen könnte,
sich mit England zu verbünden und den vordringenden Kolonnen der Armee
des Zaren von Chomssan her in die Flanke zu fallen. Vom russischen Afgha¬
nistan, zwischen dem Margab und Harirud, würde jenes Heer, wenn sein Be¬
fehlshaber es nicht vorzöge, über Chodscha Sales und Balkh unmittelbar in
das Herz von Afghanistan vorrücken oder weiter östlich durch Senkungen im Ge¬
birge dieses zu umgehen, höchstens eine Woche bis nach Herat marschiren, das in
einer reichgesegnetcn Gegend mit fünfhundert wohlhabenden Dörfern liegt, und
dessen Festungswerke zwar in der letzten Zeit durch englische Ingenieure verbessert
worden sind und eine starke, mit Hinterladern und modernen Geschützen ausgerüstete
afghanische Garnison einschließen, einer russischen Belagerung aber nicht lauge
widerstehen würden, da die Stadt von den benachbarten Höhen beherrscht wird
und der unförmlichen viereckigen Masse jede Flcmkiruug fehlt. Dann aber
stünde den Russen die Pforte zum Einmärsche nach Afghanistan offen.

Sehr übel ist dem gegenüber die Lage der Engländer, wenn sie Herat mit
einer Armee gegen die Russen verteidigen wollten. Die Vortruppen der letzteren,
Reiterei und leichte Artillerie, können von der russische" Grenze in vier, das
Gros kann in sieben Tagen vor den Mauern der Stadt erscheinen. Ein eng¬
lisches Heer von 50- bis 60 000 Mann dagegen würde von Pischin und Quella
aus selbst in Gewaltmärschen dort erst nach Verlauf von sechs Wochen ein¬
treffen, und mehr als 70 000 Mann könnte England nicht hierher werfen, da
seine ostindische Armee nur 210000 -- 70000 Europäer und 150000 Sea-


Das britische Weltreich und seine Aussichten.

im Süden und Südosten der europäischen Hälfte des Reiches, ans dem Pontus,
dem kaukasischen Isthmus, der Wolga und dem Kaspischen Meere wird es dann
möglich sein, im Verlaufe von etwa drei Wochen 40- bis 50000 russische Sol¬
daten mit den nötigen Pferden, Geschützen und Vorräten an Munition und
Proviant nach den wichtigsten Punkten an der Nordgrenze Afghanistans zu
befördern, wo sich jetzt schou nicht unerhebliche Streitkräfte befinden. Auf dem
Schwarzen Meere erreichen die entfernt stehenden Truppenkörper Poli und
Batna auf Dampfschiffen nach achtundvierzig Stunden, in der Hälfte dieser
Zeit können sie auf der Eisenbahn nach Baku geschafft werden, und abermals
in vierundzwanzig Stunden lassen sie sich, wieder auf Dampfern, an denen es
hier nicht mangelt, über das Kaspische Meere nach Usur Ada transportiren, wo
die Transkaspi-Bahn sie aufnimmt, um sie durch die Turkinenenwüste nach der
Oase Merw zu bringen. Diese ist 101 Quadratkilometer groß, vom Margab
bewässert und reich an Vieh für den Bedarf eines Heeres, dessen Reiterei sich
hier und in Russisch-Afghanistan durch Geschwader einer turkmenischen Miliz
beträchtlich verstärken würde. Stören ließe sich dieser Anmarsch nur auf dem
Schwarzen Meere, wenn die Pforte einer englischen Flotte die Durchfahrt durch
die Dardanellen und den Bosporus gestattet hätte. Der Kaukasus ist ebenso
sicher als das Kaspische Meer und die weitere Linie der Offensive gegen Herat,
da Persien, in seinem ganzen Norden von Nußland umfaßt, nicht wagen könnte,
sich mit England zu verbünden und den vordringenden Kolonnen der Armee
des Zaren von Chomssan her in die Flanke zu fallen. Vom russischen Afgha¬
nistan, zwischen dem Margab und Harirud, würde jenes Heer, wenn sein Be¬
fehlshaber es nicht vorzöge, über Chodscha Sales und Balkh unmittelbar in
das Herz von Afghanistan vorrücken oder weiter östlich durch Senkungen im Ge¬
birge dieses zu umgehen, höchstens eine Woche bis nach Herat marschiren, das in
einer reichgesegnetcn Gegend mit fünfhundert wohlhabenden Dörfern liegt, und
dessen Festungswerke zwar in der letzten Zeit durch englische Ingenieure verbessert
worden sind und eine starke, mit Hinterladern und modernen Geschützen ausgerüstete
afghanische Garnison einschließen, einer russischen Belagerung aber nicht lauge
widerstehen würden, da die Stadt von den benachbarten Höhen beherrscht wird
und der unförmlichen viereckigen Masse jede Flcmkiruug fehlt. Dann aber
stünde den Russen die Pforte zum Einmärsche nach Afghanistan offen.

Sehr übel ist dem gegenüber die Lage der Engländer, wenn sie Herat mit
einer Armee gegen die Russen verteidigen wollten. Die Vortruppen der letzteren,
Reiterei und leichte Artillerie, können von der russische« Grenze in vier, das
Gros kann in sieben Tagen vor den Mauern der Stadt erscheinen. Ein eng¬
lisches Heer von 50- bis 60 000 Mann dagegen würde von Pischin und Quella
aus selbst in Gewaltmärschen dort erst nach Verlauf von sechs Wochen ein¬
treffen, und mehr als 70 000 Mann könnte England nicht hierher werfen, da
seine ostindische Armee nur 210000 — 70000 Europäer und 150000 Sea-


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[0562] Das britische Weltreich und seine Aussichten. im Süden und Südosten der europäischen Hälfte des Reiches, ans dem Pontus, dem kaukasischen Isthmus, der Wolga und dem Kaspischen Meere wird es dann möglich sein, im Verlaufe von etwa drei Wochen 40- bis 50000 russische Sol¬ daten mit den nötigen Pferden, Geschützen und Vorräten an Munition und Proviant nach den wichtigsten Punkten an der Nordgrenze Afghanistans zu befördern, wo sich jetzt schou nicht unerhebliche Streitkräfte befinden. Auf dem Schwarzen Meere erreichen die entfernt stehenden Truppenkörper Poli und Batna auf Dampfschiffen nach achtundvierzig Stunden, in der Hälfte dieser Zeit können sie auf der Eisenbahn nach Baku geschafft werden, und abermals in vierundzwanzig Stunden lassen sie sich, wieder auf Dampfern, an denen es hier nicht mangelt, über das Kaspische Meere nach Usur Ada transportiren, wo die Transkaspi-Bahn sie aufnimmt, um sie durch die Turkinenenwüste nach der Oase Merw zu bringen. Diese ist 101 Quadratkilometer groß, vom Margab bewässert und reich an Vieh für den Bedarf eines Heeres, dessen Reiterei sich hier und in Russisch-Afghanistan durch Geschwader einer turkmenischen Miliz beträchtlich verstärken würde. Stören ließe sich dieser Anmarsch nur auf dem Schwarzen Meere, wenn die Pforte einer englischen Flotte die Durchfahrt durch die Dardanellen und den Bosporus gestattet hätte. Der Kaukasus ist ebenso sicher als das Kaspische Meer und die weitere Linie der Offensive gegen Herat, da Persien, in seinem ganzen Norden von Nußland umfaßt, nicht wagen könnte, sich mit England zu verbünden und den vordringenden Kolonnen der Armee des Zaren von Chomssan her in die Flanke zu fallen. Vom russischen Afgha¬ nistan, zwischen dem Margab und Harirud, würde jenes Heer, wenn sein Be¬ fehlshaber es nicht vorzöge, über Chodscha Sales und Balkh unmittelbar in das Herz von Afghanistan vorrücken oder weiter östlich durch Senkungen im Ge¬ birge dieses zu umgehen, höchstens eine Woche bis nach Herat marschiren, das in einer reichgesegnetcn Gegend mit fünfhundert wohlhabenden Dörfern liegt, und dessen Festungswerke zwar in der letzten Zeit durch englische Ingenieure verbessert worden sind und eine starke, mit Hinterladern und modernen Geschützen ausgerüstete afghanische Garnison einschließen, einer russischen Belagerung aber nicht lauge widerstehen würden, da die Stadt von den benachbarten Höhen beherrscht wird und der unförmlichen viereckigen Masse jede Flcmkiruug fehlt. Dann aber stünde den Russen die Pforte zum Einmärsche nach Afghanistan offen. Sehr übel ist dem gegenüber die Lage der Engländer, wenn sie Herat mit einer Armee gegen die Russen verteidigen wollten. Die Vortruppen der letzteren, Reiterei und leichte Artillerie, können von der russische« Grenze in vier, das Gros kann in sieben Tagen vor den Mauern der Stadt erscheinen. Ein eng¬ lisches Heer von 50- bis 60 000 Mann dagegen würde von Pischin und Quella aus selbst in Gewaltmärschen dort erst nach Verlauf von sechs Wochen ein¬ treffen, und mehr als 70 000 Mann könnte England nicht hierher werfen, da seine ostindische Armee nur 210000 — 70000 Europäer und 150000 Sea-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/562>, abgerufen am 17.09.2024.