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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Russische Skizzen.

Gestade leben die Sommergäste, meist Kronstädter, wenige Petersburger, ein
idyllisch-traumhaftes Dasein. Sie wissen, daß Lebjaschje für keine Nachricht
irgendwelcher Art auf dem sonst üblichen Wege zu erreichen^ ist, denn', es giebt
hier weder Post noch Telegraphen noch Zeitungen. Nur dreimal in der Woche
entsteht eine gewisse Aufregung, an den Tagen nämlich, an denen der Lootsen-
dampfer von Kronstäbe herüberkommt und die auch während der Sommer¬
monate an die heiße Stadt gefesselten Familienvater mit zahlreichen Leuten aus
den benachbarten Dörfern herüberbringt. Gewöhnlich ist das eine anderthalb-
stündige ruhige Fahrt; wenn aber starker Westwind anhaltend weht, die Wellen
des finnischen Meerbusens brüllend gegen die mächtigen Granitmolen des Handels¬
hafens von Kronstäbe schlagen, dann tanzt das offne Fahrzeug wie eine Nu߬
schale an den schwarzen Kolossen der Kriegsmarine vorüber, die draußen vor
Anker liegen, schweigend, unbeweglich, und die Spritzwellen schießen beständig
über seine ganze Länge hinweg. Kommt die Rauchsäule des Schiffchens in
Sicht, daun sammelt sich die ganze Sommerkolonie lange vor der möglichen
Ankunft am Landungssteg, unternehmendere Gemüter wagen wohl auch auf
kleinem Segelboot die Fahrt nach dem Hafen, um deu Erwarteten gleich dort
in Empfang zu nehmen mit all den Herrlichkeiten der Kulturwelt, die er mit¬
bringt. So vergeht ein Tag um deu andern in behaglichem Nichtsthun; es
gehört schon ein gewisser Entschluß dazu, einen Spaziergang zu unternehmen,
denn den größten Teil des Tages ist es landeinwärts sehr heiß, erst die Abende
bringen Kühle, und herrlich ist die laue, späte, helle Sommernacht.

Und doch, wer an fremder Volksart Interesse hat, der wird gelegentlich
vielleicht sogar einer Teljega sich anvertrauen, um etwas mehr von Land und
Leuten zu sehen, als diesen bescheidnen Ort, denn in diesem Ingermannland ist
fast nichts von abendländischer Kultur; seine Verhältnisse wirken zunächst so
fremdartig, daß mau glauben könnte, man sei um ein paar Jahrhunderte zurück¬
versetzt. Aber eben deshalb lernt der Westeuropäer hier in kleinem Umkreise
nicht nur von den Eigentümlichkeiten des russischen Reiches, sondern auch über
altere Entwicklungsstufen der menschlichen Kultur vielleicht mehr als ans ein
Paar Dutzend Büchern. Das ganze Land ist auf viele Meilen landeinwärts
und selbst längs der fast hafenloscn Küste ein ungeheures Wald- und Sumpf¬
gebiet, spärlich unterbrochen von den Wohnstätten der Menschen, die nur wie
kleine Lichtungen im Walde liegen. Nur längs der Küste nach Westen hin
und in dem Thale eines westöstlich verlaufenden Flusses folgen sie etwas dichter.
Doch "ach diese", zu gelangen ist auf geradem Wege nur im harten Winter
möglich, im Sommer hemmen undurchdringliche Sümpfe. Es ist überhaupt
für den nicht genau der Gegend kundigen nicht geraten, aufs Geratewohl im
Walde sich zu ergehen; die Wege sehen einer aus wie der andre, Wegweiser
schien, und es kann auch wohl kommen, daß der Pfad einfach aufhört oder
in eine weiche, grasige Fläche verläuft, die anfangs ein Bruch ist und


Russische Skizzen.

Gestade leben die Sommergäste, meist Kronstädter, wenige Petersburger, ein
idyllisch-traumhaftes Dasein. Sie wissen, daß Lebjaschje für keine Nachricht
irgendwelcher Art auf dem sonst üblichen Wege zu erreichen^ ist, denn', es giebt
hier weder Post noch Telegraphen noch Zeitungen. Nur dreimal in der Woche
entsteht eine gewisse Aufregung, an den Tagen nämlich, an denen der Lootsen-
dampfer von Kronstäbe herüberkommt und die auch während der Sommer¬
monate an die heiße Stadt gefesselten Familienvater mit zahlreichen Leuten aus
den benachbarten Dörfern herüberbringt. Gewöhnlich ist das eine anderthalb-
stündige ruhige Fahrt; wenn aber starker Westwind anhaltend weht, die Wellen
des finnischen Meerbusens brüllend gegen die mächtigen Granitmolen des Handels¬
hafens von Kronstäbe schlagen, dann tanzt das offne Fahrzeug wie eine Nu߬
schale an den schwarzen Kolossen der Kriegsmarine vorüber, die draußen vor
Anker liegen, schweigend, unbeweglich, und die Spritzwellen schießen beständig
über seine ganze Länge hinweg. Kommt die Rauchsäule des Schiffchens in
Sicht, daun sammelt sich die ganze Sommerkolonie lange vor der möglichen
Ankunft am Landungssteg, unternehmendere Gemüter wagen wohl auch auf
kleinem Segelboot die Fahrt nach dem Hafen, um deu Erwarteten gleich dort
in Empfang zu nehmen mit all den Herrlichkeiten der Kulturwelt, die er mit¬
bringt. So vergeht ein Tag um deu andern in behaglichem Nichtsthun; es
gehört schon ein gewisser Entschluß dazu, einen Spaziergang zu unternehmen,
denn den größten Teil des Tages ist es landeinwärts sehr heiß, erst die Abende
bringen Kühle, und herrlich ist die laue, späte, helle Sommernacht.

Und doch, wer an fremder Volksart Interesse hat, der wird gelegentlich
vielleicht sogar einer Teljega sich anvertrauen, um etwas mehr von Land und
Leuten zu sehen, als diesen bescheidnen Ort, denn in diesem Ingermannland ist
fast nichts von abendländischer Kultur; seine Verhältnisse wirken zunächst so
fremdartig, daß mau glauben könnte, man sei um ein paar Jahrhunderte zurück¬
versetzt. Aber eben deshalb lernt der Westeuropäer hier in kleinem Umkreise
nicht nur von den Eigentümlichkeiten des russischen Reiches, sondern auch über
altere Entwicklungsstufen der menschlichen Kultur vielleicht mehr als ans ein
Paar Dutzend Büchern. Das ganze Land ist auf viele Meilen landeinwärts
und selbst längs der fast hafenloscn Küste ein ungeheures Wald- und Sumpf¬
gebiet, spärlich unterbrochen von den Wohnstätten der Menschen, die nur wie
kleine Lichtungen im Walde liegen. Nur längs der Küste nach Westen hin
und in dem Thale eines westöstlich verlaufenden Flusses folgen sie etwas dichter.
Doch „ach diese», zu gelangen ist auf geradem Wege nur im harten Winter
möglich, im Sommer hemmen undurchdringliche Sümpfe. Es ist überhaupt
für den nicht genau der Gegend kundigen nicht geraten, aufs Geratewohl im
Walde sich zu ergehen; die Wege sehen einer aus wie der andre, Wegweiser
schien, und es kann auch wohl kommen, daß der Pfad einfach aufhört oder
in eine weiche, grasige Fläche verläuft, die anfangs ein Bruch ist und


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[0547] Russische Skizzen. Gestade leben die Sommergäste, meist Kronstädter, wenige Petersburger, ein idyllisch-traumhaftes Dasein. Sie wissen, daß Lebjaschje für keine Nachricht irgendwelcher Art auf dem sonst üblichen Wege zu erreichen^ ist, denn', es giebt hier weder Post noch Telegraphen noch Zeitungen. Nur dreimal in der Woche entsteht eine gewisse Aufregung, an den Tagen nämlich, an denen der Lootsen- dampfer von Kronstäbe herüberkommt und die auch während der Sommer¬ monate an die heiße Stadt gefesselten Familienvater mit zahlreichen Leuten aus den benachbarten Dörfern herüberbringt. Gewöhnlich ist das eine anderthalb- stündige ruhige Fahrt; wenn aber starker Westwind anhaltend weht, die Wellen des finnischen Meerbusens brüllend gegen die mächtigen Granitmolen des Handels¬ hafens von Kronstäbe schlagen, dann tanzt das offne Fahrzeug wie eine Nu߬ schale an den schwarzen Kolossen der Kriegsmarine vorüber, die draußen vor Anker liegen, schweigend, unbeweglich, und die Spritzwellen schießen beständig über seine ganze Länge hinweg. Kommt die Rauchsäule des Schiffchens in Sicht, daun sammelt sich die ganze Sommerkolonie lange vor der möglichen Ankunft am Landungssteg, unternehmendere Gemüter wagen wohl auch auf kleinem Segelboot die Fahrt nach dem Hafen, um deu Erwarteten gleich dort in Empfang zu nehmen mit all den Herrlichkeiten der Kulturwelt, die er mit¬ bringt. So vergeht ein Tag um deu andern in behaglichem Nichtsthun; es gehört schon ein gewisser Entschluß dazu, einen Spaziergang zu unternehmen, denn den größten Teil des Tages ist es landeinwärts sehr heiß, erst die Abende bringen Kühle, und herrlich ist die laue, späte, helle Sommernacht. Und doch, wer an fremder Volksart Interesse hat, der wird gelegentlich vielleicht sogar einer Teljega sich anvertrauen, um etwas mehr von Land und Leuten zu sehen, als diesen bescheidnen Ort, denn in diesem Ingermannland ist fast nichts von abendländischer Kultur; seine Verhältnisse wirken zunächst so fremdartig, daß mau glauben könnte, man sei um ein paar Jahrhunderte zurück¬ versetzt. Aber eben deshalb lernt der Westeuropäer hier in kleinem Umkreise nicht nur von den Eigentümlichkeiten des russischen Reiches, sondern auch über altere Entwicklungsstufen der menschlichen Kultur vielleicht mehr als ans ein Paar Dutzend Büchern. Das ganze Land ist auf viele Meilen landeinwärts und selbst längs der fast hafenloscn Küste ein ungeheures Wald- und Sumpf¬ gebiet, spärlich unterbrochen von den Wohnstätten der Menschen, die nur wie kleine Lichtungen im Walde liegen. Nur längs der Küste nach Westen hin und in dem Thale eines westöstlich verlaufenden Flusses folgen sie etwas dichter. Doch „ach diese», zu gelangen ist auf geradem Wege nur im harten Winter möglich, im Sommer hemmen undurchdringliche Sümpfe. Es ist überhaupt für den nicht genau der Gegend kundigen nicht geraten, aufs Geratewohl im Walde sich zu ergehen; die Wege sehen einer aus wie der andre, Wegweiser schien, und es kann auch wohl kommen, daß der Pfad einfach aufhört oder in eine weiche, grasige Fläche verläuft, die anfangs ein Bruch ist und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/547>, abgerufen am 17.09.2024.