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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

gebende Zeitgeist, dieser wahre Herr und Gebieter der Geister in ihrer Menge,
eine entschiedene Abneigung bekundet, als müßte die Erhebung allemal in eine
bittere Täuschung, in einen Sturz ausgehen, wie einst dem Ikarus -- ein ganz
wichtiges Kapitel vom Stand des heutigen Zeitgeistes. Diese Abneigung, die
in mannichfaltigster Weise zu Tage tritt, kommt wohl daher, daß man sich in
der Zeit unsrer Väter oder Großväter in der Geisteswelt oft zu hoch hatte
schwingen wollen oder zu rasch und ungeduldig in die Höhe strebte. Das hat
dann Enttäuschungen, ja Schmerzen zur Folge gehabt, welche nun die Höhe
selbst büßen muß, die doch daran unschuldig ist; man kann sie sich als für uns
bestimmte Stelle denken, die nun an Leere leidet und auf uns wartet. Aber
wir selber büßen die Trennung auch und am meisten, denn ich für mich zweifle
nicht, durch eigne Erfahrung belehrt, daß die nervöse Unruhe und Unbefriedigung
der Zeit, auf deren Heilung so viele denken, mit jener Scheu vor Erhebung
aufs engste zusammenhängt und durch ein gesundes Erheben über die sich ewig
rastlos um uns und in uns drehende Welt der Dinge im ganzen wie im ein¬
zelnen Falle am besten zu heilen wäre. Wir müssen die Verlorne überschauende
Höhe wiedergewinnen im Ganzen der Geisteswelt, wie in den Einzelgeistern, nur
nicht im Fluge wie damals, sondern mit sichern Schritten auf festem Boden,
durch stetiges, geduldiges und -- was die Hauptsache ist -- gemeinsames Fort¬
schreiten, das aber zugleich ein Aufsteigen sein muß, oder vielmehr von selbst
dazu wird, ein Aufsteigen, bei dem denn auch jede Möglichkeit eines Sturzes
fortan ausgeschlossen ist. Das Altertum ist auf den Wegen, die sich jetzt so
viele vom Zeitgeist führen lassen, auch solche, die selbst als Führer auftreten,
zu Grunde gegangen. Wir aber sind doch im ganzen im Aufsteigen, kann das
nach 1870 noch zweifelhaft sei"? Und wenn so im Politischen, warum nicht
auch im Geistigen, von dem doch jenes auch nur eine Erscheinung ist? Ansätze
und Anregungen dazu zeigen sich ja auch schon an vielen Stellen unsrer Welt
in bester und erfahrenster Weise; wie nimmt aber die Bühne daran Teil?

Sicher wäre es richtig, wenn für die neue, gesunde Bewegung nach der
Verlornen Höhe die Bühne die Führung in die Hand nähme. Sie ist ja schon
mehrmals die Ftthrerin der Gesamtbewegung der Nation nach ihren Zielen ge¬
wesen seit dem fünfzehnten, sechzehnten Jahrhundert, und auch Wagners gro߬
bewußtes Ziel war kein andres. Aber Aufregung, nervöse und sinnliche, die
man ihm nach dem grellen Zeugnis oben nachrühmen kann, was ums Himmels
willen soll die fördern? Sie trägt ja in ihrem Namen schon das Krankhafte
an sich. Damit gerät der Fluß der Bewegung in Stauung oder vielmehr in
Wirbel, wo die Wellen sich und was sie zum Ziele tragen sollen, dem Abgrund
zudrehen. Denke niemand, daß das etwa einer von den Ruhephilistern schreibt,
die vor großer Bewegung zurückscheuen. Im Gegenteil, große, größte Bewegung
ist mir gerade recht, ich suche sie und kenne sie genug als bestes Förderungs¬
mittel, auch als bestes Mittel, das Feste in uns, das unser Kern sein oder


Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

gebende Zeitgeist, dieser wahre Herr und Gebieter der Geister in ihrer Menge,
eine entschiedene Abneigung bekundet, als müßte die Erhebung allemal in eine
bittere Täuschung, in einen Sturz ausgehen, wie einst dem Ikarus — ein ganz
wichtiges Kapitel vom Stand des heutigen Zeitgeistes. Diese Abneigung, die
in mannichfaltigster Weise zu Tage tritt, kommt wohl daher, daß man sich in
der Zeit unsrer Väter oder Großväter in der Geisteswelt oft zu hoch hatte
schwingen wollen oder zu rasch und ungeduldig in die Höhe strebte. Das hat
dann Enttäuschungen, ja Schmerzen zur Folge gehabt, welche nun die Höhe
selbst büßen muß, die doch daran unschuldig ist; man kann sie sich als für uns
bestimmte Stelle denken, die nun an Leere leidet und auf uns wartet. Aber
wir selber büßen die Trennung auch und am meisten, denn ich für mich zweifle
nicht, durch eigne Erfahrung belehrt, daß die nervöse Unruhe und Unbefriedigung
der Zeit, auf deren Heilung so viele denken, mit jener Scheu vor Erhebung
aufs engste zusammenhängt und durch ein gesundes Erheben über die sich ewig
rastlos um uns und in uns drehende Welt der Dinge im ganzen wie im ein¬
zelnen Falle am besten zu heilen wäre. Wir müssen die Verlorne überschauende
Höhe wiedergewinnen im Ganzen der Geisteswelt, wie in den Einzelgeistern, nur
nicht im Fluge wie damals, sondern mit sichern Schritten auf festem Boden,
durch stetiges, geduldiges und — was die Hauptsache ist — gemeinsames Fort¬
schreiten, das aber zugleich ein Aufsteigen sein muß, oder vielmehr von selbst
dazu wird, ein Aufsteigen, bei dem denn auch jede Möglichkeit eines Sturzes
fortan ausgeschlossen ist. Das Altertum ist auf den Wegen, die sich jetzt so
viele vom Zeitgeist führen lassen, auch solche, die selbst als Führer auftreten,
zu Grunde gegangen. Wir aber sind doch im ganzen im Aufsteigen, kann das
nach 1870 noch zweifelhaft sei»? Und wenn so im Politischen, warum nicht
auch im Geistigen, von dem doch jenes auch nur eine Erscheinung ist? Ansätze
und Anregungen dazu zeigen sich ja auch schon an vielen Stellen unsrer Welt
in bester und erfahrenster Weise; wie nimmt aber die Bühne daran Teil?

Sicher wäre es richtig, wenn für die neue, gesunde Bewegung nach der
Verlornen Höhe die Bühne die Führung in die Hand nähme. Sie ist ja schon
mehrmals die Ftthrerin der Gesamtbewegung der Nation nach ihren Zielen ge¬
wesen seit dem fünfzehnten, sechzehnten Jahrhundert, und auch Wagners gro߬
bewußtes Ziel war kein andres. Aber Aufregung, nervöse und sinnliche, die
man ihm nach dem grellen Zeugnis oben nachrühmen kann, was ums Himmels
willen soll die fördern? Sie trägt ja in ihrem Namen schon das Krankhafte
an sich. Damit gerät der Fluß der Bewegung in Stauung oder vielmehr in
Wirbel, wo die Wellen sich und was sie zum Ziele tragen sollen, dem Abgrund
zudrehen. Denke niemand, daß das etwa einer von den Ruhephilistern schreibt,
die vor großer Bewegung zurückscheuen. Im Gegenteil, große, größte Bewegung
ist mir gerade recht, ich suche sie und kenne sie genug als bestes Förderungs¬
mittel, auch als bestes Mittel, das Feste in uns, das unser Kern sein oder


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[0536] Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen. gebende Zeitgeist, dieser wahre Herr und Gebieter der Geister in ihrer Menge, eine entschiedene Abneigung bekundet, als müßte die Erhebung allemal in eine bittere Täuschung, in einen Sturz ausgehen, wie einst dem Ikarus — ein ganz wichtiges Kapitel vom Stand des heutigen Zeitgeistes. Diese Abneigung, die in mannichfaltigster Weise zu Tage tritt, kommt wohl daher, daß man sich in der Zeit unsrer Väter oder Großväter in der Geisteswelt oft zu hoch hatte schwingen wollen oder zu rasch und ungeduldig in die Höhe strebte. Das hat dann Enttäuschungen, ja Schmerzen zur Folge gehabt, welche nun die Höhe selbst büßen muß, die doch daran unschuldig ist; man kann sie sich als für uns bestimmte Stelle denken, die nun an Leere leidet und auf uns wartet. Aber wir selber büßen die Trennung auch und am meisten, denn ich für mich zweifle nicht, durch eigne Erfahrung belehrt, daß die nervöse Unruhe und Unbefriedigung der Zeit, auf deren Heilung so viele denken, mit jener Scheu vor Erhebung aufs engste zusammenhängt und durch ein gesundes Erheben über die sich ewig rastlos um uns und in uns drehende Welt der Dinge im ganzen wie im ein¬ zelnen Falle am besten zu heilen wäre. Wir müssen die Verlorne überschauende Höhe wiedergewinnen im Ganzen der Geisteswelt, wie in den Einzelgeistern, nur nicht im Fluge wie damals, sondern mit sichern Schritten auf festem Boden, durch stetiges, geduldiges und — was die Hauptsache ist — gemeinsames Fort¬ schreiten, das aber zugleich ein Aufsteigen sein muß, oder vielmehr von selbst dazu wird, ein Aufsteigen, bei dem denn auch jede Möglichkeit eines Sturzes fortan ausgeschlossen ist. Das Altertum ist auf den Wegen, die sich jetzt so viele vom Zeitgeist führen lassen, auch solche, die selbst als Führer auftreten, zu Grunde gegangen. Wir aber sind doch im ganzen im Aufsteigen, kann das nach 1870 noch zweifelhaft sei»? Und wenn so im Politischen, warum nicht auch im Geistigen, von dem doch jenes auch nur eine Erscheinung ist? Ansätze und Anregungen dazu zeigen sich ja auch schon an vielen Stellen unsrer Welt in bester und erfahrenster Weise; wie nimmt aber die Bühne daran Teil? Sicher wäre es richtig, wenn für die neue, gesunde Bewegung nach der Verlornen Höhe die Bühne die Führung in die Hand nähme. Sie ist ja schon mehrmals die Ftthrerin der Gesamtbewegung der Nation nach ihren Zielen ge¬ wesen seit dem fünfzehnten, sechzehnten Jahrhundert, und auch Wagners gro߬ bewußtes Ziel war kein andres. Aber Aufregung, nervöse und sinnliche, die man ihm nach dem grellen Zeugnis oben nachrühmen kann, was ums Himmels willen soll die fördern? Sie trägt ja in ihrem Namen schon das Krankhafte an sich. Damit gerät der Fluß der Bewegung in Stauung oder vielmehr in Wirbel, wo die Wellen sich und was sie zum Ziele tragen sollen, dem Abgrund zudrehen. Denke niemand, daß das etwa einer von den Ruhephilistern schreibt, die vor großer Bewegung zurückscheuen. Im Gegenteil, große, größte Bewegung ist mir gerade recht, ich suche sie und kenne sie genug als bestes Förderungs¬ mittel, auch als bestes Mittel, das Feste in uns, das unser Kern sein oder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/536>, abgerufen am 17.09.2024.