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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Jugenderinnerungen.

Mensch, nicht einmal ein Handwerker -- und diese waren entschieden die weitest-
gercisten Leute --, der jemals die berühmte Hanse- und Scehandclsstadt gesehen
hatte. Zu verwundern war das nicht, da es Straßen, wie sie heutigen Tages
jedes kleinste Dorf mit dem Nachbarorte verbindet, nach garnicht gab. Ein
Brief van der Seelüfte war bisweilen vier Wochen unterwegs, ehe er den
Adressaten im Vinncnlande erreichte. Demnach lag Hamburg so ziemlich am
Ende der Welt, und es konnte für die binnenländische Bevölkerung einer Klein¬
stadt, die meistenteils nur über die reichbetürmte doppelte Stadtmauer einen
neugierigen Blick in die Welt that, immerhin für ein tollkühnes Wagnis gelten,
ans der sichern Hürde hinaus sich soweit in die Fremde zu stürzen. Wußte
man doch nicht einmal, ob die Menschen in Hamburg richtiges Deutsch sprachen!
Selbst bezüglich des Essens konnte ein Fremder aus so weiter Entfernung üble
Erfahrungen macheu. der unbeschreiblichen Gefahren unter einer wildfremden,
seefahrenden Bevölkerung, von der fehr schlimme Dinge erzählt wurden, garnicht
zu gedenken!

Dem wackern Herrn Wunderlich ward bei Anhörung so vieler Bedenken,
bei dem Achselzucken um Rat befragter Geschäftsfreunde und bei den Wehklagen
der eignen Familie selbst weh uns Herz. Allein es handelte sich um eine
beträchtliche Summe, und so blieb er fest, indem er den Seinigen tröstend zu¬
rief: Herr, ich muß ihr sagen, wir stehen unter Gottes Hand und mir werden
in Hamburg Türken und Mohren kein Haar krümmen!

Bei aller Entschlossenheit aber blieb der Mann doch vorsichtig, und darum
unterließ er nichts, um für das Wohl seiner Familie auf alle Fälle vor seiner
Abreise Sorge zu tragen. Er machte sein Testament und kommunizirtc mit
allen Verwandten, damit sein Seelenheil nicht zu Schaden komme. Zuletzt
ward ein solennes Abschiedsmahl gegeben, wobei viele Thränen flössen, und
darauf erst bestieg er das Martcrgefährt. die "gelbe Kutsche," welche die Post
vorstellte und, wenn es gut ging, in sechs bis sieben Tagen Dresden erreichte.

Ein Nachkomme dieses originellen Kauzes, ich weiß nicht, ob Vetter oder
Neffe, lebte seit langen Jahren in Dresden. Er war Kaufmann, besaß ein
eignes, großes und schönes Hans in der Neustadt nahe der Kaserne und galt für
einen sehr wohlhabenden Mann. Mit ihm unterhielt der Vater einen dürftigen
Briefwechsel, um die verwandtschaftlichen Beziehungen nicht ganz abzubrechen.
Endlich erfolgte Vonseiten des Vetters, der als Hagestolz ein sehr eintöniges
Leben neben einer unschönen und auch nicht mehr jungen Haushälterin führen
mochte, die förmliche Einladung der Eltern nebst Familie nach der Residenz.

Für die meisten Provinzler bildete das Wort Dresden den Inbegriff alles
Herrliche", Erhabenen und Wunderbaren, was es auf Erden gab. Da lebte
ja der fo hochverehrte König Friedrich August der Gerechte, dem man nach der
Leipziger Völkerschlacht so übel mitgespielt hatte, im Schoße seiner treuen Unter¬
thanen und bewacht von der Leibgarde, bei denen ein paar hochgewachsene


Jugenderinnerungen.

Mensch, nicht einmal ein Handwerker — und diese waren entschieden die weitest-
gercisten Leute —, der jemals die berühmte Hanse- und Scehandclsstadt gesehen
hatte. Zu verwundern war das nicht, da es Straßen, wie sie heutigen Tages
jedes kleinste Dorf mit dem Nachbarorte verbindet, nach garnicht gab. Ein
Brief van der Seelüfte war bisweilen vier Wochen unterwegs, ehe er den
Adressaten im Vinncnlande erreichte. Demnach lag Hamburg so ziemlich am
Ende der Welt, und es konnte für die binnenländische Bevölkerung einer Klein¬
stadt, die meistenteils nur über die reichbetürmte doppelte Stadtmauer einen
neugierigen Blick in die Welt that, immerhin für ein tollkühnes Wagnis gelten,
ans der sichern Hürde hinaus sich soweit in die Fremde zu stürzen. Wußte
man doch nicht einmal, ob die Menschen in Hamburg richtiges Deutsch sprachen!
Selbst bezüglich des Essens konnte ein Fremder aus so weiter Entfernung üble
Erfahrungen macheu. der unbeschreiblichen Gefahren unter einer wildfremden,
seefahrenden Bevölkerung, von der fehr schlimme Dinge erzählt wurden, garnicht
zu gedenken!

Dem wackern Herrn Wunderlich ward bei Anhörung so vieler Bedenken,
bei dem Achselzucken um Rat befragter Geschäftsfreunde und bei den Wehklagen
der eignen Familie selbst weh uns Herz. Allein es handelte sich um eine
beträchtliche Summe, und so blieb er fest, indem er den Seinigen tröstend zu¬
rief: Herr, ich muß ihr sagen, wir stehen unter Gottes Hand und mir werden
in Hamburg Türken und Mohren kein Haar krümmen!

Bei aller Entschlossenheit aber blieb der Mann doch vorsichtig, und darum
unterließ er nichts, um für das Wohl seiner Familie auf alle Fälle vor seiner
Abreise Sorge zu tragen. Er machte sein Testament und kommunizirtc mit
allen Verwandten, damit sein Seelenheil nicht zu Schaden komme. Zuletzt
ward ein solennes Abschiedsmahl gegeben, wobei viele Thränen flössen, und
darauf erst bestieg er das Martcrgefährt. die „gelbe Kutsche," welche die Post
vorstellte und, wenn es gut ging, in sechs bis sieben Tagen Dresden erreichte.

Ein Nachkomme dieses originellen Kauzes, ich weiß nicht, ob Vetter oder
Neffe, lebte seit langen Jahren in Dresden. Er war Kaufmann, besaß ein
eignes, großes und schönes Hans in der Neustadt nahe der Kaserne und galt für
einen sehr wohlhabenden Mann. Mit ihm unterhielt der Vater einen dürftigen
Briefwechsel, um die verwandtschaftlichen Beziehungen nicht ganz abzubrechen.
Endlich erfolgte Vonseiten des Vetters, der als Hagestolz ein sehr eintöniges
Leben neben einer unschönen und auch nicht mehr jungen Haushälterin führen
mochte, die förmliche Einladung der Eltern nebst Familie nach der Residenz.

Für die meisten Provinzler bildete das Wort Dresden den Inbegriff alles
Herrliche», Erhabenen und Wunderbaren, was es auf Erden gab. Da lebte
ja der fo hochverehrte König Friedrich August der Gerechte, dem man nach der
Leipziger Völkerschlacht so übel mitgespielt hatte, im Schoße seiner treuen Unter¬
thanen und bewacht von der Leibgarde, bei denen ein paar hochgewachsene


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[0051] Jugenderinnerungen. Mensch, nicht einmal ein Handwerker — und diese waren entschieden die weitest- gercisten Leute —, der jemals die berühmte Hanse- und Scehandclsstadt gesehen hatte. Zu verwundern war das nicht, da es Straßen, wie sie heutigen Tages jedes kleinste Dorf mit dem Nachbarorte verbindet, nach garnicht gab. Ein Brief van der Seelüfte war bisweilen vier Wochen unterwegs, ehe er den Adressaten im Vinncnlande erreichte. Demnach lag Hamburg so ziemlich am Ende der Welt, und es konnte für die binnenländische Bevölkerung einer Klein¬ stadt, die meistenteils nur über die reichbetürmte doppelte Stadtmauer einen neugierigen Blick in die Welt that, immerhin für ein tollkühnes Wagnis gelten, ans der sichern Hürde hinaus sich soweit in die Fremde zu stürzen. Wußte man doch nicht einmal, ob die Menschen in Hamburg richtiges Deutsch sprachen! Selbst bezüglich des Essens konnte ein Fremder aus so weiter Entfernung üble Erfahrungen macheu. der unbeschreiblichen Gefahren unter einer wildfremden, seefahrenden Bevölkerung, von der fehr schlimme Dinge erzählt wurden, garnicht zu gedenken! Dem wackern Herrn Wunderlich ward bei Anhörung so vieler Bedenken, bei dem Achselzucken um Rat befragter Geschäftsfreunde und bei den Wehklagen der eignen Familie selbst weh uns Herz. Allein es handelte sich um eine beträchtliche Summe, und so blieb er fest, indem er den Seinigen tröstend zu¬ rief: Herr, ich muß ihr sagen, wir stehen unter Gottes Hand und mir werden in Hamburg Türken und Mohren kein Haar krümmen! Bei aller Entschlossenheit aber blieb der Mann doch vorsichtig, und darum unterließ er nichts, um für das Wohl seiner Familie auf alle Fälle vor seiner Abreise Sorge zu tragen. Er machte sein Testament und kommunizirtc mit allen Verwandten, damit sein Seelenheil nicht zu Schaden komme. Zuletzt ward ein solennes Abschiedsmahl gegeben, wobei viele Thränen flössen, und darauf erst bestieg er das Martcrgefährt. die „gelbe Kutsche," welche die Post vorstellte und, wenn es gut ging, in sechs bis sieben Tagen Dresden erreichte. Ein Nachkomme dieses originellen Kauzes, ich weiß nicht, ob Vetter oder Neffe, lebte seit langen Jahren in Dresden. Er war Kaufmann, besaß ein eignes, großes und schönes Hans in der Neustadt nahe der Kaserne und galt für einen sehr wohlhabenden Mann. Mit ihm unterhielt der Vater einen dürftigen Briefwechsel, um die verwandtschaftlichen Beziehungen nicht ganz abzubrechen. Endlich erfolgte Vonseiten des Vetters, der als Hagestolz ein sehr eintöniges Leben neben einer unschönen und auch nicht mehr jungen Haushälterin führen mochte, die förmliche Einladung der Eltern nebst Familie nach der Residenz. Für die meisten Provinzler bildete das Wort Dresden den Inbegriff alles Herrliche», Erhabenen und Wunderbaren, was es auf Erden gab. Da lebte ja der fo hochverehrte König Friedrich August der Gerechte, dem man nach der Leipziger Völkerschlacht so übel mitgespielt hatte, im Schoße seiner treuen Unter¬ thanen und bewacht von der Leibgarde, bei denen ein paar hochgewachsene

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/51>, abgerufen am 17.09.2024.