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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Das britische Weltreich und seine Aussichten.

Armenien der Sache zuvorkommt oder die Türkei bestimmt, die Erlaubnis
zur Vornahme solcher Arbeit hier, auf ihrem Gebiete, zu verweigern. Die
Bahn würde den Weg von London nach Indien um 1600 Kilometer verkürzen,
Truppen würden mit ihrer Hilfe in vierzehn Tagen von ihrem englischen Ein¬
schiffungsorte nach Karatschi am Indus befördert werden können, und der Bau
würde nicht mehr als sechs bis sieben Millionen Pfund Sterling kosten. Aber
Rußland steht in Kars nur noch 640 Kilometer vom Euphrat und drückt mit
der Wucht einer großen festländischen Macht auf die Entschlüsse seines türkischen
Nachbars. Dem gegenüber will es nicht sehr viel bedeuten, daß England bei
Basrah an der Mündung des Euphrat Kohlenstationen und nicht fern von da
den Scheich von Mohamora zum Freunde hat, und daß es von der Insel
Kischm an der Straße von Ormuz aus die Einfahrt in den persischen Meerbusen
beherrscht. Außer Gibraltar und seiner Meerenge giebt es noch einen zweiten
Eingang ins Mittelmeer, Konstantinopel mit dem Bosporus. Hier liegt für
Westasien die Thür der Zukunft, und wenn ihm der Suezkanal viel von seiner
früheren Bedeutung für England genommen hat, so ist dies durch die Fortschritte
der Russen in Mittelasien ausgeglichen. Diese haben aber auch auf dem
Wege nach Konstantinopel eine große Strecke zurückgelegt. Der Widerstand
der Pforte ist schwächer geworden, von Jahr zu Jahr zaghafter verteidigt
England seine Interessen auf der Balkanhalbinsel, mehr und mehr schwindet das
Vertrauen der dortigen Völker auf seine Freundschaft und seine Macht. Ru߬
land kann seinem Egoismus vor dem christlichen wenigstens den Schein geben,
es vertrete das Kreuz gegen den Halbmond. England kann diesen nur als
schwächlicher und unzuverlässiger Intrigant für ihre Unabhängigkeit und den
Türken als ebenso unzuverlässiger Gönner des Hauptes der muhamedanischen
Welt erscheinen -- den Türken und den fünfzig Millionen Muslimen, die in
Britisch-Jndien wohnen. England hat am Bosporus Ägypten. Mesopotamien
und die Seezugänge zu Indien zu verteidigen, besitzt aber nördlich von
Cypern keinen Stützpunkt für militärische Unternehmungen. Nußland dagegen
hat sich im Schwarzen Meere nicht bloß gewaltige Schutzwehren gegen jenes,
sondern auch furchtbare Angriffswaffen gegen die Türkei und gegen die britische
Macht im Mittelmeere geschaffen. Sewastopol und die im Krimwege zerstörte
Kriegsflotte sind wieder hergestellt. Daneben besteht in Nikolajesf ein zweiter
starker Waffenplatz, und in kurzer Zeit wird in Batna ein dritter vollendet
sein. Der letztere Platz wurde den Russen im Berliner Vertrage uuter der
Bedingung überlassen, daß er zum Freihafen erklärt würde. Im Juli 1886
aber hoben sie diese Klausel auf. Die alten türkischen Befestigungen sind nicht
bloß bestehen geblieben, sondern zum Teil verstärkt worden, wie das Fort
Burnn. welches den Hafen vollständig beherrscht, und eine Lokalbahn verbindet
diese Bastionen mit neu errichteten Bollwerken. Man hat vier große Pulver¬
magazine, ein Lager von Geschossen. Arsenale für Geschütze und Handfeuer-


Das britische Weltreich und seine Aussichten.

Armenien der Sache zuvorkommt oder die Türkei bestimmt, die Erlaubnis
zur Vornahme solcher Arbeit hier, auf ihrem Gebiete, zu verweigern. Die
Bahn würde den Weg von London nach Indien um 1600 Kilometer verkürzen,
Truppen würden mit ihrer Hilfe in vierzehn Tagen von ihrem englischen Ein¬
schiffungsorte nach Karatschi am Indus befördert werden können, und der Bau
würde nicht mehr als sechs bis sieben Millionen Pfund Sterling kosten. Aber
Rußland steht in Kars nur noch 640 Kilometer vom Euphrat und drückt mit
der Wucht einer großen festländischen Macht auf die Entschlüsse seines türkischen
Nachbars. Dem gegenüber will es nicht sehr viel bedeuten, daß England bei
Basrah an der Mündung des Euphrat Kohlenstationen und nicht fern von da
den Scheich von Mohamora zum Freunde hat, und daß es von der Insel
Kischm an der Straße von Ormuz aus die Einfahrt in den persischen Meerbusen
beherrscht. Außer Gibraltar und seiner Meerenge giebt es noch einen zweiten
Eingang ins Mittelmeer, Konstantinopel mit dem Bosporus. Hier liegt für
Westasien die Thür der Zukunft, und wenn ihm der Suezkanal viel von seiner
früheren Bedeutung für England genommen hat, so ist dies durch die Fortschritte
der Russen in Mittelasien ausgeglichen. Diese haben aber auch auf dem
Wege nach Konstantinopel eine große Strecke zurückgelegt. Der Widerstand
der Pforte ist schwächer geworden, von Jahr zu Jahr zaghafter verteidigt
England seine Interessen auf der Balkanhalbinsel, mehr und mehr schwindet das
Vertrauen der dortigen Völker auf seine Freundschaft und seine Macht. Ru߬
land kann seinem Egoismus vor dem christlichen wenigstens den Schein geben,
es vertrete das Kreuz gegen den Halbmond. England kann diesen nur als
schwächlicher und unzuverlässiger Intrigant für ihre Unabhängigkeit und den
Türken als ebenso unzuverlässiger Gönner des Hauptes der muhamedanischen
Welt erscheinen — den Türken und den fünfzig Millionen Muslimen, die in
Britisch-Jndien wohnen. England hat am Bosporus Ägypten. Mesopotamien
und die Seezugänge zu Indien zu verteidigen, besitzt aber nördlich von
Cypern keinen Stützpunkt für militärische Unternehmungen. Nußland dagegen
hat sich im Schwarzen Meere nicht bloß gewaltige Schutzwehren gegen jenes,
sondern auch furchtbare Angriffswaffen gegen die Türkei und gegen die britische
Macht im Mittelmeere geschaffen. Sewastopol und die im Krimwege zerstörte
Kriegsflotte sind wieder hergestellt. Daneben besteht in Nikolajesf ein zweiter
starker Waffenplatz, und in kurzer Zeit wird in Batna ein dritter vollendet
sein. Der letztere Platz wurde den Russen im Berliner Vertrage uuter der
Bedingung überlassen, daß er zum Freihafen erklärt würde. Im Juli 1886
aber hoben sie diese Klausel auf. Die alten türkischen Befestigungen sind nicht
bloß bestehen geblieben, sondern zum Teil verstärkt worden, wie das Fort
Burnn. welches den Hafen vollständig beherrscht, und eine Lokalbahn verbindet
diese Bastionen mit neu errichteten Bollwerken. Man hat vier große Pulver¬
magazine, ein Lager von Geschossen. Arsenale für Geschütze und Handfeuer-


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[0509] Das britische Weltreich und seine Aussichten. Armenien der Sache zuvorkommt oder die Türkei bestimmt, die Erlaubnis zur Vornahme solcher Arbeit hier, auf ihrem Gebiete, zu verweigern. Die Bahn würde den Weg von London nach Indien um 1600 Kilometer verkürzen, Truppen würden mit ihrer Hilfe in vierzehn Tagen von ihrem englischen Ein¬ schiffungsorte nach Karatschi am Indus befördert werden können, und der Bau würde nicht mehr als sechs bis sieben Millionen Pfund Sterling kosten. Aber Rußland steht in Kars nur noch 640 Kilometer vom Euphrat und drückt mit der Wucht einer großen festländischen Macht auf die Entschlüsse seines türkischen Nachbars. Dem gegenüber will es nicht sehr viel bedeuten, daß England bei Basrah an der Mündung des Euphrat Kohlenstationen und nicht fern von da den Scheich von Mohamora zum Freunde hat, und daß es von der Insel Kischm an der Straße von Ormuz aus die Einfahrt in den persischen Meerbusen beherrscht. Außer Gibraltar und seiner Meerenge giebt es noch einen zweiten Eingang ins Mittelmeer, Konstantinopel mit dem Bosporus. Hier liegt für Westasien die Thür der Zukunft, und wenn ihm der Suezkanal viel von seiner früheren Bedeutung für England genommen hat, so ist dies durch die Fortschritte der Russen in Mittelasien ausgeglichen. Diese haben aber auch auf dem Wege nach Konstantinopel eine große Strecke zurückgelegt. Der Widerstand der Pforte ist schwächer geworden, von Jahr zu Jahr zaghafter verteidigt England seine Interessen auf der Balkanhalbinsel, mehr und mehr schwindet das Vertrauen der dortigen Völker auf seine Freundschaft und seine Macht. Ru߬ land kann seinem Egoismus vor dem christlichen wenigstens den Schein geben, es vertrete das Kreuz gegen den Halbmond. England kann diesen nur als schwächlicher und unzuverlässiger Intrigant für ihre Unabhängigkeit und den Türken als ebenso unzuverlässiger Gönner des Hauptes der muhamedanischen Welt erscheinen — den Türken und den fünfzig Millionen Muslimen, die in Britisch-Jndien wohnen. England hat am Bosporus Ägypten. Mesopotamien und die Seezugänge zu Indien zu verteidigen, besitzt aber nördlich von Cypern keinen Stützpunkt für militärische Unternehmungen. Nußland dagegen hat sich im Schwarzen Meere nicht bloß gewaltige Schutzwehren gegen jenes, sondern auch furchtbare Angriffswaffen gegen die Türkei und gegen die britische Macht im Mittelmeere geschaffen. Sewastopol und die im Krimwege zerstörte Kriegsflotte sind wieder hergestellt. Daneben besteht in Nikolajesf ein zweiter starker Waffenplatz, und in kurzer Zeit wird in Batna ein dritter vollendet sein. Der letztere Platz wurde den Russen im Berliner Vertrage uuter der Bedingung überlassen, daß er zum Freihafen erklärt würde. Im Juli 1886 aber hoben sie diese Klausel auf. Die alten türkischen Befestigungen sind nicht bloß bestehen geblieben, sondern zum Teil verstärkt worden, wie das Fort Burnn. welches den Hafen vollständig beherrscht, und eine Lokalbahn verbindet diese Bastionen mit neu errichteten Bollwerken. Man hat vier große Pulver¬ magazine, ein Lager von Geschossen. Arsenale für Geschütze und Handfeuer-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/509>, abgerufen am 17.09.2024.