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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Neues von Anzengruber.

Wand gedrückten Volksmuse ein neues, eignes Theater zu errichten. Es ist
hier nicht der Ort, auf diese Vorgänge in der Wiener Theaterwelt näher ein¬
zugehen. Wir erinnern nur daran, daß der Name Ludwig Anzengrubers nu
der Spitze jenes Komitees steht, welches sich zur Erbauung eines deutschen
Volkstheaters in Wien gebildet hat, und daß die Errichtung dieses Theaters
-- man darf nunmehr mit einiger Gewißheit behaupten, daß es in der That
zu stände kommen werde -- die Wiedergeburt des Anzengruberschen Volksstückcs
bedeutet. Dies die Gestaltung der Umstände, unter denen der Dichter seine
dramatische Thätigkeit wieder aufnimmt.

Stahl und Stein ist sein neuestes Volkstück*) betitelt, und es reiht sich
dem Besten an, was wir von ihm besitzen. Es kommt als Charaktertragödie
in die Mitte zu stehen zwischen den "Meineidbauer" und den "G'wisseuswurm,"
und enthält Anklänge an die Lieblingsmotive der ersten Anzengruberschen Stücke,
an den Wurzelsepp im "Pfarrer von Kirchfeld" und an den Steinklopferhanns
in der Komödie der "Kreuzelschreiber." Den "katechetischen" Zug in seinen
Erzählungen hat Ludwig Laistner unserm Dichter in der kurzen Charakteristik
im "Novellenschatz" mit leisem Tadel vorgehalten. In der That gehört es zu
Anzengrubers Licblingsmotiven, das verbauerte Christentum im katholischen
Süden humoristisch darzustellen, oder kirchlichen Fanatismus satirisch zu be¬
leuchten. Anzengruber hat diese Neigung mit den italienischen Realisten gemein,
welche bei der Schilderung des Bauerntums dieselben Tendenzen verfolgen. In
seinem erste" erfolgreichen Stücke, im "Pfarrer von Kirchfeld," sind alle Töne
seiner spätern Dramen schon angeschlagen. Der Pfarrer Hell von Kirchfeld
hat den verwickelten Konflikt des Cölibatärs mit der Liebe zu einem reinen
weiblichen Geschöpf und des aufgeklärten katholischen Priesters mit den Forde¬
rungen der herrschsüchtigen seolösia irMtAns in seiner Brust auszukämpfen.
Der Wurzelsepp ist wie der Steinklopferhanns, der Hauderer (im "Doppel-
selbstmord"), der Typus der eigenartigen Anzengruberscheu Romantik, welche
im Einsam des neuesten Volksstückes ihren künstlerisch vielleicht vollendetsten
Ausdruck gefunden hat. Es sind Menschen von tiefer Empfindung, mit einem
ursprünglich religiösen Charakterzüge, die mit der Gesamtheit ihrer Umgebung
ans verschiednen Gründen gebrochen haben, durch eine illegitime Geburt von
vornherein außer der gewöhnlichen Gesellschaft gestellt sind, die Einsamkeit auf¬
suchen, eine trotzige Miene gegen jede freundliche Annäherung zur Schau tragen,
ein Herz voller Liebe besitzen, nach einer schweren Enttäuschung jedoch an der
Welt verzweifeln gelernt haben, durchaus ungesellig sind, überall Egoismus
wittern, im Gebirge sich abseits von den Menschen, bei der ärmlichsten Nahrung
aufhalten, armselig gekleidet dahergehen, die Natur über alles lieben, Gott unter



*) Stahl und Stein. Volksstück in drei Akten von Ludwig Anzengruber.
Dresden und Leipzig, E. Piersons Verlag, 1887.
Grenzboten II. 1887. 60
Neues von Anzengruber.

Wand gedrückten Volksmuse ein neues, eignes Theater zu errichten. Es ist
hier nicht der Ort, auf diese Vorgänge in der Wiener Theaterwelt näher ein¬
zugehen. Wir erinnern nur daran, daß der Name Ludwig Anzengrubers nu
der Spitze jenes Komitees steht, welches sich zur Erbauung eines deutschen
Volkstheaters in Wien gebildet hat, und daß die Errichtung dieses Theaters
— man darf nunmehr mit einiger Gewißheit behaupten, daß es in der That
zu stände kommen werde — die Wiedergeburt des Anzengruberschen Volksstückcs
bedeutet. Dies die Gestaltung der Umstände, unter denen der Dichter seine
dramatische Thätigkeit wieder aufnimmt.

Stahl und Stein ist sein neuestes Volkstück*) betitelt, und es reiht sich
dem Besten an, was wir von ihm besitzen. Es kommt als Charaktertragödie
in die Mitte zu stehen zwischen den „Meineidbauer" und den „G'wisseuswurm,"
und enthält Anklänge an die Lieblingsmotive der ersten Anzengruberschen Stücke,
an den Wurzelsepp im „Pfarrer von Kirchfeld" und an den Steinklopferhanns
in der Komödie der „Kreuzelschreiber." Den „katechetischen" Zug in seinen
Erzählungen hat Ludwig Laistner unserm Dichter in der kurzen Charakteristik
im „Novellenschatz" mit leisem Tadel vorgehalten. In der That gehört es zu
Anzengrubers Licblingsmotiven, das verbauerte Christentum im katholischen
Süden humoristisch darzustellen, oder kirchlichen Fanatismus satirisch zu be¬
leuchten. Anzengruber hat diese Neigung mit den italienischen Realisten gemein,
welche bei der Schilderung des Bauerntums dieselben Tendenzen verfolgen. In
seinem erste» erfolgreichen Stücke, im „Pfarrer von Kirchfeld," sind alle Töne
seiner spätern Dramen schon angeschlagen. Der Pfarrer Hell von Kirchfeld
hat den verwickelten Konflikt des Cölibatärs mit der Liebe zu einem reinen
weiblichen Geschöpf und des aufgeklärten katholischen Priesters mit den Forde¬
rungen der herrschsüchtigen seolösia irMtAns in seiner Brust auszukämpfen.
Der Wurzelsepp ist wie der Steinklopferhanns, der Hauderer (im „Doppel-
selbstmord"), der Typus der eigenartigen Anzengruberscheu Romantik, welche
im Einsam des neuesten Volksstückes ihren künstlerisch vielleicht vollendetsten
Ausdruck gefunden hat. Es sind Menschen von tiefer Empfindung, mit einem
ursprünglich religiösen Charakterzüge, die mit der Gesamtheit ihrer Umgebung
ans verschiednen Gründen gebrochen haben, durch eine illegitime Geburt von
vornherein außer der gewöhnlichen Gesellschaft gestellt sind, die Einsamkeit auf¬
suchen, eine trotzige Miene gegen jede freundliche Annäherung zur Schau tragen,
ein Herz voller Liebe besitzen, nach einer schweren Enttäuschung jedoch an der
Welt verzweifeln gelernt haben, durchaus ungesellig sind, überall Egoismus
wittern, im Gebirge sich abseits von den Menschen, bei der ärmlichsten Nahrung
aufhalten, armselig gekleidet dahergehen, die Natur über alles lieben, Gott unter



*) Stahl und Stein. Volksstück in drei Akten von Ludwig Anzengruber.
Dresden und Leipzig, E. Piersons Verlag, 1887.
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[0481] Neues von Anzengruber. Wand gedrückten Volksmuse ein neues, eignes Theater zu errichten. Es ist hier nicht der Ort, auf diese Vorgänge in der Wiener Theaterwelt näher ein¬ zugehen. Wir erinnern nur daran, daß der Name Ludwig Anzengrubers nu der Spitze jenes Komitees steht, welches sich zur Erbauung eines deutschen Volkstheaters in Wien gebildet hat, und daß die Errichtung dieses Theaters — man darf nunmehr mit einiger Gewißheit behaupten, daß es in der That zu stände kommen werde — die Wiedergeburt des Anzengruberschen Volksstückcs bedeutet. Dies die Gestaltung der Umstände, unter denen der Dichter seine dramatische Thätigkeit wieder aufnimmt. Stahl und Stein ist sein neuestes Volkstück*) betitelt, und es reiht sich dem Besten an, was wir von ihm besitzen. Es kommt als Charaktertragödie in die Mitte zu stehen zwischen den „Meineidbauer" und den „G'wisseuswurm," und enthält Anklänge an die Lieblingsmotive der ersten Anzengruberschen Stücke, an den Wurzelsepp im „Pfarrer von Kirchfeld" und an den Steinklopferhanns in der Komödie der „Kreuzelschreiber." Den „katechetischen" Zug in seinen Erzählungen hat Ludwig Laistner unserm Dichter in der kurzen Charakteristik im „Novellenschatz" mit leisem Tadel vorgehalten. In der That gehört es zu Anzengrubers Licblingsmotiven, das verbauerte Christentum im katholischen Süden humoristisch darzustellen, oder kirchlichen Fanatismus satirisch zu be¬ leuchten. Anzengruber hat diese Neigung mit den italienischen Realisten gemein, welche bei der Schilderung des Bauerntums dieselben Tendenzen verfolgen. In seinem erste» erfolgreichen Stücke, im „Pfarrer von Kirchfeld," sind alle Töne seiner spätern Dramen schon angeschlagen. Der Pfarrer Hell von Kirchfeld hat den verwickelten Konflikt des Cölibatärs mit der Liebe zu einem reinen weiblichen Geschöpf und des aufgeklärten katholischen Priesters mit den Forde¬ rungen der herrschsüchtigen seolösia irMtAns in seiner Brust auszukämpfen. Der Wurzelsepp ist wie der Steinklopferhanns, der Hauderer (im „Doppel- selbstmord"), der Typus der eigenartigen Anzengruberscheu Romantik, welche im Einsam des neuesten Volksstückes ihren künstlerisch vielleicht vollendetsten Ausdruck gefunden hat. Es sind Menschen von tiefer Empfindung, mit einem ursprünglich religiösen Charakterzüge, die mit der Gesamtheit ihrer Umgebung ans verschiednen Gründen gebrochen haben, durch eine illegitime Geburt von vornherein außer der gewöhnlichen Gesellschaft gestellt sind, die Einsamkeit auf¬ suchen, eine trotzige Miene gegen jede freundliche Annäherung zur Schau tragen, ein Herz voller Liebe besitzen, nach einer schweren Enttäuschung jedoch an der Welt verzweifeln gelernt haben, durchaus ungesellig sind, überall Egoismus wittern, im Gebirge sich abseits von den Menschen, bei der ärmlichsten Nahrung aufhalten, armselig gekleidet dahergehen, die Natur über alles lieben, Gott unter *) Stahl und Stein. Volksstück in drei Akten von Ludwig Anzengruber. Dresden und Leipzig, E. Piersons Verlag, 1887. Grenzboten II. 1887. 60

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/481>, abgerufen am 17.09.2024.