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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Zwei Wiener Romane.

Diesem mit noch einigen andern unangenehmen, aber geschickt gezeichneten
Figuren bereicherten Kreise steht die Gruppe der liebenswürdigen Charaktere
gegenüber. Loris Schwester Marie, welche in entsagungsvoller Güte alles von
Lori angerichtete Unheil gut zu machen strebt: eine Gestalt, die freilich unwahr¬
scheinlich ideal geraten ist. Sodann der Vater Schober, der uns das Schauspiel
eines im Kampfe mit dem Guten bald unterliegenden, bald siegenden Schwäch¬
lings bietet; er ist, wie Lori, mit vieler Sorgfalt gezeichnet, in einzelnen Szenen
von packender Wirkung; aber bei den Hauptkrisen ist die Motivirung der
Wandlungen zu schwach geblieben. Eine vortreffliche Figur ist der Konzert¬
meister Riedel: der verschämte Liebhaber des Lustspiels, aber hübsch gezeichnet.
Und hinter all den in die Handlung eingreifenden Gestalten steht mit vor¬
trefflicher Wirkung, die nur etwas sparsamer hätte ins Spiel gezogen werden
sollen, der ewig klatschende Chor der Nachbarinnen im alten Freihause.

Von einem realistischen Romane, wie dem vorliegenden, ist es schwer, ein
kritisches Bild zu geben; denn seine Stärke liegt nicht im Ideengehalt, auch
nicht in der Originalität der Erfindung von Fabel und Charakteren, sondern
in der Darstellung des Zuständlichen, in der Stimmungsmalerei, in der breiten
Schilderung von Örtlichkeiten und Sitten. Darum begnügen wir uns mit
diesen wenigen Andeutungen. Ohne Zweifel tritt in Karlweis ein hoffnungs¬
voller, ganz besonders für den Roman begabter Schriftsteller auf. Noch ist
in ihm das Talent stärker als die Bildung und Einsicht; noch vermag er nur
einen einzigen Charakter mit größerer Feinheit darzustellen: den des schwachen,
im Konflikt zwischen Pflicht und Sinnlichkeit stehenden Menschen; und über der
künstlerischen Freude an der Darstellung dieses einen Charakters hat er ver¬
säumt, in den Rahmen seiner Erzählung auch den kontrastirenden Charakter des
willensstarken Mannes aufzunehmen; noch ist ihm die schwierige Kunst der
Motivirung nicht ganz geläufig. Gleichwohl hat er mit seinen "Wiener
Kindern" eine achtunggebietende Probe seines Talentes abgelegt, und so wie sie
sind, werden sie ihren Platz in der Romanliteratur unsrer Zeit behalten.


Moritz Necker.


Zwei Wiener Romane.

Diesem mit noch einigen andern unangenehmen, aber geschickt gezeichneten
Figuren bereicherten Kreise steht die Gruppe der liebenswürdigen Charaktere
gegenüber. Loris Schwester Marie, welche in entsagungsvoller Güte alles von
Lori angerichtete Unheil gut zu machen strebt: eine Gestalt, die freilich unwahr¬
scheinlich ideal geraten ist. Sodann der Vater Schober, der uns das Schauspiel
eines im Kampfe mit dem Guten bald unterliegenden, bald siegenden Schwäch¬
lings bietet; er ist, wie Lori, mit vieler Sorgfalt gezeichnet, in einzelnen Szenen
von packender Wirkung; aber bei den Hauptkrisen ist die Motivirung der
Wandlungen zu schwach geblieben. Eine vortreffliche Figur ist der Konzert¬
meister Riedel: der verschämte Liebhaber des Lustspiels, aber hübsch gezeichnet.
Und hinter all den in die Handlung eingreifenden Gestalten steht mit vor¬
trefflicher Wirkung, die nur etwas sparsamer hätte ins Spiel gezogen werden
sollen, der ewig klatschende Chor der Nachbarinnen im alten Freihause.

Von einem realistischen Romane, wie dem vorliegenden, ist es schwer, ein
kritisches Bild zu geben; denn seine Stärke liegt nicht im Ideengehalt, auch
nicht in der Originalität der Erfindung von Fabel und Charakteren, sondern
in der Darstellung des Zuständlichen, in der Stimmungsmalerei, in der breiten
Schilderung von Örtlichkeiten und Sitten. Darum begnügen wir uns mit
diesen wenigen Andeutungen. Ohne Zweifel tritt in Karlweis ein hoffnungs¬
voller, ganz besonders für den Roman begabter Schriftsteller auf. Noch ist
in ihm das Talent stärker als die Bildung und Einsicht; noch vermag er nur
einen einzigen Charakter mit größerer Feinheit darzustellen: den des schwachen,
im Konflikt zwischen Pflicht und Sinnlichkeit stehenden Menschen; und über der
künstlerischen Freude an der Darstellung dieses einen Charakters hat er ver¬
säumt, in den Rahmen seiner Erzählung auch den kontrastirenden Charakter des
willensstarken Mannes aufzunehmen; noch ist ihm die schwierige Kunst der
Motivirung nicht ganz geläufig. Gleichwohl hat er mit seinen „Wiener
Kindern" eine achtunggebietende Probe seines Talentes abgelegt, und so wie sie
sind, werden sie ihren Platz in der Romanliteratur unsrer Zeit behalten.


Moritz Necker.


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[0046] Zwei Wiener Romane. Diesem mit noch einigen andern unangenehmen, aber geschickt gezeichneten Figuren bereicherten Kreise steht die Gruppe der liebenswürdigen Charaktere gegenüber. Loris Schwester Marie, welche in entsagungsvoller Güte alles von Lori angerichtete Unheil gut zu machen strebt: eine Gestalt, die freilich unwahr¬ scheinlich ideal geraten ist. Sodann der Vater Schober, der uns das Schauspiel eines im Kampfe mit dem Guten bald unterliegenden, bald siegenden Schwäch¬ lings bietet; er ist, wie Lori, mit vieler Sorgfalt gezeichnet, in einzelnen Szenen von packender Wirkung; aber bei den Hauptkrisen ist die Motivirung der Wandlungen zu schwach geblieben. Eine vortreffliche Figur ist der Konzert¬ meister Riedel: der verschämte Liebhaber des Lustspiels, aber hübsch gezeichnet. Und hinter all den in die Handlung eingreifenden Gestalten steht mit vor¬ trefflicher Wirkung, die nur etwas sparsamer hätte ins Spiel gezogen werden sollen, der ewig klatschende Chor der Nachbarinnen im alten Freihause. Von einem realistischen Romane, wie dem vorliegenden, ist es schwer, ein kritisches Bild zu geben; denn seine Stärke liegt nicht im Ideengehalt, auch nicht in der Originalität der Erfindung von Fabel und Charakteren, sondern in der Darstellung des Zuständlichen, in der Stimmungsmalerei, in der breiten Schilderung von Örtlichkeiten und Sitten. Darum begnügen wir uns mit diesen wenigen Andeutungen. Ohne Zweifel tritt in Karlweis ein hoffnungs¬ voller, ganz besonders für den Roman begabter Schriftsteller auf. Noch ist in ihm das Talent stärker als die Bildung und Einsicht; noch vermag er nur einen einzigen Charakter mit größerer Feinheit darzustellen: den des schwachen, im Konflikt zwischen Pflicht und Sinnlichkeit stehenden Menschen; und über der künstlerischen Freude an der Darstellung dieses einen Charakters hat er ver¬ säumt, in den Rahmen seiner Erzählung auch den kontrastirenden Charakter des willensstarken Mannes aufzunehmen; noch ist ihm die schwierige Kunst der Motivirung nicht ganz geläufig. Gleichwohl hat er mit seinen „Wiener Kindern" eine achtunggebietende Probe seines Talentes abgelegt, und so wie sie sind, werden sie ihren Platz in der Romanliteratur unsrer Zeit behalten. Moritz Necker.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/46>, abgerufen am 17.09.2024.