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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Russische Skizzen.

heute die russische Herrschaft aufhörte, so würde morgen jede Spur derselben
verschwunden sein, bis auf den Jswoschtschik, der auch die finnischen Küstenstädte
erobert hat. Denn in diesem Lande der Wälder und Seen herrscht noch un¬
gebrochen die schwedisch-protestantische Kultur, das Russische ist nur wie ein
dünner Firniß aufgetragen.

Doch wir kehren nach Petersburg zurück. Der lange Sommertag geht zu
Ende, spät sinkt die Sonne in glühendem Purpur und steigt frühzeitig wieder
empor; eine eigentliche Finsternis tritt hier so wenig ein, daß während des
Juni und Juli keine Gaslaterne angezündet wird. Dann strömt alles, wenn
der Abend einbricht, aus der heißen Stadt hinaus nach den "Inseln" (Ostrowa)
der Newa und Newka mit ihren Parks, Gärten, Vergnügungslokalen und Villen;
endlos fahren die Jswoschtschiks. dicht besetzt sind alle Wagen der Pferdebahn
und die kleinen Dampfer, die vom Sommergarten aus in die Newka hinein¬
schießen, überall an den Landungsbrücken mit ihren Häuschen in national¬
russischem Holzstil Fahrgäste einnehmend und absetzend, bis hinaus nach Jelagin
mit seinen kaiserlichen Villen im grünen Park und dem Blick auf die offene
See. Dort draußen auf der Apothekerinsel liegt auch der botanische Garten,
sicher einer der bestgepflegten Europas, im Schmuck seiner alten, prachtvollen
Linden und hochstämmigen Erlen, der Akklimatisationsort für asiatische Pflanzen
und vielleicht einzig durch seine wunderbaren Farren, die an Größe oft mit den
Palmen wetteifern und an Eleganz und Feinheit der Formen sie weit über¬
treffen. Man könnte sich in eine Landschaft der Steinkohlenzeit versetzt glauben.
Wer nicht nach den "Inseln" will, der wandert nach dem zoologischen Garten
an der Festung. Die Tiere sind hier ganz Nebensache und bieten auch abge¬
sehen von den beiden Nilpferden, wahrhaft vorsintflutlichen Ungetümen, deren
Plumpe Komik fortwährend dichte Scharen an ihr Gitter fesselt, wenig Be¬
merkenswertes, wie denn der Garten mit den deutschen Anlagen der Art keinen
Vergleich aushält; den Hauptanziehungspunkt bilden die Vergnügungen, das
Sommertheater und die Konzertsälc. Dort gehen in elektrischer Beleuchtung,
mit buntesten Dekorationswechsel und glänzenden Ballets Ausstattungs- und
Spektakelstücke in Szene, etwa eine "Feerie": "In Amerika," in der die tollsten
Abenteuer durcheinander gehen: Steppenbrand, Überfall eines Zuges auf der
Pacifikbahu, Urwaldreise u. s. w. und ein riesiger Neger den Retter der ver¬
folgten Unschuld spielt; hier treten neben guter Instrumentalmusik -- natürlich
unter einem deutschen Kapellmeister -- wohl anch "Tiroler" von fragwürdiger
Echtheit auf. deren Lieder eigentümlich sich genug ausnehmen in dieser russischen
Umgebung, doch lebhaft beklatscht werden von Deutschen wie von Russen, ^n
einem andern Lokal führen mittlerweile dressirte Seehunde die unglaublichsten
Kunststücke aus. So geht es in verwirrenden Durcheinander bei verschwen¬
derischer Beleuchtung bis tief in die Nacht hinein, bis die Nacht dem Morgen
zu weichen beginnt. (Fortsetzung folgt.)


Grenzboten II. 1887. ^6
Russische Skizzen.

heute die russische Herrschaft aufhörte, so würde morgen jede Spur derselben
verschwunden sein, bis auf den Jswoschtschik, der auch die finnischen Küstenstädte
erobert hat. Denn in diesem Lande der Wälder und Seen herrscht noch un¬
gebrochen die schwedisch-protestantische Kultur, das Russische ist nur wie ein
dünner Firniß aufgetragen.

Doch wir kehren nach Petersburg zurück. Der lange Sommertag geht zu
Ende, spät sinkt die Sonne in glühendem Purpur und steigt frühzeitig wieder
empor; eine eigentliche Finsternis tritt hier so wenig ein, daß während des
Juni und Juli keine Gaslaterne angezündet wird. Dann strömt alles, wenn
der Abend einbricht, aus der heißen Stadt hinaus nach den „Inseln" (Ostrowa)
der Newa und Newka mit ihren Parks, Gärten, Vergnügungslokalen und Villen;
endlos fahren die Jswoschtschiks. dicht besetzt sind alle Wagen der Pferdebahn
und die kleinen Dampfer, die vom Sommergarten aus in die Newka hinein¬
schießen, überall an den Landungsbrücken mit ihren Häuschen in national¬
russischem Holzstil Fahrgäste einnehmend und absetzend, bis hinaus nach Jelagin
mit seinen kaiserlichen Villen im grünen Park und dem Blick auf die offene
See. Dort draußen auf der Apothekerinsel liegt auch der botanische Garten,
sicher einer der bestgepflegten Europas, im Schmuck seiner alten, prachtvollen
Linden und hochstämmigen Erlen, der Akklimatisationsort für asiatische Pflanzen
und vielleicht einzig durch seine wunderbaren Farren, die an Größe oft mit den
Palmen wetteifern und an Eleganz und Feinheit der Formen sie weit über¬
treffen. Man könnte sich in eine Landschaft der Steinkohlenzeit versetzt glauben.
Wer nicht nach den „Inseln" will, der wandert nach dem zoologischen Garten
an der Festung. Die Tiere sind hier ganz Nebensache und bieten auch abge¬
sehen von den beiden Nilpferden, wahrhaft vorsintflutlichen Ungetümen, deren
Plumpe Komik fortwährend dichte Scharen an ihr Gitter fesselt, wenig Be¬
merkenswertes, wie denn der Garten mit den deutschen Anlagen der Art keinen
Vergleich aushält; den Hauptanziehungspunkt bilden die Vergnügungen, das
Sommertheater und die Konzertsälc. Dort gehen in elektrischer Beleuchtung,
mit buntesten Dekorationswechsel und glänzenden Ballets Ausstattungs- und
Spektakelstücke in Szene, etwa eine „Feerie": „In Amerika," in der die tollsten
Abenteuer durcheinander gehen: Steppenbrand, Überfall eines Zuges auf der
Pacifikbahu, Urwaldreise u. s. w. und ein riesiger Neger den Retter der ver¬
folgten Unschuld spielt; hier treten neben guter Instrumentalmusik — natürlich
unter einem deutschen Kapellmeister — wohl anch „Tiroler" von fragwürdiger
Echtheit auf. deren Lieder eigentümlich sich genug ausnehmen in dieser russischen
Umgebung, doch lebhaft beklatscht werden von Deutschen wie von Russen, ^n
einem andern Lokal führen mittlerweile dressirte Seehunde die unglaublichsten
Kunststücke aus. So geht es in verwirrenden Durcheinander bei verschwen¬
derischer Beleuchtung bis tief in die Nacht hinein, bis die Nacht dem Morgen
zu weichen beginnt. (Fortsetzung folgt.)


Grenzboten II. 1887. ^6
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[0449] Russische Skizzen. heute die russische Herrschaft aufhörte, so würde morgen jede Spur derselben verschwunden sein, bis auf den Jswoschtschik, der auch die finnischen Küstenstädte erobert hat. Denn in diesem Lande der Wälder und Seen herrscht noch un¬ gebrochen die schwedisch-protestantische Kultur, das Russische ist nur wie ein dünner Firniß aufgetragen. Doch wir kehren nach Petersburg zurück. Der lange Sommertag geht zu Ende, spät sinkt die Sonne in glühendem Purpur und steigt frühzeitig wieder empor; eine eigentliche Finsternis tritt hier so wenig ein, daß während des Juni und Juli keine Gaslaterne angezündet wird. Dann strömt alles, wenn der Abend einbricht, aus der heißen Stadt hinaus nach den „Inseln" (Ostrowa) der Newa und Newka mit ihren Parks, Gärten, Vergnügungslokalen und Villen; endlos fahren die Jswoschtschiks. dicht besetzt sind alle Wagen der Pferdebahn und die kleinen Dampfer, die vom Sommergarten aus in die Newka hinein¬ schießen, überall an den Landungsbrücken mit ihren Häuschen in national¬ russischem Holzstil Fahrgäste einnehmend und absetzend, bis hinaus nach Jelagin mit seinen kaiserlichen Villen im grünen Park und dem Blick auf die offene See. Dort draußen auf der Apothekerinsel liegt auch der botanische Garten, sicher einer der bestgepflegten Europas, im Schmuck seiner alten, prachtvollen Linden und hochstämmigen Erlen, der Akklimatisationsort für asiatische Pflanzen und vielleicht einzig durch seine wunderbaren Farren, die an Größe oft mit den Palmen wetteifern und an Eleganz und Feinheit der Formen sie weit über¬ treffen. Man könnte sich in eine Landschaft der Steinkohlenzeit versetzt glauben. Wer nicht nach den „Inseln" will, der wandert nach dem zoologischen Garten an der Festung. Die Tiere sind hier ganz Nebensache und bieten auch abge¬ sehen von den beiden Nilpferden, wahrhaft vorsintflutlichen Ungetümen, deren Plumpe Komik fortwährend dichte Scharen an ihr Gitter fesselt, wenig Be¬ merkenswertes, wie denn der Garten mit den deutschen Anlagen der Art keinen Vergleich aushält; den Hauptanziehungspunkt bilden die Vergnügungen, das Sommertheater und die Konzertsälc. Dort gehen in elektrischer Beleuchtung, mit buntesten Dekorationswechsel und glänzenden Ballets Ausstattungs- und Spektakelstücke in Szene, etwa eine „Feerie": „In Amerika," in der die tollsten Abenteuer durcheinander gehen: Steppenbrand, Überfall eines Zuges auf der Pacifikbahu, Urwaldreise u. s. w. und ein riesiger Neger den Retter der ver¬ folgten Unschuld spielt; hier treten neben guter Instrumentalmusik — natürlich unter einem deutschen Kapellmeister — wohl anch „Tiroler" von fragwürdiger Echtheit auf. deren Lieder eigentümlich sich genug ausnehmen in dieser russischen Umgebung, doch lebhaft beklatscht werden von Deutschen wie von Russen, ^n einem andern Lokal führen mittlerweile dressirte Seehunde die unglaublichsten Kunststücke aus. So geht es in verwirrenden Durcheinander bei verschwen¬ derischer Beleuchtung bis tief in die Nacht hinein, bis die Nacht dem Morgen zu weichen beginnt. (Fortsetzung folgt.) Grenzboten II. 1887. ^6

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/449>, abgerufen am 17.09.2024.