Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zwei Wiener Romane.

G. Keller klüger, wenn er ein solches Versehen seines Martin Salauder dazu
benutzt, um ihn lächerlich zu machen. Abt hat nicht Erfindungsgabe und Er-
zählcrtaleut genug, eine Handlung interessant darzustellen; ohne Spannung
kriecht seine Erzählung von einer Station zur andern und zerflattert in Einzel¬
heiten. Eine charakterlos schwache Frau Farren, welche dem verliebten Maler
Elsner in dem Augenblicke den Laufpaß giebt, wo sich ein reicherer Mann um
ihre Tochter bemüht, wird immerfort als die gute, ehrenwerte Frau Farren
hingestellt. Und mit der Sentimentalität rvmanschreibcnder Frauen wird schlie߬
lich Malvine, die ans Vergnügungssucht ihrem Manne durchgegangen ist, die
ihre Kinder verlassen, Geld erpreßt, den Maler Steiner bestohlen hat, als
reuige Sünderin in die Arme ihres kraft- und marklvsen Gatten zurückgeführt.
Kurz: Friedrich Abt mangelt es nicht bloß an einer Makart geistesverwandten
Phantasie, um den "Farbenrausch" poetisch zu veranschaulichen, sondern auch
an der nötigen poetischen Gestaltungskraft, die uns Menschen mit überzeugender
Lebendigkeit vorzuführen, eine Handlung klar und spannend zu entwickeln ver¬
möchte. Man ist immer ganz andrer Meinung über die Menschen seines Romans,
als Abt selbst -- das ist das schlimmste.

Gerade hier, im rein künstlerischen Können, liegt die Stärke des Autors
der "Wiener Kinder," der sich mit diesem seinem ersten größern Werke vorteil¬
haft in die deutsche Romanliteratur eingeführt hat, nachdem er bisher nicht
immer erfolgreiche Versuche, die Bühne zu gewinnen, gemacht hatte. Der Roman
von Karlweis führt uus nicht wie der Abts in die Kreise der Gebildeten, sonder"
in die des wienerischen Volkes. Sein Schauplatz ist kein Künstleratelicr, sondern
der neuestens durch die humoristischen Sountagspredigten Vincenz Chiavaccis
als "Frau Sophcrl" auch dem Publikum außerhalb Wiens vertraut gemachte
Naschmarkt auf der Wieder. Das weitausgedehnte, höfereiche Gebäude, das
"Freihaus" genannt, welches diesen klassischen Aufenthalt der wortreichen Öbst-
lerinuen begrenzt, beherbergt die Familie des Baupvliers Schober, mit deren
traurigen und heitern Schicksalen uns der neue Roman unterhält. Karlweis
ist offenbar ein Schüler der Franzosen, namentlich des Alphonse Daudet; aber
er hat den guten Geschmack gehabt, die künstlerischen Prinzipien dieser erfolg¬
reichen Schule mit Maß auf sich einwirken zu lassen. Er erzählt mit der
größten Objektivität, er reflektirt niemals, wenn ihm auch zuweilen der poetische
Atem versagt und sich aus den Reden der Gestalt der hinter ihr stehende Ver¬
fasser verrät; aber es geschieht doch nicht häufig. Er ist ein ausgezeichneter
Kenner des Wiener Vvltsgemütes: er kennt seinen leichten Sinn, seine Empfäng¬
lichkeit für sinnliche Eindrücke, seinen biegsamen Charakter, seine Freude an der
Musik, seine Genußsucht, seine Gutmütigkeit und seine Rohheit. Er hat das
Wiener Leben studirt mit der Hingabe des Laudeskindes, der Empfänglichkeit
des Künstlers und der Kritik des Gebildeten. Er ist von Haus aus ein Schrift¬
steller, der ganz aufs Schauen gestellt ist: darum liest sich sein Buch mit so


Zwei Wiener Romane.

G. Keller klüger, wenn er ein solches Versehen seines Martin Salauder dazu
benutzt, um ihn lächerlich zu machen. Abt hat nicht Erfindungsgabe und Er-
zählcrtaleut genug, eine Handlung interessant darzustellen; ohne Spannung
kriecht seine Erzählung von einer Station zur andern und zerflattert in Einzel¬
heiten. Eine charakterlos schwache Frau Farren, welche dem verliebten Maler
Elsner in dem Augenblicke den Laufpaß giebt, wo sich ein reicherer Mann um
ihre Tochter bemüht, wird immerfort als die gute, ehrenwerte Frau Farren
hingestellt. Und mit der Sentimentalität rvmanschreibcnder Frauen wird schlie߬
lich Malvine, die ans Vergnügungssucht ihrem Manne durchgegangen ist, die
ihre Kinder verlassen, Geld erpreßt, den Maler Steiner bestohlen hat, als
reuige Sünderin in die Arme ihres kraft- und marklvsen Gatten zurückgeführt.
Kurz: Friedrich Abt mangelt es nicht bloß an einer Makart geistesverwandten
Phantasie, um den „Farbenrausch" poetisch zu veranschaulichen, sondern auch
an der nötigen poetischen Gestaltungskraft, die uns Menschen mit überzeugender
Lebendigkeit vorzuführen, eine Handlung klar und spannend zu entwickeln ver¬
möchte. Man ist immer ganz andrer Meinung über die Menschen seines Romans,
als Abt selbst — das ist das schlimmste.

Gerade hier, im rein künstlerischen Können, liegt die Stärke des Autors
der „Wiener Kinder," der sich mit diesem seinem ersten größern Werke vorteil¬
haft in die deutsche Romanliteratur eingeführt hat, nachdem er bisher nicht
immer erfolgreiche Versuche, die Bühne zu gewinnen, gemacht hatte. Der Roman
von Karlweis führt uus nicht wie der Abts in die Kreise der Gebildeten, sonder»
in die des wienerischen Volkes. Sein Schauplatz ist kein Künstleratelicr, sondern
der neuestens durch die humoristischen Sountagspredigten Vincenz Chiavaccis
als „Frau Sophcrl" auch dem Publikum außerhalb Wiens vertraut gemachte
Naschmarkt auf der Wieder. Das weitausgedehnte, höfereiche Gebäude, das
„Freihaus" genannt, welches diesen klassischen Aufenthalt der wortreichen Öbst-
lerinuen begrenzt, beherbergt die Familie des Baupvliers Schober, mit deren
traurigen und heitern Schicksalen uns der neue Roman unterhält. Karlweis
ist offenbar ein Schüler der Franzosen, namentlich des Alphonse Daudet; aber
er hat den guten Geschmack gehabt, die künstlerischen Prinzipien dieser erfolg¬
reichen Schule mit Maß auf sich einwirken zu lassen. Er erzählt mit der
größten Objektivität, er reflektirt niemals, wenn ihm auch zuweilen der poetische
Atem versagt und sich aus den Reden der Gestalt der hinter ihr stehende Ver¬
fasser verrät; aber es geschieht doch nicht häufig. Er ist ein ausgezeichneter
Kenner des Wiener Vvltsgemütes: er kennt seinen leichten Sinn, seine Empfäng¬
lichkeit für sinnliche Eindrücke, seinen biegsamen Charakter, seine Freude an der
Musik, seine Genußsucht, seine Gutmütigkeit und seine Rohheit. Er hat das
Wiener Leben studirt mit der Hingabe des Laudeskindes, der Empfänglichkeit
des Künstlers und der Kritik des Gebildeten. Er ist von Haus aus ein Schrift¬
steller, der ganz aufs Schauen gestellt ist: darum liest sich sein Buch mit so


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0044" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/288497"/>
          <fw type="header" place="top"> Zwei Wiener Romane.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_112" prev="#ID_111"> G. Keller klüger, wenn er ein solches Versehen seines Martin Salauder dazu<lb/>
benutzt, um ihn lächerlich zu machen. Abt hat nicht Erfindungsgabe und Er-<lb/>
zählcrtaleut genug, eine Handlung interessant darzustellen; ohne Spannung<lb/>
kriecht seine Erzählung von einer Station zur andern und zerflattert in Einzel¬<lb/>
heiten. Eine charakterlos schwache Frau Farren, welche dem verliebten Maler<lb/>
Elsner in dem Augenblicke den Laufpaß giebt, wo sich ein reicherer Mann um<lb/>
ihre Tochter bemüht, wird immerfort als die gute, ehrenwerte Frau Farren<lb/>
hingestellt. Und mit der Sentimentalität rvmanschreibcnder Frauen wird schlie߬<lb/>
lich Malvine, die ans Vergnügungssucht ihrem Manne durchgegangen ist, die<lb/>
ihre Kinder verlassen, Geld erpreßt, den Maler Steiner bestohlen hat, als<lb/>
reuige Sünderin in die Arme ihres kraft- und marklvsen Gatten zurückgeführt.<lb/>
Kurz: Friedrich Abt mangelt es nicht bloß an einer Makart geistesverwandten<lb/>
Phantasie, um den &#x201E;Farbenrausch" poetisch zu veranschaulichen, sondern auch<lb/>
an der nötigen poetischen Gestaltungskraft, die uns Menschen mit überzeugender<lb/>
Lebendigkeit vorzuführen, eine Handlung klar und spannend zu entwickeln ver¬<lb/>
möchte. Man ist immer ganz andrer Meinung über die Menschen seines Romans,<lb/>
als Abt selbst &#x2014; das ist das schlimmste.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_113" next="#ID_114"> Gerade hier, im rein künstlerischen Können, liegt die Stärke des Autors<lb/>
der &#x201E;Wiener Kinder," der sich mit diesem seinem ersten größern Werke vorteil¬<lb/>
haft in die deutsche Romanliteratur eingeführt hat, nachdem er bisher nicht<lb/>
immer erfolgreiche Versuche, die Bühne zu gewinnen, gemacht hatte. Der Roman<lb/>
von Karlweis führt uus nicht wie der Abts in die Kreise der Gebildeten, sonder»<lb/>
in die des wienerischen Volkes. Sein Schauplatz ist kein Künstleratelicr, sondern<lb/>
der neuestens durch die humoristischen Sountagspredigten Vincenz Chiavaccis<lb/>
als &#x201E;Frau Sophcrl" auch dem Publikum außerhalb Wiens vertraut gemachte<lb/>
Naschmarkt auf der Wieder. Das weitausgedehnte, höfereiche Gebäude, das<lb/>
&#x201E;Freihaus" genannt, welches diesen klassischen Aufenthalt der wortreichen Öbst-<lb/>
lerinuen begrenzt, beherbergt die Familie des Baupvliers Schober, mit deren<lb/>
traurigen und heitern Schicksalen uns der neue Roman unterhält. Karlweis<lb/>
ist offenbar ein Schüler der Franzosen, namentlich des Alphonse Daudet; aber<lb/>
er hat den guten Geschmack gehabt, die künstlerischen Prinzipien dieser erfolg¬<lb/>
reichen Schule mit Maß auf sich einwirken zu lassen. Er erzählt mit der<lb/>
größten Objektivität, er reflektirt niemals, wenn ihm auch zuweilen der poetische<lb/>
Atem versagt und sich aus den Reden der Gestalt der hinter ihr stehende Ver¬<lb/>
fasser verrät; aber es geschieht doch nicht häufig. Er ist ein ausgezeichneter<lb/>
Kenner des Wiener Vvltsgemütes: er kennt seinen leichten Sinn, seine Empfäng¬<lb/>
lichkeit für sinnliche Eindrücke, seinen biegsamen Charakter, seine Freude an der<lb/>
Musik, seine Genußsucht, seine Gutmütigkeit und seine Rohheit. Er hat das<lb/>
Wiener Leben studirt mit der Hingabe des Laudeskindes, der Empfänglichkeit<lb/>
des Künstlers und der Kritik des Gebildeten. Er ist von Haus aus ein Schrift¬<lb/>
steller, der ganz aufs Schauen gestellt ist: darum liest sich sein Buch mit so</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0044] Zwei Wiener Romane. G. Keller klüger, wenn er ein solches Versehen seines Martin Salauder dazu benutzt, um ihn lächerlich zu machen. Abt hat nicht Erfindungsgabe und Er- zählcrtaleut genug, eine Handlung interessant darzustellen; ohne Spannung kriecht seine Erzählung von einer Station zur andern und zerflattert in Einzel¬ heiten. Eine charakterlos schwache Frau Farren, welche dem verliebten Maler Elsner in dem Augenblicke den Laufpaß giebt, wo sich ein reicherer Mann um ihre Tochter bemüht, wird immerfort als die gute, ehrenwerte Frau Farren hingestellt. Und mit der Sentimentalität rvmanschreibcnder Frauen wird schlie߬ lich Malvine, die ans Vergnügungssucht ihrem Manne durchgegangen ist, die ihre Kinder verlassen, Geld erpreßt, den Maler Steiner bestohlen hat, als reuige Sünderin in die Arme ihres kraft- und marklvsen Gatten zurückgeführt. Kurz: Friedrich Abt mangelt es nicht bloß an einer Makart geistesverwandten Phantasie, um den „Farbenrausch" poetisch zu veranschaulichen, sondern auch an der nötigen poetischen Gestaltungskraft, die uns Menschen mit überzeugender Lebendigkeit vorzuführen, eine Handlung klar und spannend zu entwickeln ver¬ möchte. Man ist immer ganz andrer Meinung über die Menschen seines Romans, als Abt selbst — das ist das schlimmste. Gerade hier, im rein künstlerischen Können, liegt die Stärke des Autors der „Wiener Kinder," der sich mit diesem seinem ersten größern Werke vorteil¬ haft in die deutsche Romanliteratur eingeführt hat, nachdem er bisher nicht immer erfolgreiche Versuche, die Bühne zu gewinnen, gemacht hatte. Der Roman von Karlweis führt uus nicht wie der Abts in die Kreise der Gebildeten, sonder» in die des wienerischen Volkes. Sein Schauplatz ist kein Künstleratelicr, sondern der neuestens durch die humoristischen Sountagspredigten Vincenz Chiavaccis als „Frau Sophcrl" auch dem Publikum außerhalb Wiens vertraut gemachte Naschmarkt auf der Wieder. Das weitausgedehnte, höfereiche Gebäude, das „Freihaus" genannt, welches diesen klassischen Aufenthalt der wortreichen Öbst- lerinuen begrenzt, beherbergt die Familie des Baupvliers Schober, mit deren traurigen und heitern Schicksalen uns der neue Roman unterhält. Karlweis ist offenbar ein Schüler der Franzosen, namentlich des Alphonse Daudet; aber er hat den guten Geschmack gehabt, die künstlerischen Prinzipien dieser erfolg¬ reichen Schule mit Maß auf sich einwirken zu lassen. Er erzählt mit der größten Objektivität, er reflektirt niemals, wenn ihm auch zuweilen der poetische Atem versagt und sich aus den Reden der Gestalt der hinter ihr stehende Ver¬ fasser verrät; aber es geschieht doch nicht häufig. Er ist ein ausgezeichneter Kenner des Wiener Vvltsgemütes: er kennt seinen leichten Sinn, seine Empfäng¬ lichkeit für sinnliche Eindrücke, seinen biegsamen Charakter, seine Freude an der Musik, seine Genußsucht, seine Gutmütigkeit und seine Rohheit. Er hat das Wiener Leben studirt mit der Hingabe des Laudeskindes, der Empfänglichkeit des Künstlers und der Kritik des Gebildeten. Er ist von Haus aus ein Schrift¬ steller, der ganz aufs Schauen gestellt ist: darum liest sich sein Buch mit so

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/44
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/44>, abgerufen am 17.09.2024.