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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Zukunftsxoeten.

die nötige Hochachtung vor der Poesie besitzt, sich nicht für Poeten auszugeben
(was schon immerhin eine Ahnung von der Sache selbst beweist), wen" man
nur Geist, Hingabe an die Sache und jenen Denkeifer sein nennen kann, der
sich nicht bei der schallenden Phrase beruhigt, sondern die Dinge immer von
neuem selbst reden läßt, daß mau dann nicht bloß interessant, sondern hin und
wieder sogar poetisch werden kann. Auch die unwürdige und schwächliche Unter¬
ordnung uuter die krankhafte Stimmung eines Zeitabschnittes ist es nicht. Sie
bedeutet, wie die Literaturgeschichte lehrt, immer eine Bildungs- und Durchgangs¬
stufe, nie eine Blüte, einen Höhepunkt der Poesie. Aber sie kann immer zu
sehr achtuugswerteu Erscheinungen führen, und ein Dichter wie Turgenjew
beweist selbst mitten in unserm trostlosen Nealpessimismus, was man auch da
noch leisten kann, wenn man vor allem Dichter ist und erst in zweiter Linie
Pessimist. Aber das wird ein Unheil, wenn mau auf solche Grundlagen sich
einfallen läßt, poetischer Reformator zu werden. Und gar wenn die sich daraus
einzig ergebende schneidende Zuspitzung an und für sich schon zu weit gedieheuer
Extreme im Dienste einer Individualität steht, wie sie ans den oben angeführten
Proben von selbst erhellt. Was kann an dem daraus hervorgegangenen un¬
geheuerlichen Experimenten eines Effekthaschcrs noch poetisch sein! Die Cha¬
raktere, die nichts als Schallröhren oder Schallbecken seines unpoetischen
Ichs sind? Mit denen er dem Plane gegenüber so gleichgiltig umspringt, daß
ihm wie bei jeuer famosen "Gi"a" in der "Wilden Ente" (die plötzlich wie
ans Kommando aus einer mitleidswerteu Büßerin eine lächerliche, Fremdwörter
verdrehende Schlumpe wird), erst in der Mitte des Stückes einfüllt, zu welcher
Rolle er sie verwende" kann? Der Aufbau, diese ganze Pariser Technik mit
ihrem Aktschlußapplvmb, ihrem gekünstelter Hinhalten, das immer an ein
aufgehcnsollendcs Rechenexempel gemahnt und eine Handlung, eine Stimmung
von vornherein ausschließt? Oder gar die wunderbare Erscheinung, daß diese
"Dramen" keine Schlüsse haben, welche geniale Neuerung einfach der ganzen
Unklarheit und philosophischen Unzulänglichkeit des Verfassers ihr Dasein ver¬
dankt? Aber die Sprache! Nun, es bleibt zu bezweifeln, ob man ihretwegen
in Deutschland dänisch lernen wird. Soviel kann gesagt werden, daß die
poetischen Übersetzungen von L. Paffarge dnrch ihre unfreiwillige Komik oft
dazu anreizen, weil man doch sich gern überzeugen möchte, ob das im Original
begründet ist. Aber selbst von den ungeheuerlichen Passargeschen Satz- und
Neimverrenkungcn abgesehen, für die den Übersetzer nicht gefordert zu haben
schon ein sehr weites poetisches Gewissen anzeigt (der "Originalverfasser" ist
des Deutschen offenbar sehr mächtig, wie seine Berliner Feier verriet), das
Wesentliche der Dichtersprache, Bild und Gedankenfassung, ist doch selbst für
solche" Übersetzer unzerstörbar. Und dies weist, wie auch die jedenfalls zuver¬
lässiger übersetzte Prosa bestätigt, auf eine frostige, spröde, teils am Barocken,
teils an: Pvintirten und ciphorismatisch Geistreicheliiden selbstgefällig haf-


Zukunftsxoeten.

die nötige Hochachtung vor der Poesie besitzt, sich nicht für Poeten auszugeben
(was schon immerhin eine Ahnung von der Sache selbst beweist), wen» man
nur Geist, Hingabe an die Sache und jenen Denkeifer sein nennen kann, der
sich nicht bei der schallenden Phrase beruhigt, sondern die Dinge immer von
neuem selbst reden läßt, daß mau dann nicht bloß interessant, sondern hin und
wieder sogar poetisch werden kann. Auch die unwürdige und schwächliche Unter¬
ordnung uuter die krankhafte Stimmung eines Zeitabschnittes ist es nicht. Sie
bedeutet, wie die Literaturgeschichte lehrt, immer eine Bildungs- und Durchgangs¬
stufe, nie eine Blüte, einen Höhepunkt der Poesie. Aber sie kann immer zu
sehr achtuugswerteu Erscheinungen führen, und ein Dichter wie Turgenjew
beweist selbst mitten in unserm trostlosen Nealpessimismus, was man auch da
noch leisten kann, wenn man vor allem Dichter ist und erst in zweiter Linie
Pessimist. Aber das wird ein Unheil, wenn mau auf solche Grundlagen sich
einfallen läßt, poetischer Reformator zu werden. Und gar wenn die sich daraus
einzig ergebende schneidende Zuspitzung an und für sich schon zu weit gedieheuer
Extreme im Dienste einer Individualität steht, wie sie ans den oben angeführten
Proben von selbst erhellt. Was kann an dem daraus hervorgegangenen un¬
geheuerlichen Experimenten eines Effekthaschcrs noch poetisch sein! Die Cha¬
raktere, die nichts als Schallröhren oder Schallbecken seines unpoetischen
Ichs sind? Mit denen er dem Plane gegenüber so gleichgiltig umspringt, daß
ihm wie bei jeuer famosen „Gi»a" in der „Wilden Ente" (die plötzlich wie
ans Kommando aus einer mitleidswerteu Büßerin eine lächerliche, Fremdwörter
verdrehende Schlumpe wird), erst in der Mitte des Stückes einfüllt, zu welcher
Rolle er sie verwende» kann? Der Aufbau, diese ganze Pariser Technik mit
ihrem Aktschlußapplvmb, ihrem gekünstelter Hinhalten, das immer an ein
aufgehcnsollendcs Rechenexempel gemahnt und eine Handlung, eine Stimmung
von vornherein ausschließt? Oder gar die wunderbare Erscheinung, daß diese
„Dramen" keine Schlüsse haben, welche geniale Neuerung einfach der ganzen
Unklarheit und philosophischen Unzulänglichkeit des Verfassers ihr Dasein ver¬
dankt? Aber die Sprache! Nun, es bleibt zu bezweifeln, ob man ihretwegen
in Deutschland dänisch lernen wird. Soviel kann gesagt werden, daß die
poetischen Übersetzungen von L. Paffarge dnrch ihre unfreiwillige Komik oft
dazu anreizen, weil man doch sich gern überzeugen möchte, ob das im Original
begründet ist. Aber selbst von den ungeheuerlichen Passargeschen Satz- und
Neimverrenkungcn abgesehen, für die den Übersetzer nicht gefordert zu haben
schon ein sehr weites poetisches Gewissen anzeigt (der „Originalverfasser" ist
des Deutschen offenbar sehr mächtig, wie seine Berliner Feier verriet), das
Wesentliche der Dichtersprache, Bild und Gedankenfassung, ist doch selbst für
solche» Übersetzer unzerstörbar. Und dies weist, wie auch die jedenfalls zuver¬
lässiger übersetzte Prosa bestätigt, auf eine frostige, spröde, teils am Barocken,
teils an: Pvintirten und ciphorismatisch Geistreicheliiden selbstgefällig haf-


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[0436] Zukunftsxoeten. die nötige Hochachtung vor der Poesie besitzt, sich nicht für Poeten auszugeben (was schon immerhin eine Ahnung von der Sache selbst beweist), wen» man nur Geist, Hingabe an die Sache und jenen Denkeifer sein nennen kann, der sich nicht bei der schallenden Phrase beruhigt, sondern die Dinge immer von neuem selbst reden läßt, daß mau dann nicht bloß interessant, sondern hin und wieder sogar poetisch werden kann. Auch die unwürdige und schwächliche Unter¬ ordnung uuter die krankhafte Stimmung eines Zeitabschnittes ist es nicht. Sie bedeutet, wie die Literaturgeschichte lehrt, immer eine Bildungs- und Durchgangs¬ stufe, nie eine Blüte, einen Höhepunkt der Poesie. Aber sie kann immer zu sehr achtuugswerteu Erscheinungen führen, und ein Dichter wie Turgenjew beweist selbst mitten in unserm trostlosen Nealpessimismus, was man auch da noch leisten kann, wenn man vor allem Dichter ist und erst in zweiter Linie Pessimist. Aber das wird ein Unheil, wenn mau auf solche Grundlagen sich einfallen läßt, poetischer Reformator zu werden. Und gar wenn die sich daraus einzig ergebende schneidende Zuspitzung an und für sich schon zu weit gedieheuer Extreme im Dienste einer Individualität steht, wie sie ans den oben angeführten Proben von selbst erhellt. Was kann an dem daraus hervorgegangenen un¬ geheuerlichen Experimenten eines Effekthaschcrs noch poetisch sein! Die Cha¬ raktere, die nichts als Schallröhren oder Schallbecken seines unpoetischen Ichs sind? Mit denen er dem Plane gegenüber so gleichgiltig umspringt, daß ihm wie bei jeuer famosen „Gi»a" in der „Wilden Ente" (die plötzlich wie ans Kommando aus einer mitleidswerteu Büßerin eine lächerliche, Fremdwörter verdrehende Schlumpe wird), erst in der Mitte des Stückes einfüllt, zu welcher Rolle er sie verwende» kann? Der Aufbau, diese ganze Pariser Technik mit ihrem Aktschlußapplvmb, ihrem gekünstelter Hinhalten, das immer an ein aufgehcnsollendcs Rechenexempel gemahnt und eine Handlung, eine Stimmung von vornherein ausschließt? Oder gar die wunderbare Erscheinung, daß diese „Dramen" keine Schlüsse haben, welche geniale Neuerung einfach der ganzen Unklarheit und philosophischen Unzulänglichkeit des Verfassers ihr Dasein ver¬ dankt? Aber die Sprache! Nun, es bleibt zu bezweifeln, ob man ihretwegen in Deutschland dänisch lernen wird. Soviel kann gesagt werden, daß die poetischen Übersetzungen von L. Paffarge dnrch ihre unfreiwillige Komik oft dazu anreizen, weil man doch sich gern überzeugen möchte, ob das im Original begründet ist. Aber selbst von den ungeheuerlichen Passargeschen Satz- und Neimverrenkungcn abgesehen, für die den Übersetzer nicht gefordert zu haben schon ein sehr weites poetisches Gewissen anzeigt (der „Originalverfasser" ist des Deutschen offenbar sehr mächtig, wie seine Berliner Feier verriet), das Wesentliche der Dichtersprache, Bild und Gedankenfassung, ist doch selbst für solche» Übersetzer unzerstörbar. Und dies weist, wie auch die jedenfalls zuver¬ lässiger übersetzte Prosa bestätigt, auf eine frostige, spröde, teils am Barocken, teils an: Pvintirten und ciphorismatisch Geistreicheliiden selbstgefällig haf-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/436>, abgerufen am 17.09.2024.