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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Die Entartung des Konstitutionalismus.

Volksschule zu einer Nase des gestrengen Herrn Landrath verhelfen hat oder
wenigstens verholfen zu haben meint; wenn Schuster- und Schncidcrlehrlinge
sich täglich mutschöpfend und thatendurstig an den Berichten erbauen, die der
Meister über den Erfolg seiner Opposition gegen den Vorstand eines halben
Dutzends von Vereinen, denen er angehört, zum Besten giebt, und wenn das
alles dann noch bis zum Ekel wiedergekäut wird in dem Sprachrohr der
"öffentlichen Meinung," der "Presse," das sich in jedem Neste von einigen
tausend Einwohnern, welches den Ruhm für sich in Anspruch nimmt, mit der
Zeit fortzuschreiten, neuerdings in zwei Exemplaren vorzufinden pflegt, die, in
gegenseitiger Fehde begriffen, der "Stagnation" gemeinen Wesens vorzu¬
beugen sich berufen fühlen; wenn die Jugend mit einem Worte unaufhörlich
darauf hinhvrchen muß, daß das Heil bei jedem Quark mir im Quängeln, im
Zurückzügeln, im Bedränger und Maßregeln der Autorität bestehe, überall der
Geist des Widerspruchs die Quintessenz des Lebens bilde -- was Wunder,
wenn dann ein stets unzufriedenes und schließlich revolutionäres Geschlecht
aufwächst?

Und da fragt man noch nach den Ursachen der Anmaßung und Ver¬
wilderung der Jugend! Da reden die Pfarrer vom Verfall des kirchlichen
Sinnes, die Lehrer von Frühreife und Unbotmäßigkeit der Schüler, Prinzipale
von Selbstüberhebung der Knechte und Mägde, der Arbeiter, Kommis und
Subalternbeamten! Sie alle, die Gescholtenen, sind am Afterkonstitutionalismus
groß gesäugt worden, sie siud die Frucht aus eigner Saat der Klagenden.

Kehrt zurück zur Vernunft! Lernt einsehen, daß es endlich eine Grenze
giebt, hinter der die Verhältnisse so einfach liegen, daß ein Einziger, der sich
der Sache annimmt mit Einsetzung seines bischen Lebens und Verstandes, sie
leiten muß, daß er nicht von Halbwissen: alle Augenblicke irre gemacht werden
darf, wenn etwas Vernünftiges dabei herauskommen soll, daß die andern sich
ihm unterordnen müssen, selbst auf die Gefahr hin, daß der eine einmal eine
Dummheit machen könne! Die eine Dummheit ist gewöhnlich nicht so arg,
wie die Summe von Dummheiten, die sich anstürmt, wenn alle Welt ihr Licht
mitleuchten lassen will, ohne daß sich Öl auf dem Dochte befindet, und dann
die Illumination zum Jrrlichtertanzc ausartet, bei dem der Karren in den
Sumpf gerät, statt auf den Knüppeldamm der täglichen Notwendigkeit die
Insassen mit heiler Haut zum Ziele zu führen.

Gott besser's! Oder wer will hier Vorschläge machen? Der melde sich.




Die Entartung des Konstitutionalismus.

Volksschule zu einer Nase des gestrengen Herrn Landrath verhelfen hat oder
wenigstens verholfen zu haben meint; wenn Schuster- und Schncidcrlehrlinge
sich täglich mutschöpfend und thatendurstig an den Berichten erbauen, die der
Meister über den Erfolg seiner Opposition gegen den Vorstand eines halben
Dutzends von Vereinen, denen er angehört, zum Besten giebt, und wenn das
alles dann noch bis zum Ekel wiedergekäut wird in dem Sprachrohr der
„öffentlichen Meinung," der „Presse," das sich in jedem Neste von einigen
tausend Einwohnern, welches den Ruhm für sich in Anspruch nimmt, mit der
Zeit fortzuschreiten, neuerdings in zwei Exemplaren vorzufinden pflegt, die, in
gegenseitiger Fehde begriffen, der „Stagnation" gemeinen Wesens vorzu¬
beugen sich berufen fühlen; wenn die Jugend mit einem Worte unaufhörlich
darauf hinhvrchen muß, daß das Heil bei jedem Quark mir im Quängeln, im
Zurückzügeln, im Bedränger und Maßregeln der Autorität bestehe, überall der
Geist des Widerspruchs die Quintessenz des Lebens bilde — was Wunder,
wenn dann ein stets unzufriedenes und schließlich revolutionäres Geschlecht
aufwächst?

Und da fragt man noch nach den Ursachen der Anmaßung und Ver¬
wilderung der Jugend! Da reden die Pfarrer vom Verfall des kirchlichen
Sinnes, die Lehrer von Frühreife und Unbotmäßigkeit der Schüler, Prinzipale
von Selbstüberhebung der Knechte und Mägde, der Arbeiter, Kommis und
Subalternbeamten! Sie alle, die Gescholtenen, sind am Afterkonstitutionalismus
groß gesäugt worden, sie siud die Frucht aus eigner Saat der Klagenden.

Kehrt zurück zur Vernunft! Lernt einsehen, daß es endlich eine Grenze
giebt, hinter der die Verhältnisse so einfach liegen, daß ein Einziger, der sich
der Sache annimmt mit Einsetzung seines bischen Lebens und Verstandes, sie
leiten muß, daß er nicht von Halbwissen: alle Augenblicke irre gemacht werden
darf, wenn etwas Vernünftiges dabei herauskommen soll, daß die andern sich
ihm unterordnen müssen, selbst auf die Gefahr hin, daß der eine einmal eine
Dummheit machen könne! Die eine Dummheit ist gewöhnlich nicht so arg,
wie die Summe von Dummheiten, die sich anstürmt, wenn alle Welt ihr Licht
mitleuchten lassen will, ohne daß sich Öl auf dem Dochte befindet, und dann
die Illumination zum Jrrlichtertanzc ausartet, bei dem der Karren in den
Sumpf gerät, statt auf den Knüppeldamm der täglichen Notwendigkeit die
Insassen mit heiler Haut zum Ziele zu führen.

Gott besser's! Oder wer will hier Vorschläge machen? Der melde sich.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/430>, abgerufen am 17.09.2024.