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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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3. an lediglich zu geselligen Zwecken bestehenden Vereinen:
24. bis 27. vier sogenannte "geschlossene Gesellschaften" mit verschiednen
Namen.

Alle diese Vereinigungen sind ausgestattet mit Satzungen ("Statuten") und einem
mehr oder weniger verwickelten parlamentarischen Apparat. Überall sind die
Befugnisse des Vorstandes, des Ausschusses und der Generalversammlungen
peinlich gegen einander abgewogen. Immer ist die Möglichkeit gegeben, daß
das eine Element alles über den Haufen stoßen kann, was das andre ins Leben
rufen will. Nur kein Vertrauen der Mitglieder zum Vorstande! Das würde
nach Absolutismus riechen! Da giebt es Vorstandssitzungen, Ausschußversamm¬
lungen, Sitzungen des Vorstandes mit dem Ausschuß, außerordentliche Kom¬
missionsberatungen, ordentliche und außerordentliche Generalversammlungen.
Alle Augenblicke wird "getagt" oder vielmehr "genächtigt," neben wenig Gutem
vorzugsweise unendliches Blech mit großer Wichtigthuerei verhandelt und -- die
edle Zeit totgeschlagen!

Jeder dieser Vereine erhebt vor allen Dingen den Anspruch darauf, daß
man sich bei ihm beteiligen müsse, wenn man auf der Höhe des Jahrhunderts
stehen wolle. Turme oder reitet man nicht, so ist man ein verweichlichter
Stubenhocker, der keinen Sinn dafür hat, ein kräftiges Geschlecht um sich her
aufwachsen zu sehen oder anzuzüchten. Protestantelt man nicht, so ist man
natürlich ein irreligiöser, "indifferenter" Kaffer, singt man nicht, ein Kunst¬
verächter, ein materialistisch angehauchtes Individuum, interessirt man sich nicht
für den Gewerbe- oder den Tagelöhnerverein, ein Volksfeind -- u. s. w. in
iullllitnin!

Ich frage zunächst: Was um Gottes Willen sollte denn daraus entstehen,
wenn jeder sich für alle diese Vereinsbestrebuugen gleichmäßig interessiren, allen
beitreten wollte -- in den meisten Fällen natürlich ohne jeden innern Beruf
und Drang, nur um seinen "Bürgersinn" und "Gemeinsinn" zu bethätigen?
Keiner könnte seinem besondern Lebensberufe noch gerecht werden, keiner mehr
seiner Familie und ihren Interessen leben, jeder würde seine Kräfte zersplittern
und in unfruchtbarer Thätigkeit aufreiben.

Diese Gefahr ist indessen die geringere. Jeder macht schließlich doch nur
insoweit mit, als es ohne unmittelbare Schädigung seiner persönlichen Lebens¬
interessen geschehen kann, und die meisten, die es überhaupt thun, verhalten
sich in den Vereinen wenigstens passiv. Der eigentliche Schaden wird gestiftet
durch den Ameisenhaufen- und Mauselochkonstitutivnalismns, der sich in allen
jenen Vereinigungen ausnahmslos breit macht und eine immer noch beklagens¬
wert große Menge von Mitgliedern zu einer ebenso fieberhaften als unfrucht¬
baren geschäftlichen Thätigkeit verleitet, oder zwingt. Diese Sorte von Kon-
stitutioncilismus sorgt dann in ausgiebiger Weise dafür, daß der Einzelne,
namentlich der weniger gebildete, nach und nach einen ganz unmäßigen Begriff


3. an lediglich zu geselligen Zwecken bestehenden Vereinen:
24. bis 27. vier sogenannte „geschlossene Gesellschaften" mit verschiednen
Namen.

Alle diese Vereinigungen sind ausgestattet mit Satzungen („Statuten") und einem
mehr oder weniger verwickelten parlamentarischen Apparat. Überall sind die
Befugnisse des Vorstandes, des Ausschusses und der Generalversammlungen
peinlich gegen einander abgewogen. Immer ist die Möglichkeit gegeben, daß
das eine Element alles über den Haufen stoßen kann, was das andre ins Leben
rufen will. Nur kein Vertrauen der Mitglieder zum Vorstande! Das würde
nach Absolutismus riechen! Da giebt es Vorstandssitzungen, Ausschußversamm¬
lungen, Sitzungen des Vorstandes mit dem Ausschuß, außerordentliche Kom¬
missionsberatungen, ordentliche und außerordentliche Generalversammlungen.
Alle Augenblicke wird „getagt" oder vielmehr „genächtigt," neben wenig Gutem
vorzugsweise unendliches Blech mit großer Wichtigthuerei verhandelt und — die
edle Zeit totgeschlagen!

Jeder dieser Vereine erhebt vor allen Dingen den Anspruch darauf, daß
man sich bei ihm beteiligen müsse, wenn man auf der Höhe des Jahrhunderts
stehen wolle. Turme oder reitet man nicht, so ist man ein verweichlichter
Stubenhocker, der keinen Sinn dafür hat, ein kräftiges Geschlecht um sich her
aufwachsen zu sehen oder anzuzüchten. Protestantelt man nicht, so ist man
natürlich ein irreligiöser, „indifferenter" Kaffer, singt man nicht, ein Kunst¬
verächter, ein materialistisch angehauchtes Individuum, interessirt man sich nicht
für den Gewerbe- oder den Tagelöhnerverein, ein Volksfeind — u. s. w. in
iullllitnin!

Ich frage zunächst: Was um Gottes Willen sollte denn daraus entstehen,
wenn jeder sich für alle diese Vereinsbestrebuugen gleichmäßig interessiren, allen
beitreten wollte — in den meisten Fällen natürlich ohne jeden innern Beruf
und Drang, nur um seinen „Bürgersinn" und „Gemeinsinn" zu bethätigen?
Keiner könnte seinem besondern Lebensberufe noch gerecht werden, keiner mehr
seiner Familie und ihren Interessen leben, jeder würde seine Kräfte zersplittern
und in unfruchtbarer Thätigkeit aufreiben.

Diese Gefahr ist indessen die geringere. Jeder macht schließlich doch nur
insoweit mit, als es ohne unmittelbare Schädigung seiner persönlichen Lebens¬
interessen geschehen kann, und die meisten, die es überhaupt thun, verhalten
sich in den Vereinen wenigstens passiv. Der eigentliche Schaden wird gestiftet
durch den Ameisenhaufen- und Mauselochkonstitutivnalismns, der sich in allen
jenen Vereinigungen ausnahmslos breit macht und eine immer noch beklagens¬
wert große Menge von Mitgliedern zu einer ebenso fieberhaften als unfrucht¬
baren geschäftlichen Thätigkeit verleitet, oder zwingt. Diese Sorte von Kon-
stitutioncilismus sorgt dann in ausgiebiger Weise dafür, daß der Einzelne,
namentlich der weniger gebildete, nach und nach einen ganz unmäßigen Begriff


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/428>, abgerufen am 21.11.2024.