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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Die Entartung des Konstitutionalismus.

im allgemeinen, nach unbefangener Denkungsweise und opferfähigem Gemein-
sinn oft kaum noch ausschlaggebend, hier entschieden häufiger, als man denkt,
nur die kleinlichsten, jammervollsten Augenblicksfragen, Personal- und Famcken-
interessen u. s. w und die Amtsperiode einer so zusammengebrachten Körper¬
schaft bietet dann gewöhnlich das unerquickliche Bild einer fortlaufenden Zänkerei
um Lappalien, einer beständigen unfruchtbaren Reiberei, die nichts Ganzes zu
stände kommen läßt, sondern sich mit Vorliebe in Verfolgung von hunderterlei
Privatinteressen gefällt und die Thätigkeit der leitenden, ausführenden Gewalt
elendiglich lahm 'legt.

Aber, wir sind noch nicht am "dicken Ende." Nun kommen wir nämlich
erst zum eigentlichen Konstitutionalismus in der Westentasche, in das sogenannte
"Vcreinsleb'en" hinunter, wie es in allen Schichten der Gesellschaft, in jedem
Dörfchen wuchert und alle Beziehungen durchsetzt, in denen Menschen nur zu
Menschen stehen können, bis ins Heiligtum des Familienlebens hinein.

Axswxla äoMiit. Ich lebe in einer Landstadt von 6000 Einwohnern, und
diese ist beglückt mit augenblicklich gegen dreißig "Vereinen" - wenn ich nicht
einige vergessen habe --, wobei ich noch von denjenigen absehe, die auswärts
ihren Sitz, im Orte selbst aber auch eine Menge von Mitgliedern haben, wie
z- V. der Gustav-Adolf-Ncrein. der Deutsche Schulverein, der Alpenverein u. s. w.
Die Sache ist als Beispiel zu lehrreich, um nicht etwas näher betrachtet zu
werden. Das Städtchen beherbergt:

1. an sogenannten gemeinnützigen Vereinen:
1. eine Gewerbebank (nach Schulze-Delitzschschen Grundsätzen eingerichtet),
2. einen Konsumverein,
3. einen ökonomischen Verein,
4. einen Gartenbauverein,
5. einen Verschöuerungsverein,
6. einen Protestantenverein,
7. einen Gewcrbeverein,
8. einen Tagelöhnerverein,
9. einen Frauenverein (zu Armenpflegezwccken),
10. eine Ortskrankenkasse,
11. einen Dienstbotenkrankenknsscnverein,
12., 13. zwei Sterbekassenvereine,
14. einen Viehhalterverein,
16. eine Feuerwehr,
10. einen Kriegerverein;
2. um Vereinen zur Kunst- und Sportpflege:
17. einen Waldvercin,
13. einen Männergesangverein,
19., 20. zwei gemischte Gesangvereine,
21. einen Turnverein,
22. einen Reiterverein,
23. einen Radfahrerverein;

Die Entartung des Konstitutionalismus.

im allgemeinen, nach unbefangener Denkungsweise und opferfähigem Gemein-
sinn oft kaum noch ausschlaggebend, hier entschieden häufiger, als man denkt,
nur die kleinlichsten, jammervollsten Augenblicksfragen, Personal- und Famcken-
interessen u. s. w und die Amtsperiode einer so zusammengebrachten Körper¬
schaft bietet dann gewöhnlich das unerquickliche Bild einer fortlaufenden Zänkerei
um Lappalien, einer beständigen unfruchtbaren Reiberei, die nichts Ganzes zu
stände kommen läßt, sondern sich mit Vorliebe in Verfolgung von hunderterlei
Privatinteressen gefällt und die Thätigkeit der leitenden, ausführenden Gewalt
elendiglich lahm 'legt.

Aber, wir sind noch nicht am „dicken Ende." Nun kommen wir nämlich
erst zum eigentlichen Konstitutionalismus in der Westentasche, in das sogenannte
„Vcreinsleb'en" hinunter, wie es in allen Schichten der Gesellschaft, in jedem
Dörfchen wuchert und alle Beziehungen durchsetzt, in denen Menschen nur zu
Menschen stehen können, bis ins Heiligtum des Familienlebens hinein.

Axswxla äoMiit. Ich lebe in einer Landstadt von 6000 Einwohnern, und
diese ist beglückt mit augenblicklich gegen dreißig „Vereinen" - wenn ich nicht
einige vergessen habe —, wobei ich noch von denjenigen absehe, die auswärts
ihren Sitz, im Orte selbst aber auch eine Menge von Mitgliedern haben, wie
z- V. der Gustav-Adolf-Ncrein. der Deutsche Schulverein, der Alpenverein u. s. w.
Die Sache ist als Beispiel zu lehrreich, um nicht etwas näher betrachtet zu
werden. Das Städtchen beherbergt:

1. an sogenannten gemeinnützigen Vereinen:
1. eine Gewerbebank (nach Schulze-Delitzschschen Grundsätzen eingerichtet),
2. einen Konsumverein,
3. einen ökonomischen Verein,
4. einen Gartenbauverein,
5. einen Verschöuerungsverein,
6. einen Protestantenverein,
7. einen Gewcrbeverein,
8. einen Tagelöhnerverein,
9. einen Frauenverein (zu Armenpflegezwccken),
10. eine Ortskrankenkasse,
11. einen Dienstbotenkrankenknsscnverein,
12., 13. zwei Sterbekassenvereine,
14. einen Viehhalterverein,
16. eine Feuerwehr,
10. einen Kriegerverein;
2. um Vereinen zur Kunst- und Sportpflege:
17. einen Waldvercin,
13. einen Männergesangverein,
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[0427] Die Entartung des Konstitutionalismus. im allgemeinen, nach unbefangener Denkungsweise und opferfähigem Gemein- sinn oft kaum noch ausschlaggebend, hier entschieden häufiger, als man denkt, nur die kleinlichsten, jammervollsten Augenblicksfragen, Personal- und Famcken- interessen u. s. w und die Amtsperiode einer so zusammengebrachten Körper¬ schaft bietet dann gewöhnlich das unerquickliche Bild einer fortlaufenden Zänkerei um Lappalien, einer beständigen unfruchtbaren Reiberei, die nichts Ganzes zu stände kommen läßt, sondern sich mit Vorliebe in Verfolgung von hunderterlei Privatinteressen gefällt und die Thätigkeit der leitenden, ausführenden Gewalt elendiglich lahm 'legt. Aber, wir sind noch nicht am „dicken Ende." Nun kommen wir nämlich erst zum eigentlichen Konstitutionalismus in der Westentasche, in das sogenannte „Vcreinsleb'en" hinunter, wie es in allen Schichten der Gesellschaft, in jedem Dörfchen wuchert und alle Beziehungen durchsetzt, in denen Menschen nur zu Menschen stehen können, bis ins Heiligtum des Familienlebens hinein. Axswxla äoMiit. Ich lebe in einer Landstadt von 6000 Einwohnern, und diese ist beglückt mit augenblicklich gegen dreißig „Vereinen" - wenn ich nicht einige vergessen habe —, wobei ich noch von denjenigen absehe, die auswärts ihren Sitz, im Orte selbst aber auch eine Menge von Mitgliedern haben, wie z- V. der Gustav-Adolf-Ncrein. der Deutsche Schulverein, der Alpenverein u. s. w. Die Sache ist als Beispiel zu lehrreich, um nicht etwas näher betrachtet zu werden. Das Städtchen beherbergt: 1. an sogenannten gemeinnützigen Vereinen: 1. eine Gewerbebank (nach Schulze-Delitzschschen Grundsätzen eingerichtet), 2. einen Konsumverein, 3. einen ökonomischen Verein, 4. einen Gartenbauverein, 5. einen Verschöuerungsverein, 6. einen Protestantenverein, 7. einen Gewcrbeverein, 8. einen Tagelöhnerverein, 9. einen Frauenverein (zu Armenpflegezwccken), 10. eine Ortskrankenkasse, 11. einen Dienstbotenkrankenknsscnverein, 12., 13. zwei Sterbekassenvereine, 14. einen Viehhalterverein, 16. eine Feuerwehr, 10. einen Kriegerverein; 2. um Vereinen zur Kunst- und Sportpflege: 17. einen Waldvercin, 13. einen Männergesangverein, 19., 20. zwei gemischte Gesangvereine, 21. einen Turnverein, 22. einen Reiterverein, 23. einen Radfahrerverein;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/427>, abgerufen am 17.09.2024.