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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Die Entartung des Ronstitutionalismus.

-- NUN auch hier erfüllt er ja im wesentlichen noch, was er soll -- möchte
kein unbefangen Denkender ihn wohl entbehren wollen.

Nun folgen Einrichtungen wie Kreistage, größere Gemeindeverbcindc,
bedeutendere Banken, Eisenbahnen, gewerbliche, kaufmännische, gemeinnützige
Verbände aller Art mit einem noch über ganze Länder oder Bevölkerungs-
llasfen sich erstreckenden Wirkungskreise ohne örtliche Beschränkung. Es läßt sich
nicht leugnen, daß schon hier die allen diesen Einrichtungen ausnahmslos ge¬
gebene konstitutionelle Organisation sich vielfach als Hemmschuh gedeihlicher
Fortentwicklung erweisen kann und erwiesen hat; immerhin aber dürfte sie hier
noch nicht durchaus zu missen und im Durchschnitt noch von Nutzen sein. Die
hier zu behandelnden Dinge sind nämlich -- wenigstens zum großem Teile --
immer noch von solcher Wichtigkeit, daß sie, um einen beliebten modernen Aus¬
druck zu gebrauchen, einer "akademischen" Behandlung oft nicht entbehren können,
und daß es schon deshalb zweckmäßig erscheinen mag, die Verantwortlichkeit
zwischen einem Direktorium und irgend einer beratenden, kontrolirenden Körper¬
schaft, beziehentlich deren beiderseitigen Organen zu teilen. Der große, auf
weite Kreise sich erstreckende Umfang der Geschäftsbcziehnngcn solcher Einrich¬
tungen trägt in sich selber noch die Gewähr dafür, daß ins Direktoriuni sowohl
wie in die beratende und kontrolirende Körperschaft vorwiegend Leute gelangen,
die mit Sachkenntnis entweder schon ausgerüstet sind oder doch die Fähigkeit,
die Zeit und den guten Willen haben, sich möglichst bald dazu emporzuarbeiten.

Wie sieht es aber nun noch eine Stufe tiefer, in den zahllosen kleinen
Gemeindeverbänden und in den tausenderlei kleinen, nur für das örtliche Be¬
dürfnis berechneten Einrichtungen obengedachtcr Art aus? Hier wird in vielen
-- ich fürchte in den meisten -- Fällen der mit unerschütterlicher Konsequenz
durchgeführte Konstitutionalismus der Organisation bereits zum Zerrbild dessen,
was damit erreicht werden soll. Man muß in kleinen Orten, namentlich in
Orten, die von Verkehrsmittelpunkten und Verkehrswegen abgelegen sind, gelebt
haben, um zu wissen, was da der Konstitutionalismus besagen will! Bei fünf¬
undsiebzig Prozent aller vorkommenden Fälle kann man hier getrost annehmen,
daß der Bürgermeister, der Schultheiß, der Vorstand, der Direktor u. s. w. mit
seinen etwaigen Hilfsorganen das Interesse der Gesamtheit ebensogut allein zu
wahren imstande sei als unter dem Beirat des bischen "Intelligenz," das ihm
allenfalls in Form einer koNtrolirenden Körperschaft noch zur Seite gesetzt
werden könnte. Die Dümmsten werden ja in der Regel nicht an die Spitze
gestellt (obschon es hie und da auch vorkommen soll), das parlamentarische
Wesen ist hier im Durchschitt einfach überflüssig und nichts mehr als eine bloße
Spielerei. Schon die Wahlen der "Stadtverordneten," "Beigeordneten," "Aus¬
schußmitglieder," "Ältesten," "Verwaltungsräte," "Kommissionsmitglicder" oder
wie die Titel dieser Duodezparlamcntarier alle heißen mögen, gestalten sich oft
zu einer anwidernden Komödie. Bei ihnen ist die Frage nach "Intelligenz"


Die Entartung des Ronstitutionalismus.

— NUN auch hier erfüllt er ja im wesentlichen noch, was er soll — möchte
kein unbefangen Denkender ihn wohl entbehren wollen.

Nun folgen Einrichtungen wie Kreistage, größere Gemeindeverbcindc,
bedeutendere Banken, Eisenbahnen, gewerbliche, kaufmännische, gemeinnützige
Verbände aller Art mit einem noch über ganze Länder oder Bevölkerungs-
llasfen sich erstreckenden Wirkungskreise ohne örtliche Beschränkung. Es läßt sich
nicht leugnen, daß schon hier die allen diesen Einrichtungen ausnahmslos ge¬
gebene konstitutionelle Organisation sich vielfach als Hemmschuh gedeihlicher
Fortentwicklung erweisen kann und erwiesen hat; immerhin aber dürfte sie hier
noch nicht durchaus zu missen und im Durchschnitt noch von Nutzen sein. Die
hier zu behandelnden Dinge sind nämlich — wenigstens zum großem Teile —
immer noch von solcher Wichtigkeit, daß sie, um einen beliebten modernen Aus¬
druck zu gebrauchen, einer „akademischen" Behandlung oft nicht entbehren können,
und daß es schon deshalb zweckmäßig erscheinen mag, die Verantwortlichkeit
zwischen einem Direktorium und irgend einer beratenden, kontrolirenden Körper¬
schaft, beziehentlich deren beiderseitigen Organen zu teilen. Der große, auf
weite Kreise sich erstreckende Umfang der Geschäftsbcziehnngcn solcher Einrich¬
tungen trägt in sich selber noch die Gewähr dafür, daß ins Direktoriuni sowohl
wie in die beratende und kontrolirende Körperschaft vorwiegend Leute gelangen,
die mit Sachkenntnis entweder schon ausgerüstet sind oder doch die Fähigkeit,
die Zeit und den guten Willen haben, sich möglichst bald dazu emporzuarbeiten.

Wie sieht es aber nun noch eine Stufe tiefer, in den zahllosen kleinen
Gemeindeverbänden und in den tausenderlei kleinen, nur für das örtliche Be¬
dürfnis berechneten Einrichtungen obengedachtcr Art aus? Hier wird in vielen
— ich fürchte in den meisten — Fällen der mit unerschütterlicher Konsequenz
durchgeführte Konstitutionalismus der Organisation bereits zum Zerrbild dessen,
was damit erreicht werden soll. Man muß in kleinen Orten, namentlich in
Orten, die von Verkehrsmittelpunkten und Verkehrswegen abgelegen sind, gelebt
haben, um zu wissen, was da der Konstitutionalismus besagen will! Bei fünf¬
undsiebzig Prozent aller vorkommenden Fälle kann man hier getrost annehmen,
daß der Bürgermeister, der Schultheiß, der Vorstand, der Direktor u. s. w. mit
seinen etwaigen Hilfsorganen das Interesse der Gesamtheit ebensogut allein zu
wahren imstande sei als unter dem Beirat des bischen „Intelligenz," das ihm
allenfalls in Form einer koNtrolirenden Körperschaft noch zur Seite gesetzt
werden könnte. Die Dümmsten werden ja in der Regel nicht an die Spitze
gestellt (obschon es hie und da auch vorkommen soll), das parlamentarische
Wesen ist hier im Durchschitt einfach überflüssig und nichts mehr als eine bloße
Spielerei. Schon die Wahlen der „Stadtverordneten," „Beigeordneten," „Aus¬
schußmitglieder," „Ältesten," „Verwaltungsräte," „Kommissionsmitglicder" oder
wie die Titel dieser Duodezparlamcntarier alle heißen mögen, gestalten sich oft
zu einer anwidernden Komödie. Bei ihnen ist die Frage nach „Intelligenz"


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[0426] Die Entartung des Ronstitutionalismus. — NUN auch hier erfüllt er ja im wesentlichen noch, was er soll — möchte kein unbefangen Denkender ihn wohl entbehren wollen. Nun folgen Einrichtungen wie Kreistage, größere Gemeindeverbcindc, bedeutendere Banken, Eisenbahnen, gewerbliche, kaufmännische, gemeinnützige Verbände aller Art mit einem noch über ganze Länder oder Bevölkerungs- llasfen sich erstreckenden Wirkungskreise ohne örtliche Beschränkung. Es läßt sich nicht leugnen, daß schon hier die allen diesen Einrichtungen ausnahmslos ge¬ gebene konstitutionelle Organisation sich vielfach als Hemmschuh gedeihlicher Fortentwicklung erweisen kann und erwiesen hat; immerhin aber dürfte sie hier noch nicht durchaus zu missen und im Durchschnitt noch von Nutzen sein. Die hier zu behandelnden Dinge sind nämlich — wenigstens zum großem Teile — immer noch von solcher Wichtigkeit, daß sie, um einen beliebten modernen Aus¬ druck zu gebrauchen, einer „akademischen" Behandlung oft nicht entbehren können, und daß es schon deshalb zweckmäßig erscheinen mag, die Verantwortlichkeit zwischen einem Direktorium und irgend einer beratenden, kontrolirenden Körper¬ schaft, beziehentlich deren beiderseitigen Organen zu teilen. Der große, auf weite Kreise sich erstreckende Umfang der Geschäftsbcziehnngcn solcher Einrich¬ tungen trägt in sich selber noch die Gewähr dafür, daß ins Direktoriuni sowohl wie in die beratende und kontrolirende Körperschaft vorwiegend Leute gelangen, die mit Sachkenntnis entweder schon ausgerüstet sind oder doch die Fähigkeit, die Zeit und den guten Willen haben, sich möglichst bald dazu emporzuarbeiten. Wie sieht es aber nun noch eine Stufe tiefer, in den zahllosen kleinen Gemeindeverbänden und in den tausenderlei kleinen, nur für das örtliche Be¬ dürfnis berechneten Einrichtungen obengedachtcr Art aus? Hier wird in vielen — ich fürchte in den meisten — Fällen der mit unerschütterlicher Konsequenz durchgeführte Konstitutionalismus der Organisation bereits zum Zerrbild dessen, was damit erreicht werden soll. Man muß in kleinen Orten, namentlich in Orten, die von Verkehrsmittelpunkten und Verkehrswegen abgelegen sind, gelebt haben, um zu wissen, was da der Konstitutionalismus besagen will! Bei fünf¬ undsiebzig Prozent aller vorkommenden Fälle kann man hier getrost annehmen, daß der Bürgermeister, der Schultheiß, der Vorstand, der Direktor u. s. w. mit seinen etwaigen Hilfsorganen das Interesse der Gesamtheit ebensogut allein zu wahren imstande sei als unter dem Beirat des bischen „Intelligenz," das ihm allenfalls in Form einer koNtrolirenden Körperschaft noch zur Seite gesetzt werden könnte. Die Dümmsten werden ja in der Regel nicht an die Spitze gestellt (obschon es hie und da auch vorkommen soll), das parlamentarische Wesen ist hier im Durchschitt einfach überflüssig und nichts mehr als eine bloße Spielerei. Schon die Wahlen der „Stadtverordneten," „Beigeordneten," „Aus¬ schußmitglieder," „Ältesten," „Verwaltungsräte," „Kommissionsmitglicder" oder wie die Titel dieser Duodezparlamcntarier alle heißen mögen, gestalten sich oft zu einer anwidernden Komödie. Bei ihnen ist die Frage nach „Intelligenz"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/426>, abgerufen am 17.09.2024.