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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Mancher Deutsche, der nie Paris betreten hat, kennt die schöne Stadt sehr
gut bloß vom Lesen französischer Romane her; denn seit zwei Menschenaltern
führen die bedeutendsten Werke dieser Gattung fast ausschließlich nach Paris,
sei es in den Schatten der Kathedrale von Notre-Dame oder auf die weit sich
hinstreckenden Boulevards oder in den volkreichen Louvre; jeder Teil, jedes
M-U'tior von Paris hat seinen Poeten gefunden und seine literarische Weihe
erhalten. In Deutschland konnte dergleichen Romanpoesie bis in die Gegenwart
nicht entstehen: es fehlte bisher jenes große Stadtzentrum, welches vermöge
seiner überragenden politischen Stellung die Aufmerksamkeit und Teilnahme der
Nation an sich hätte fesseln können. Mit dem Aufschwünge der Reichshaupt¬
stadt Berlin- zur gewaltigen Großstadt und zum thatsächlichen Mittelpunkte der
vereinigten deutschen Nation ist aber einel, gleichzeitig der großstädtische Roman
auf dem Markte erschienen. Und der herrschende realistische Geschmack in der
Literatur, der auf das unvoreingenommene Erfassen der Wirklichkeit, womöglich
auch der allerjüngsten Wirklichkeit, sein Augenmerk richtet, kommt dieser neuen
belletristischen Aufgabe bereitwilligst entgegen.

Etwas ganz Eigenartiges ist das großstädtische Leben jedenfalls. Der
nationale Roman Gustav Freytags, der sozial-politische Friedrich Spielhagens,
der Künstlerroman Paul Heyses werden dieser Eigenart nicht gerecht. Die
Großstadt ist eine Welt für sich, die neben ihrer eignen Post, Polizei und
Eisenbahn ihre eigne Fauna und Flora im wörtlichen und übertragenen Sinne
hat. Gewisse Existenzen sind nur in der Großstadt möglich, so gut wie diese
ihre ganz eigne Industrie und ihre eigne Presse besitzt. Sie hat ihre eignen
materiellen Lebensbedingungen, ihren eignen Umgangston. ihre eignen Moden,
vielleicht auch ihre eigne Moral. Das Volk der Großstadt unterscheidet sich
wesentlich von dem Volke der sie umgebenden Provinz: berlinisch ist nicht
märkisch, wienerisch ist nicht niederösterreichisch; dieses Volk hat seinen eignen
Dialekt, seine eignen Lieder, Vergnügen und Scherze. Die gewaltigen sozialen
Gegensätze von Arm und Reich stehen nnr in der Großstadt so kraß einander
gegenüber; diese allein hat ihre "obern Zehntausend," ihre "Arbeiterbataillone,"
ihre "Halb- und Viertelwelt," ein Massenproletariat -- durchaus neue, von
der Großstadt untrennbare Begriffe. Sie hat ihre eigne Natur, ihr eignes
Wetter, ihre eigne Atmosphäre. Unter einem unendlich verwickelten Netze künst¬
licher Bedingungen läßt die Großstadt ihre Menschheit aufwachsen und verleiht
ihr ein originales (freilich nicht gerade ideales) Gepräge. Viele Eigentümlich¬
keiten dieser Bevölkerung kehren in alle" Großstädten wieder: der Wiener und
Berliner haben miteinander manchen Charakterzug gemein, der sie von dem
Niederöfterreicher und Märker trennt. Indes hat jede Großstadt wieder ihr
eignes nationales Gepräge, und man wird nicht wienerisch mit berlinisch ver¬
wechseln.

Das Unternehmen, diese großstädtische Welt im Roman zu schildern, muß


Grenzboten II. 1887. S

Mancher Deutsche, der nie Paris betreten hat, kennt die schöne Stadt sehr
gut bloß vom Lesen französischer Romane her; denn seit zwei Menschenaltern
führen die bedeutendsten Werke dieser Gattung fast ausschließlich nach Paris,
sei es in den Schatten der Kathedrale von Notre-Dame oder auf die weit sich
hinstreckenden Boulevards oder in den volkreichen Louvre; jeder Teil, jedes
M-U'tior von Paris hat seinen Poeten gefunden und seine literarische Weihe
erhalten. In Deutschland konnte dergleichen Romanpoesie bis in die Gegenwart
nicht entstehen: es fehlte bisher jenes große Stadtzentrum, welches vermöge
seiner überragenden politischen Stellung die Aufmerksamkeit und Teilnahme der
Nation an sich hätte fesseln können. Mit dem Aufschwünge der Reichshaupt¬
stadt Berlin- zur gewaltigen Großstadt und zum thatsächlichen Mittelpunkte der
vereinigten deutschen Nation ist aber einel, gleichzeitig der großstädtische Roman
auf dem Markte erschienen. Und der herrschende realistische Geschmack in der
Literatur, der auf das unvoreingenommene Erfassen der Wirklichkeit, womöglich
auch der allerjüngsten Wirklichkeit, sein Augenmerk richtet, kommt dieser neuen
belletristischen Aufgabe bereitwilligst entgegen.

Etwas ganz Eigenartiges ist das großstädtische Leben jedenfalls. Der
nationale Roman Gustav Freytags, der sozial-politische Friedrich Spielhagens,
der Künstlerroman Paul Heyses werden dieser Eigenart nicht gerecht. Die
Großstadt ist eine Welt für sich, die neben ihrer eignen Post, Polizei und
Eisenbahn ihre eigne Fauna und Flora im wörtlichen und übertragenen Sinne
hat. Gewisse Existenzen sind nur in der Großstadt möglich, so gut wie diese
ihre ganz eigne Industrie und ihre eigne Presse besitzt. Sie hat ihre eignen
materiellen Lebensbedingungen, ihren eignen Umgangston. ihre eignen Moden,
vielleicht auch ihre eigne Moral. Das Volk der Großstadt unterscheidet sich
wesentlich von dem Volke der sie umgebenden Provinz: berlinisch ist nicht
märkisch, wienerisch ist nicht niederösterreichisch; dieses Volk hat seinen eignen
Dialekt, seine eignen Lieder, Vergnügen und Scherze. Die gewaltigen sozialen
Gegensätze von Arm und Reich stehen nnr in der Großstadt so kraß einander
gegenüber; diese allein hat ihre „obern Zehntausend," ihre „Arbeiterbataillone,"
ihre „Halb- und Viertelwelt," ein Massenproletariat — durchaus neue, von
der Großstadt untrennbare Begriffe. Sie hat ihre eigne Natur, ihr eignes
Wetter, ihre eigne Atmosphäre. Unter einem unendlich verwickelten Netze künst¬
licher Bedingungen läßt die Großstadt ihre Menschheit aufwachsen und verleiht
ihr ein originales (freilich nicht gerade ideales) Gepräge. Viele Eigentümlich¬
keiten dieser Bevölkerung kehren in alle» Großstädten wieder: der Wiener und
Berliner haben miteinander manchen Charakterzug gemein, der sie von dem
Niederöfterreicher und Märker trennt. Indes hat jede Großstadt wieder ihr
eignes nationales Gepräge, und man wird nicht wienerisch mit berlinisch ver¬
wechseln.

Das Unternehmen, diese großstädtische Welt im Roman zu schildern, muß


Grenzboten II. 1887. S
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[0041] Mancher Deutsche, der nie Paris betreten hat, kennt die schöne Stadt sehr gut bloß vom Lesen französischer Romane her; denn seit zwei Menschenaltern führen die bedeutendsten Werke dieser Gattung fast ausschließlich nach Paris, sei es in den Schatten der Kathedrale von Notre-Dame oder auf die weit sich hinstreckenden Boulevards oder in den volkreichen Louvre; jeder Teil, jedes M-U'tior von Paris hat seinen Poeten gefunden und seine literarische Weihe erhalten. In Deutschland konnte dergleichen Romanpoesie bis in die Gegenwart nicht entstehen: es fehlte bisher jenes große Stadtzentrum, welches vermöge seiner überragenden politischen Stellung die Aufmerksamkeit und Teilnahme der Nation an sich hätte fesseln können. Mit dem Aufschwünge der Reichshaupt¬ stadt Berlin- zur gewaltigen Großstadt und zum thatsächlichen Mittelpunkte der vereinigten deutschen Nation ist aber einel, gleichzeitig der großstädtische Roman auf dem Markte erschienen. Und der herrschende realistische Geschmack in der Literatur, der auf das unvoreingenommene Erfassen der Wirklichkeit, womöglich auch der allerjüngsten Wirklichkeit, sein Augenmerk richtet, kommt dieser neuen belletristischen Aufgabe bereitwilligst entgegen. Etwas ganz Eigenartiges ist das großstädtische Leben jedenfalls. Der nationale Roman Gustav Freytags, der sozial-politische Friedrich Spielhagens, der Künstlerroman Paul Heyses werden dieser Eigenart nicht gerecht. Die Großstadt ist eine Welt für sich, die neben ihrer eignen Post, Polizei und Eisenbahn ihre eigne Fauna und Flora im wörtlichen und übertragenen Sinne hat. Gewisse Existenzen sind nur in der Großstadt möglich, so gut wie diese ihre ganz eigne Industrie und ihre eigne Presse besitzt. Sie hat ihre eignen materiellen Lebensbedingungen, ihren eignen Umgangston. ihre eignen Moden, vielleicht auch ihre eigne Moral. Das Volk der Großstadt unterscheidet sich wesentlich von dem Volke der sie umgebenden Provinz: berlinisch ist nicht märkisch, wienerisch ist nicht niederösterreichisch; dieses Volk hat seinen eignen Dialekt, seine eignen Lieder, Vergnügen und Scherze. Die gewaltigen sozialen Gegensätze von Arm und Reich stehen nnr in der Großstadt so kraß einander gegenüber; diese allein hat ihre „obern Zehntausend," ihre „Arbeiterbataillone," ihre „Halb- und Viertelwelt," ein Massenproletariat — durchaus neue, von der Großstadt untrennbare Begriffe. Sie hat ihre eigne Natur, ihr eignes Wetter, ihre eigne Atmosphäre. Unter einem unendlich verwickelten Netze künst¬ licher Bedingungen läßt die Großstadt ihre Menschheit aufwachsen und verleiht ihr ein originales (freilich nicht gerade ideales) Gepräge. Viele Eigentümlich¬ keiten dieser Bevölkerung kehren in alle» Großstädten wieder: der Wiener und Berliner haben miteinander manchen Charakterzug gemein, der sie von dem Niederöfterreicher und Märker trennt. Indes hat jede Großstadt wieder ihr eignes nationales Gepräge, und man wird nicht wienerisch mit berlinisch ver¬ wechseln. Das Unternehmen, diese großstädtische Welt im Roman zu schildern, muß Grenzboten II. 1887. S

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/41>, abgerufen am 17.09.2024.