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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Zukunftspoeten.

nicht so scharf, wie man heutzutage in einer produzentenreichen Zeit zum Besten
der ihr gemäßen Arbeitsteilung anzunehmen liebt. Aber die Grenzen zwischen
dichterischer Kunst und Wissenschaft sind sehr scharf, ja sie sind haarscharf zu
bestimmen, und die Frage, wer bei ihrer Verrückung mehr verliert, der Dichter
oder Gelehrte, dürfte für den Dichter wenigstens sehr leicht zu entscheiden sein.
Gleichwohl ist, so lange man in der Welt dichtet, d. h. so lange man eine ge¬
sonderte "poetische" Kunst kennt, noch nie derart gegen sie gesündigt worden,
wie heute, wo man diese Unterschiede so genau zu kennen vorgiebt. Ja es ist
zu glauben, man habe über den Unterschieden die Sache selbst vergessen. Format
freilich ist man ja so abgeschlossen von einander als nur irgend möglich. Man
schreibt keine Lehrgedichte mehr und hüllt die Wissenschaft nicht wie früher oft
genug in krause, poetische Mäntelchen. Selbst der Roman, der Gliedermanu,
der früher so geduldig still hielt, wenn die Natur gegen den philosophischen
Schneider sich wehrte, läßt ja bekanntlich jetzt umgekehrt die Natur so aus¬
gesprochen hervortreten, daß man ihr nicht bloß jegliche Rippe zählen, sondern
sogar jegliche Ausdünstung analysiren kann. Damit weiß man sich nun sehr
viel. Aber es ist sehr die Frage, ob damit auch wirklich soviel gewonnen ist.
Thatsächlich hat der experimentale Roman mit dem philosophischen, hat die Zeit
der dichtenden Lebhaftigkeit mit der der lehrhaften Dichtung mehr gemein, als
sie ahnt und -- da sie so vornehm auf jene herabblickt -- jemals Wort haben
möchte. War jene über das Was der Dichtung im Unklaren, so ist es diese
über das Wie; verkannte jene den Stoff der Poesie, so verkennn: diese ihr
Wesen. Eine spätere Zeit möge darüber urteilen, welches von beiden das
Schlimmere ist. Möge es mit ähnlicher Heiterkeit und Geistesfreiheit geschehen,
mit der etwa unsre großen Dichter auf das Lehrgedicht herabsahen, und ohne
ein Gefühl von Reue und tiefer Beschämung. Der unsern, soweit sie sich das
Gefühl für das Wesen der Poesie bewahrt hat, liegt nur ob, immer und immer
wieder darauf hinzuweisen, daß diese Art "Dichtung" ihren eigentlichen Inhalt
und Kern nicht nur auf das gröblichste mißversteht, sondern auch das Gefühl
dafür systematisch untergräbt und verschüttet.

Alle Eigentümlichkeiten des Charakters und Geistes eines Zeitalters sammeln
sich schließlich in seiner poetischen Literatur. Zum Verständnis der eben be¬
zeichneten, für unser Zeitalter leider typischen, überlege man sich einmal, nicht
nur wie "materiell," sondern wie wesentlich unpoetisch diese seine Eigentümlich¬
keiten sind. Im Sturm und Drang, in der überschwänglichen, gefährlichen,
aber in ihrer Neuheit und Reinheit großen und heiligen "Menschlichkeitsidee"
des Nevolutionsjahrhuudcrts lag -- da sie selbst leider so poetisch ist -- eine
mächtige Anregung für die Poesie. In diese hat sie sich auch bei dem Volke,
das seiner Natur und Vergangenheit nach am fähigsten sein mußte, sie richtig
zu erfassen, bei dem Volke der Reformation, ja alsbald geflüchtet, und hier gab
der schäumende Most einen herrlichen Wein. Wie aber die nicht bloß mit


Zukunftspoeten.

nicht so scharf, wie man heutzutage in einer produzentenreichen Zeit zum Besten
der ihr gemäßen Arbeitsteilung anzunehmen liebt. Aber die Grenzen zwischen
dichterischer Kunst und Wissenschaft sind sehr scharf, ja sie sind haarscharf zu
bestimmen, und die Frage, wer bei ihrer Verrückung mehr verliert, der Dichter
oder Gelehrte, dürfte für den Dichter wenigstens sehr leicht zu entscheiden sein.
Gleichwohl ist, so lange man in der Welt dichtet, d. h. so lange man eine ge¬
sonderte „poetische" Kunst kennt, noch nie derart gegen sie gesündigt worden,
wie heute, wo man diese Unterschiede so genau zu kennen vorgiebt. Ja es ist
zu glauben, man habe über den Unterschieden die Sache selbst vergessen. Format
freilich ist man ja so abgeschlossen von einander als nur irgend möglich. Man
schreibt keine Lehrgedichte mehr und hüllt die Wissenschaft nicht wie früher oft
genug in krause, poetische Mäntelchen. Selbst der Roman, der Gliedermanu,
der früher so geduldig still hielt, wenn die Natur gegen den philosophischen
Schneider sich wehrte, läßt ja bekanntlich jetzt umgekehrt die Natur so aus¬
gesprochen hervortreten, daß man ihr nicht bloß jegliche Rippe zählen, sondern
sogar jegliche Ausdünstung analysiren kann. Damit weiß man sich nun sehr
viel. Aber es ist sehr die Frage, ob damit auch wirklich soviel gewonnen ist.
Thatsächlich hat der experimentale Roman mit dem philosophischen, hat die Zeit
der dichtenden Lebhaftigkeit mit der der lehrhaften Dichtung mehr gemein, als
sie ahnt und — da sie so vornehm auf jene herabblickt — jemals Wort haben
möchte. War jene über das Was der Dichtung im Unklaren, so ist es diese
über das Wie; verkannte jene den Stoff der Poesie, so verkennn: diese ihr
Wesen. Eine spätere Zeit möge darüber urteilen, welches von beiden das
Schlimmere ist. Möge es mit ähnlicher Heiterkeit und Geistesfreiheit geschehen,
mit der etwa unsre großen Dichter auf das Lehrgedicht herabsahen, und ohne
ein Gefühl von Reue und tiefer Beschämung. Der unsern, soweit sie sich das
Gefühl für das Wesen der Poesie bewahrt hat, liegt nur ob, immer und immer
wieder darauf hinzuweisen, daß diese Art „Dichtung" ihren eigentlichen Inhalt
und Kern nicht nur auf das gröblichste mißversteht, sondern auch das Gefühl
dafür systematisch untergräbt und verschüttet.

Alle Eigentümlichkeiten des Charakters und Geistes eines Zeitalters sammeln
sich schließlich in seiner poetischen Literatur. Zum Verständnis der eben be¬
zeichneten, für unser Zeitalter leider typischen, überlege man sich einmal, nicht
nur wie „materiell," sondern wie wesentlich unpoetisch diese seine Eigentümlich¬
keiten sind. Im Sturm und Drang, in der überschwänglichen, gefährlichen,
aber in ihrer Neuheit und Reinheit großen und heiligen „Menschlichkeitsidee"
des Nevolutionsjahrhuudcrts lag — da sie selbst leider so poetisch ist — eine
mächtige Anregung für die Poesie. In diese hat sie sich auch bei dem Volke,
das seiner Natur und Vergangenheit nach am fähigsten sein mußte, sie richtig
zu erfassen, bei dem Volke der Reformation, ja alsbald geflüchtet, und hier gab
der schäumende Most einen herrlichen Wein. Wie aber die nicht bloß mit


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/382>, abgerufen am 17.09.2024.