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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Der Mißbrauch des Wortes Entwicklung.

entwicklung des absoluten Freihandels auf die Begründung großartiger Mono¬
pole hinaus, die man einer Staatsregierung nicht gönnen will, im Interesse
der einzelnen reichen Firmen oder Gesellschaften. Wer das leugnen will, der
muß erst beweisen, daß nicht die Selbstsucht die mächtigste Triebfeder aller
Handelsunternehmungen ist.

Zu welchen furchtbaren sozialen Gegensätzen die Freiheit der Industrie
führt, sehen wir an der Geschichte der Fabrikstaaten der Neuzeit. Es soll nicht
geleugnet werden, daß hie und da ein weitblickender, hochgebildltcr Besitzer großer
Fabriken für das Wohl seiner Arbeiter in edler und humaner Weise bedacht
gewesen ist, aber im allgemeinen ist doch erst die Hilfe des Staates und seiner
Gesetzgebung angerufen worden, um nur den schreiendsten Übelständen abzuhelfen.
Eine Beschränkung der Freiheit war dringend notwendig, um viele tausend
Kinder und Frauen vor dem Untergange zu retten. Was aber in dem eigent¬
lichen Geld-, Börsen- und Bankwesen die völlige Freiheit der Spekulanten
bedeutet, das hat Deutschland in den letzten Jahrzehnten zur Genüge kennen
gelernt. Dem Handwerk glaubte man eine große Wohlthat zu erweisen, wenn
man es von den einengendem Schranken der veralteten Zünfte befreite und
ganz der eignen freien Entwicklung überließ. Aber von Jahr zu Jahr müssen
wir jetzt immer lautere Klagen hören über den Verfall und den Rückschritt
des redlichen Kleingewerbes im Gegensatz zu dem Aufblühen einzelner großen
fabrikähnlichen Betriebe. Immer dringender erhebt sich die Forderung nach
Beschränkung der Freiheit durch neue Organisationen. Den Ärzten glaubte
man in ihren Interessen zu helfen, wenn man sie von einigen lästigen Pflichten
befreite und dafür die freie Konkurrenz im weitesten Sinne gewähren ließ. Aber
niemals sind so viel Klagen über den Notstand der Ärzte und Zunahme der
Kurpfuscher gehört worden, wie seit jener gesetzlichen Freigebung des Gewerbes.
Die Freiheit der Presse verlangte die stets wiederholte Forderung aller Li¬
beralen, aber seitdem sie frei geworden ist, ist wohl die Zahl, aber nicht der
Wert der Zeitungen und der Bücher gestiegen. Vor der Aufhebung der Zensur
wird sich schwerlich das Sprichwort entwickelt haben: Er lügt wie gedruckt. Wie
kurze Zeit erst war vergangen, nachdem man Preßfreiheit, Redefreiheit, Ver¬
sammlungsfreiheit und Koalitionsfreiheit den Arbeitern gewährt hatte, um ihre
Wohlfahrt entwickeln zu helfen, als man sich in Deutschland genötigt sah,
Ausnahmegesetze zu geben, welche die Freiheit einschränken mußten, um den
unerträglichen Mißbrauch derselben einigermaßen zu verhindern!

Wollten wir schließlich die Folgen alle schildern, die durch die Befreiung
des religiösen Gewissens von der Autorität der römischen Kirche in der Re¬
formation für die protestantische Kirche entsprungen sind, so müßten wir ganze
Bücher füllen. Nur soviel wollen wir andeuten, daß einerseits zwar durch und
infolge der Reformation die reichsten und erfreulichsten Früchte in Wissenschaft,
Staats- und sozialem Leben gezeitigt worden sind, aber anderseits der Mangel


Der Mißbrauch des Wortes Entwicklung.

entwicklung des absoluten Freihandels auf die Begründung großartiger Mono¬
pole hinaus, die man einer Staatsregierung nicht gönnen will, im Interesse
der einzelnen reichen Firmen oder Gesellschaften. Wer das leugnen will, der
muß erst beweisen, daß nicht die Selbstsucht die mächtigste Triebfeder aller
Handelsunternehmungen ist.

Zu welchen furchtbaren sozialen Gegensätzen die Freiheit der Industrie
führt, sehen wir an der Geschichte der Fabrikstaaten der Neuzeit. Es soll nicht
geleugnet werden, daß hie und da ein weitblickender, hochgebildltcr Besitzer großer
Fabriken für das Wohl seiner Arbeiter in edler und humaner Weise bedacht
gewesen ist, aber im allgemeinen ist doch erst die Hilfe des Staates und seiner
Gesetzgebung angerufen worden, um nur den schreiendsten Übelständen abzuhelfen.
Eine Beschränkung der Freiheit war dringend notwendig, um viele tausend
Kinder und Frauen vor dem Untergange zu retten. Was aber in dem eigent¬
lichen Geld-, Börsen- und Bankwesen die völlige Freiheit der Spekulanten
bedeutet, das hat Deutschland in den letzten Jahrzehnten zur Genüge kennen
gelernt. Dem Handwerk glaubte man eine große Wohlthat zu erweisen, wenn
man es von den einengendem Schranken der veralteten Zünfte befreite und
ganz der eignen freien Entwicklung überließ. Aber von Jahr zu Jahr müssen
wir jetzt immer lautere Klagen hören über den Verfall und den Rückschritt
des redlichen Kleingewerbes im Gegensatz zu dem Aufblühen einzelner großen
fabrikähnlichen Betriebe. Immer dringender erhebt sich die Forderung nach
Beschränkung der Freiheit durch neue Organisationen. Den Ärzten glaubte
man in ihren Interessen zu helfen, wenn man sie von einigen lästigen Pflichten
befreite und dafür die freie Konkurrenz im weitesten Sinne gewähren ließ. Aber
niemals sind so viel Klagen über den Notstand der Ärzte und Zunahme der
Kurpfuscher gehört worden, wie seit jener gesetzlichen Freigebung des Gewerbes.
Die Freiheit der Presse verlangte die stets wiederholte Forderung aller Li¬
beralen, aber seitdem sie frei geworden ist, ist wohl die Zahl, aber nicht der
Wert der Zeitungen und der Bücher gestiegen. Vor der Aufhebung der Zensur
wird sich schwerlich das Sprichwort entwickelt haben: Er lügt wie gedruckt. Wie
kurze Zeit erst war vergangen, nachdem man Preßfreiheit, Redefreiheit, Ver¬
sammlungsfreiheit und Koalitionsfreiheit den Arbeitern gewährt hatte, um ihre
Wohlfahrt entwickeln zu helfen, als man sich in Deutschland genötigt sah,
Ausnahmegesetze zu geben, welche die Freiheit einschränken mußten, um den
unerträglichen Mißbrauch derselben einigermaßen zu verhindern!

Wollten wir schließlich die Folgen alle schildern, die durch die Befreiung
des religiösen Gewissens von der Autorität der römischen Kirche in der Re¬
formation für die protestantische Kirche entsprungen sind, so müßten wir ganze
Bücher füllen. Nur soviel wollen wir andeuten, daß einerseits zwar durch und
infolge der Reformation die reichsten und erfreulichsten Früchte in Wissenschaft,
Staats- und sozialem Leben gezeitigt worden sind, aber anderseits der Mangel


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[0362] Der Mißbrauch des Wortes Entwicklung. entwicklung des absoluten Freihandels auf die Begründung großartiger Mono¬ pole hinaus, die man einer Staatsregierung nicht gönnen will, im Interesse der einzelnen reichen Firmen oder Gesellschaften. Wer das leugnen will, der muß erst beweisen, daß nicht die Selbstsucht die mächtigste Triebfeder aller Handelsunternehmungen ist. Zu welchen furchtbaren sozialen Gegensätzen die Freiheit der Industrie führt, sehen wir an der Geschichte der Fabrikstaaten der Neuzeit. Es soll nicht geleugnet werden, daß hie und da ein weitblickender, hochgebildltcr Besitzer großer Fabriken für das Wohl seiner Arbeiter in edler und humaner Weise bedacht gewesen ist, aber im allgemeinen ist doch erst die Hilfe des Staates und seiner Gesetzgebung angerufen worden, um nur den schreiendsten Übelständen abzuhelfen. Eine Beschränkung der Freiheit war dringend notwendig, um viele tausend Kinder und Frauen vor dem Untergange zu retten. Was aber in dem eigent¬ lichen Geld-, Börsen- und Bankwesen die völlige Freiheit der Spekulanten bedeutet, das hat Deutschland in den letzten Jahrzehnten zur Genüge kennen gelernt. Dem Handwerk glaubte man eine große Wohlthat zu erweisen, wenn man es von den einengendem Schranken der veralteten Zünfte befreite und ganz der eignen freien Entwicklung überließ. Aber von Jahr zu Jahr müssen wir jetzt immer lautere Klagen hören über den Verfall und den Rückschritt des redlichen Kleingewerbes im Gegensatz zu dem Aufblühen einzelner großen fabrikähnlichen Betriebe. Immer dringender erhebt sich die Forderung nach Beschränkung der Freiheit durch neue Organisationen. Den Ärzten glaubte man in ihren Interessen zu helfen, wenn man sie von einigen lästigen Pflichten befreite und dafür die freie Konkurrenz im weitesten Sinne gewähren ließ. Aber niemals sind so viel Klagen über den Notstand der Ärzte und Zunahme der Kurpfuscher gehört worden, wie seit jener gesetzlichen Freigebung des Gewerbes. Die Freiheit der Presse verlangte die stets wiederholte Forderung aller Li¬ beralen, aber seitdem sie frei geworden ist, ist wohl die Zahl, aber nicht der Wert der Zeitungen und der Bücher gestiegen. Vor der Aufhebung der Zensur wird sich schwerlich das Sprichwort entwickelt haben: Er lügt wie gedruckt. Wie kurze Zeit erst war vergangen, nachdem man Preßfreiheit, Redefreiheit, Ver¬ sammlungsfreiheit und Koalitionsfreiheit den Arbeitern gewährt hatte, um ihre Wohlfahrt entwickeln zu helfen, als man sich in Deutschland genötigt sah, Ausnahmegesetze zu geben, welche die Freiheit einschränken mußten, um den unerträglichen Mißbrauch derselben einigermaßen zu verhindern! Wollten wir schließlich die Folgen alle schildern, die durch die Befreiung des religiösen Gewissens von der Autorität der römischen Kirche in der Re¬ formation für die protestantische Kirche entsprungen sind, so müßten wir ganze Bücher füllen. Nur soviel wollen wir andeuten, daß einerseits zwar durch und infolge der Reformation die reichsten und erfreulichsten Früchte in Wissenschaft, Staats- und sozialem Leben gezeitigt worden sind, aber anderseits der Mangel

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/362>, abgerufen am 17.09.2024.