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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Der Mißbrauch des Wortes Entwicklung.

Zwar hat sich auch hier die Erfahrung niemals dem Dogma günstig
gezeigt, aber was hilft das gegen das Verhalten idealistischer Schwärmer oder
roher Gewaltmenschen! Wenn wir je etwas aus der Geschichte gelernt haben,
so ist es doch vor allem die Wahrheit, daß die übermäßig erweiterte Freiheit
des Volkes überall zur Tyrannei geführt hat. Es sollte doch eigentlich Ma
Kar sein, daß der ersehnte Zustand völliger Freiheit, in welchem keine Re¬
gierungen und keine Staaten vorhanden wären, nichts andres sein kam^ als
der Krieg aller gegen alle, in welchem niemand verhindern kann, daß der Starke
und selbstsüchtige den Schwächern zum Sklaven macht. Die höhere geistige
Begabung giebt dem Menschen nicht nur das Übergewicht über die Tiere, sondern
auch über die schwächern Genossen des eignen Geschlechtes, und warum er seine
Kräfte im ursprünglich freiesten Zustande, ohne Erziehung, die sich in nicht
ohne einigen Zwang denken läßt, anders gebrauchen sollte, als die wilden Tiere
in ihrer Freiheit, ist garnicht einzusehen. Wir brauchen aber nicht erst, um
das zu begreifen, auf rohe Völker im Urzustande zu verweisen, wir können auch
w der Geschichte unsers Jahrhunderts, ans dessen hohe Kultur wir stolz sind
Studien über die Wirkungen der Freiheit anstellen. Das freieste Land sagt
man. ist das reichste und glücklichste, und zeigt dabei auf die ungewöhnlich
schnelle Entwicklung der nordamerikanischen Freistaaten. Und gewiß ist me
freie Konkurrenz ein gewaltiger Antrieb zur höchsten Anstrengung aller Kräfte,
und so lange es noch kulturfähige, bisher unbenutzte Länderstrecken dort giebt,
werden mir von außen gewiß das Bild einer großartigen Weiterentwicklung
vor uns sehen. Aber sind denn diese glücklichen Freistaaten verschont geblieben
vom Bürgerkrieg, von Verbrechen aller Art und von Unterdrückung, von Aus¬
beutung der Schwachen durch die Starken, von den Gefahren der sozialen
Revolution? Nur die Unwissenheit könnte das bejahen.

In den Kreisen der Kaufleute heißt es: Nur die völlige ^Handel gedeihen, keine Zollschranken. womöglich ke.ne se"a l"he Aufsicht ab
Beschränkung irgend welcher Art find die Bedingung, unter der sich d Haide
allein zum Heile der Völker entwickeln kann. Aber zu derselben Zeit, in welcher
diese Theorie mit dem größten Nachdruck über Europa verbreitet wurde r-
>pansee auch die Einsicht, daß diese Freiheit in erster Linie den Reichen zu Gute
komme und die Armen nur noch ärmer mache; daß em reiches Volk wie das
englische auf diesem Wege zwar großartige Fortschritte in der En w.all^seines Reichtums machen könne, aber ans Kosten andrer Volker, d.e ihre ^dustrie und Produktion noch nicht soweit ausgebildet hatten w:e das mach g
Inselreich. Und das freieste Land, Nordamerika, ging voran Mi Bruch alt
dem Grundsatze des Freihandels, und die andern Staaten Europas mußten steh
mehr oder weniger auch bequemen, mit den gMverhei^Freihandels zu brechen, und begannen sich mit Schutz ""d Schirm egen e
übermächtige Konkurrenz zu versehen. Unverkennbar läuft die konsequente Weüer-


Grenzboten II. 1887.
Der Mißbrauch des Wortes Entwicklung.

Zwar hat sich auch hier die Erfahrung niemals dem Dogma günstig
gezeigt, aber was hilft das gegen das Verhalten idealistischer Schwärmer oder
roher Gewaltmenschen! Wenn wir je etwas aus der Geschichte gelernt haben,
so ist es doch vor allem die Wahrheit, daß die übermäßig erweiterte Freiheit
des Volkes überall zur Tyrannei geführt hat. Es sollte doch eigentlich Ma
Kar sein, daß der ersehnte Zustand völliger Freiheit, in welchem keine Re¬
gierungen und keine Staaten vorhanden wären, nichts andres sein kam^ als
der Krieg aller gegen alle, in welchem niemand verhindern kann, daß der Starke
und selbstsüchtige den Schwächern zum Sklaven macht. Die höhere geistige
Begabung giebt dem Menschen nicht nur das Übergewicht über die Tiere, sondern
auch über die schwächern Genossen des eignen Geschlechtes, und warum er seine
Kräfte im ursprünglich freiesten Zustande, ohne Erziehung, die sich in nicht
ohne einigen Zwang denken läßt, anders gebrauchen sollte, als die wilden Tiere
in ihrer Freiheit, ist garnicht einzusehen. Wir brauchen aber nicht erst, um
das zu begreifen, auf rohe Völker im Urzustande zu verweisen, wir können auch
w der Geschichte unsers Jahrhunderts, ans dessen hohe Kultur wir stolz sind
Studien über die Wirkungen der Freiheit anstellen. Das freieste Land sagt
man. ist das reichste und glücklichste, und zeigt dabei auf die ungewöhnlich
schnelle Entwicklung der nordamerikanischen Freistaaten. Und gewiß ist me
freie Konkurrenz ein gewaltiger Antrieb zur höchsten Anstrengung aller Kräfte,
und so lange es noch kulturfähige, bisher unbenutzte Länderstrecken dort giebt,
werden mir von außen gewiß das Bild einer großartigen Weiterentwicklung
vor uns sehen. Aber sind denn diese glücklichen Freistaaten verschont geblieben
vom Bürgerkrieg, von Verbrechen aller Art und von Unterdrückung, von Aus¬
beutung der Schwachen durch die Starken, von den Gefahren der sozialen
Revolution? Nur die Unwissenheit könnte das bejahen.

In den Kreisen der Kaufleute heißt es: Nur die völlige ^Handel gedeihen, keine Zollschranken. womöglich ke.ne se"a l"he Aufsicht ab
Beschränkung irgend welcher Art find die Bedingung, unter der sich d Haide
allein zum Heile der Völker entwickeln kann. Aber zu derselben Zeit, in welcher
diese Theorie mit dem größten Nachdruck über Europa verbreitet wurde r-
>pansee auch die Einsicht, daß diese Freiheit in erster Linie den Reichen zu Gute
komme und die Armen nur noch ärmer mache; daß em reiches Volk wie das
englische auf diesem Wege zwar großartige Fortschritte in der En w.all^seines Reichtums machen könne, aber ans Kosten andrer Volker, d.e ihre ^dustrie und Produktion noch nicht soweit ausgebildet hatten w:e das mach g
Inselreich. Und das freieste Land, Nordamerika, ging voran Mi Bruch alt
dem Grundsatze des Freihandels, und die andern Staaten Europas mußten steh
mehr oder weniger auch bequemen, mit den gMverhei^Freihandels zu brechen, und begannen sich mit Schutz »"d Schirm egen e
übermächtige Konkurrenz zu versehen. Unverkennbar läuft die konsequente Weüer-


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[0361] Der Mißbrauch des Wortes Entwicklung. Zwar hat sich auch hier die Erfahrung niemals dem Dogma günstig gezeigt, aber was hilft das gegen das Verhalten idealistischer Schwärmer oder roher Gewaltmenschen! Wenn wir je etwas aus der Geschichte gelernt haben, so ist es doch vor allem die Wahrheit, daß die übermäßig erweiterte Freiheit des Volkes überall zur Tyrannei geführt hat. Es sollte doch eigentlich Ma Kar sein, daß der ersehnte Zustand völliger Freiheit, in welchem keine Re¬ gierungen und keine Staaten vorhanden wären, nichts andres sein kam^ als der Krieg aller gegen alle, in welchem niemand verhindern kann, daß der Starke und selbstsüchtige den Schwächern zum Sklaven macht. Die höhere geistige Begabung giebt dem Menschen nicht nur das Übergewicht über die Tiere, sondern auch über die schwächern Genossen des eignen Geschlechtes, und warum er seine Kräfte im ursprünglich freiesten Zustande, ohne Erziehung, die sich in nicht ohne einigen Zwang denken läßt, anders gebrauchen sollte, als die wilden Tiere in ihrer Freiheit, ist garnicht einzusehen. Wir brauchen aber nicht erst, um das zu begreifen, auf rohe Völker im Urzustande zu verweisen, wir können auch w der Geschichte unsers Jahrhunderts, ans dessen hohe Kultur wir stolz sind Studien über die Wirkungen der Freiheit anstellen. Das freieste Land sagt man. ist das reichste und glücklichste, und zeigt dabei auf die ungewöhnlich schnelle Entwicklung der nordamerikanischen Freistaaten. Und gewiß ist me freie Konkurrenz ein gewaltiger Antrieb zur höchsten Anstrengung aller Kräfte, und so lange es noch kulturfähige, bisher unbenutzte Länderstrecken dort giebt, werden mir von außen gewiß das Bild einer großartigen Weiterentwicklung vor uns sehen. Aber sind denn diese glücklichen Freistaaten verschont geblieben vom Bürgerkrieg, von Verbrechen aller Art und von Unterdrückung, von Aus¬ beutung der Schwachen durch die Starken, von den Gefahren der sozialen Revolution? Nur die Unwissenheit könnte das bejahen. In den Kreisen der Kaufleute heißt es: Nur die völlige ^Handel gedeihen, keine Zollschranken. womöglich ke.ne se"a l"he Aufsicht ab Beschränkung irgend welcher Art find die Bedingung, unter der sich d Haide allein zum Heile der Völker entwickeln kann. Aber zu derselben Zeit, in welcher diese Theorie mit dem größten Nachdruck über Europa verbreitet wurde r- >pansee auch die Einsicht, daß diese Freiheit in erster Linie den Reichen zu Gute komme und die Armen nur noch ärmer mache; daß em reiches Volk wie das englische auf diesem Wege zwar großartige Fortschritte in der En w.all^seines Reichtums machen könne, aber ans Kosten andrer Volker, d.e ihre ^dustrie und Produktion noch nicht soweit ausgebildet hatten w:e das mach g Inselreich. Und das freieste Land, Nordamerika, ging voran Mi Bruch alt dem Grundsatze des Freihandels, und die andern Staaten Europas mußten steh mehr oder weniger auch bequemen, mit den gMverhei^Freihandels zu brechen, und begannen sich mit Schutz »"d Schirm egen e übermächtige Konkurrenz zu versehen. Unverkennbar läuft die konsequente Weüer- Grenzboten II. 1887.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/361>, abgerufen am 17.09.2024.