Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
"Österreich im Frühjahre ^3^9-

"Wiener Lloyd," den Prager Blättern entnommen ist, würde hinreichen, die
Stimmung der Parteien zu schildern; und wenn gar Äußerungen tschechischer
Zeitschriften im Urtext angeführt werden, so kann das kaum einen andern Zweck
haben, als deutschen Lesern durch den Anblick von Wörtern wie ring-urit- raa
tjni >v^oKva1o>vMM ?rü8k6d0 Krake einen ungewohnten Genuß zu bereiten.
Auch bei den Auszügen aus Reden hätte eine viel größere Sparsamkeit walten
können, wenn man auch begreift, daß den Worten des "Abgeordneten für
Tachau" eine besondre Bedeutung beigelegt wird, da dieser böhmische Wahl¬
bezirk durch den Unterstciatssetretcir Heisere vertreten wurde. Man darf zur
Rechtfertigung der vielen Zitate und der unwichtigen Einzelheiten nicht auf das
Beispiel Taines verweisen. Der französische Historiker mußte die Wahrheit zur
Geltung bringen gegenüber der in tausend und abertausend Formen verbreiteten
Legende; über die Revolution in Österreich und Ungarn und über die Thätigkeit
des Reichstages in Wien und Kremsier steht das Urteil längst fest.

Sollte etwa dem Verfasser selbst bei der Aussicht, den weiteren Verlauf
der innern und äußern Geschichte Österreichs in gleicher Umständlichkeit be¬
richten zu müssen, bange geworden sein? In dem Stoffe wenigstens vermögen
wir keinen Grund dafür zu entdecken, daß der Abschnitt gerade Mitte März 1849
gemacht worden ist. Der Reichstag war aufgelöst, eine Verfassung einseitig
verliehen, sodaß die österreichische Revolution im engern Sinne allerdings als
beendigt betrachtet werden konnte. Aber Helfcrts Arbeit beschäftigt sich ja nicht
mit dieser allein, und in allen andern Beziehungen stand man damals noch vor
ungelösten Fragen. Die Schlacht bei Novara war noch nicht geschlagen,
Venedig nicht erobert, in Ungarn hatten die Dinge soeben wieder eine sehr
bedenkliche Wendung genommen, und wer will sagen, wie ohne die russische
Hilfe und Kossuths Überhebung der Ausgang gewesen wäre? Auch die Ent¬
scheidung in Frankfurt stand noch aus, mit voller Sicherheit war nicht voraus¬
zusehen, wie sich Preußen zur Verfassungs- und Oberhauptsfrage stellen würde,
und so lange Österreich in Ungarn und Italien gebunden war, hatten dessen
Noten in der deutschen Frage keine große praktische Bedeutung. Nun konnte
allerdings ein Schlußkapitel kurz mitteilen, in welcher Weise sich alle diese Ver¬
wicklungen vorläufig lösten. Doch auch darauf hat der Verfasser verzichtet.
Ohne eine schüchterne Andeutung zwischen den Zeilen müßte der Leser glauben,
die Verfassung vom 4. März sei ins Leben getreten. Er hört eine Menge be¬
geisterter Stimmen, welche Österreich als den freiesten Staat in Europa preisen
und alle Stämme des Staates einig und zufrieden sehen, er lernt auch bereits
die stolzen Phantasien von einem mitteleuropäischen Reiche kennen, welches mit
seinen Vasallengebieten sich vom Po und vom Eisernen Thor bis an die nor¬
dischen Meere ausdehnen sollte (Phantasien, an denen bis über den Pariser
Kongreß hinaus mit Zähigkeit festgehalten wurde); er erfährt, daß Österreich
in einer Depesche vom 17. Mürz in Frankfurt wissen ließ, es "denke nicht


«Österreich im Frühjahre ^3^9-

„Wiener Lloyd," den Prager Blättern entnommen ist, würde hinreichen, die
Stimmung der Parteien zu schildern; und wenn gar Äußerungen tschechischer
Zeitschriften im Urtext angeführt werden, so kann das kaum einen andern Zweck
haben, als deutschen Lesern durch den Anblick von Wörtern wie ring-urit- raa
tjni >v^oKva1o>vMM ?rü8k6d0 Krake einen ungewohnten Genuß zu bereiten.
Auch bei den Auszügen aus Reden hätte eine viel größere Sparsamkeit walten
können, wenn man auch begreift, daß den Worten des „Abgeordneten für
Tachau" eine besondre Bedeutung beigelegt wird, da dieser böhmische Wahl¬
bezirk durch den Unterstciatssetretcir Heisere vertreten wurde. Man darf zur
Rechtfertigung der vielen Zitate und der unwichtigen Einzelheiten nicht auf das
Beispiel Taines verweisen. Der französische Historiker mußte die Wahrheit zur
Geltung bringen gegenüber der in tausend und abertausend Formen verbreiteten
Legende; über die Revolution in Österreich und Ungarn und über die Thätigkeit
des Reichstages in Wien und Kremsier steht das Urteil längst fest.

Sollte etwa dem Verfasser selbst bei der Aussicht, den weiteren Verlauf
der innern und äußern Geschichte Österreichs in gleicher Umständlichkeit be¬
richten zu müssen, bange geworden sein? In dem Stoffe wenigstens vermögen
wir keinen Grund dafür zu entdecken, daß der Abschnitt gerade Mitte März 1849
gemacht worden ist. Der Reichstag war aufgelöst, eine Verfassung einseitig
verliehen, sodaß die österreichische Revolution im engern Sinne allerdings als
beendigt betrachtet werden konnte. Aber Helfcrts Arbeit beschäftigt sich ja nicht
mit dieser allein, und in allen andern Beziehungen stand man damals noch vor
ungelösten Fragen. Die Schlacht bei Novara war noch nicht geschlagen,
Venedig nicht erobert, in Ungarn hatten die Dinge soeben wieder eine sehr
bedenkliche Wendung genommen, und wer will sagen, wie ohne die russische
Hilfe und Kossuths Überhebung der Ausgang gewesen wäre? Auch die Ent¬
scheidung in Frankfurt stand noch aus, mit voller Sicherheit war nicht voraus¬
zusehen, wie sich Preußen zur Verfassungs- und Oberhauptsfrage stellen würde,
und so lange Österreich in Ungarn und Italien gebunden war, hatten dessen
Noten in der deutschen Frage keine große praktische Bedeutung. Nun konnte
allerdings ein Schlußkapitel kurz mitteilen, in welcher Weise sich alle diese Ver¬
wicklungen vorläufig lösten. Doch auch darauf hat der Verfasser verzichtet.
Ohne eine schüchterne Andeutung zwischen den Zeilen müßte der Leser glauben,
die Verfassung vom 4. März sei ins Leben getreten. Er hört eine Menge be¬
geisterter Stimmen, welche Österreich als den freiesten Staat in Europa preisen
und alle Stämme des Staates einig und zufrieden sehen, er lernt auch bereits
die stolzen Phantasien von einem mitteleuropäischen Reiche kennen, welches mit
seinen Vasallengebieten sich vom Po und vom Eisernen Thor bis an die nor¬
dischen Meere ausdehnen sollte (Phantasien, an denen bis über den Pariser
Kongreß hinaus mit Zähigkeit festgehalten wurde); er erfährt, daß Österreich
in einer Depesche vom 17. Mürz in Frankfurt wissen ließ, es „denke nicht


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0354" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/288807"/>
          <fw type="header" place="top"> «Österreich im Frühjahre ^3^9-</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1020" prev="#ID_1019"> &#x201E;Wiener Lloyd," den Prager Blättern entnommen ist, würde hinreichen, die<lb/>
Stimmung der Parteien zu schildern; und wenn gar Äußerungen tschechischer<lb/>
Zeitschriften im Urtext angeführt werden, so kann das kaum einen andern Zweck<lb/>
haben, als deutschen Lesern durch den Anblick von Wörtern wie ring-urit- raa<lb/>
tjni &gt;v^oKva1o&gt;vMM ?rü8k6d0 Krake einen ungewohnten Genuß zu bereiten.<lb/>
Auch bei den Auszügen aus Reden hätte eine viel größere Sparsamkeit walten<lb/>
können, wenn man auch begreift, daß den Worten des &#x201E;Abgeordneten für<lb/>
Tachau" eine besondre Bedeutung beigelegt wird, da dieser böhmische Wahl¬<lb/>
bezirk durch den Unterstciatssetretcir Heisere vertreten wurde. Man darf zur<lb/>
Rechtfertigung der vielen Zitate und der unwichtigen Einzelheiten nicht auf das<lb/>
Beispiel Taines verweisen. Der französische Historiker mußte die Wahrheit zur<lb/>
Geltung bringen gegenüber der in tausend und abertausend Formen verbreiteten<lb/>
Legende; über die Revolution in Österreich und Ungarn und über die Thätigkeit<lb/>
des Reichstages in Wien und Kremsier steht das Urteil längst fest.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1021" next="#ID_1022"> Sollte etwa dem Verfasser selbst bei der Aussicht, den weiteren Verlauf<lb/>
der innern und äußern Geschichte Österreichs in gleicher Umständlichkeit be¬<lb/>
richten zu müssen, bange geworden sein? In dem Stoffe wenigstens vermögen<lb/>
wir keinen Grund dafür zu entdecken, daß der Abschnitt gerade Mitte März 1849<lb/>
gemacht worden ist. Der Reichstag war aufgelöst, eine Verfassung einseitig<lb/>
verliehen, sodaß die österreichische Revolution im engern Sinne allerdings als<lb/>
beendigt betrachtet werden konnte. Aber Helfcrts Arbeit beschäftigt sich ja nicht<lb/>
mit dieser allein, und in allen andern Beziehungen stand man damals noch vor<lb/>
ungelösten Fragen. Die Schlacht bei Novara war noch nicht geschlagen,<lb/>
Venedig nicht erobert, in Ungarn hatten die Dinge soeben wieder eine sehr<lb/>
bedenkliche Wendung genommen, und wer will sagen, wie ohne die russische<lb/>
Hilfe und Kossuths Überhebung der Ausgang gewesen wäre? Auch die Ent¬<lb/>
scheidung in Frankfurt stand noch aus, mit voller Sicherheit war nicht voraus¬<lb/>
zusehen, wie sich Preußen zur Verfassungs- und Oberhauptsfrage stellen würde,<lb/>
und so lange Österreich in Ungarn und Italien gebunden war, hatten dessen<lb/>
Noten in der deutschen Frage keine große praktische Bedeutung. Nun konnte<lb/>
allerdings ein Schlußkapitel kurz mitteilen, in welcher Weise sich alle diese Ver¬<lb/>
wicklungen vorläufig lösten. Doch auch darauf hat der Verfasser verzichtet.<lb/>
Ohne eine schüchterne Andeutung zwischen den Zeilen müßte der Leser glauben,<lb/>
die Verfassung vom 4. März sei ins Leben getreten. Er hört eine Menge be¬<lb/>
geisterter Stimmen, welche Österreich als den freiesten Staat in Europa preisen<lb/>
und alle Stämme des Staates einig und zufrieden sehen, er lernt auch bereits<lb/>
die stolzen Phantasien von einem mitteleuropäischen Reiche kennen, welches mit<lb/>
seinen Vasallengebieten sich vom Po und vom Eisernen Thor bis an die nor¬<lb/>
dischen Meere ausdehnen sollte (Phantasien, an denen bis über den Pariser<lb/>
Kongreß hinaus mit Zähigkeit festgehalten wurde); er erfährt, daß Österreich<lb/>
in einer Depesche vom 17. Mürz in Frankfurt wissen ließ, es &#x201E;denke nicht</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0354] «Österreich im Frühjahre ^3^9- „Wiener Lloyd," den Prager Blättern entnommen ist, würde hinreichen, die Stimmung der Parteien zu schildern; und wenn gar Äußerungen tschechischer Zeitschriften im Urtext angeführt werden, so kann das kaum einen andern Zweck haben, als deutschen Lesern durch den Anblick von Wörtern wie ring-urit- raa tjni >v^oKva1o>vMM ?rü8k6d0 Krake einen ungewohnten Genuß zu bereiten. Auch bei den Auszügen aus Reden hätte eine viel größere Sparsamkeit walten können, wenn man auch begreift, daß den Worten des „Abgeordneten für Tachau" eine besondre Bedeutung beigelegt wird, da dieser böhmische Wahl¬ bezirk durch den Unterstciatssetretcir Heisere vertreten wurde. Man darf zur Rechtfertigung der vielen Zitate und der unwichtigen Einzelheiten nicht auf das Beispiel Taines verweisen. Der französische Historiker mußte die Wahrheit zur Geltung bringen gegenüber der in tausend und abertausend Formen verbreiteten Legende; über die Revolution in Österreich und Ungarn und über die Thätigkeit des Reichstages in Wien und Kremsier steht das Urteil längst fest. Sollte etwa dem Verfasser selbst bei der Aussicht, den weiteren Verlauf der innern und äußern Geschichte Österreichs in gleicher Umständlichkeit be¬ richten zu müssen, bange geworden sein? In dem Stoffe wenigstens vermögen wir keinen Grund dafür zu entdecken, daß der Abschnitt gerade Mitte März 1849 gemacht worden ist. Der Reichstag war aufgelöst, eine Verfassung einseitig verliehen, sodaß die österreichische Revolution im engern Sinne allerdings als beendigt betrachtet werden konnte. Aber Helfcrts Arbeit beschäftigt sich ja nicht mit dieser allein, und in allen andern Beziehungen stand man damals noch vor ungelösten Fragen. Die Schlacht bei Novara war noch nicht geschlagen, Venedig nicht erobert, in Ungarn hatten die Dinge soeben wieder eine sehr bedenkliche Wendung genommen, und wer will sagen, wie ohne die russische Hilfe und Kossuths Überhebung der Ausgang gewesen wäre? Auch die Ent¬ scheidung in Frankfurt stand noch aus, mit voller Sicherheit war nicht voraus¬ zusehen, wie sich Preußen zur Verfassungs- und Oberhauptsfrage stellen würde, und so lange Österreich in Ungarn und Italien gebunden war, hatten dessen Noten in der deutschen Frage keine große praktische Bedeutung. Nun konnte allerdings ein Schlußkapitel kurz mitteilen, in welcher Weise sich alle diese Ver¬ wicklungen vorläufig lösten. Doch auch darauf hat der Verfasser verzichtet. Ohne eine schüchterne Andeutung zwischen den Zeilen müßte der Leser glauben, die Verfassung vom 4. März sei ins Leben getreten. Er hört eine Menge be¬ geisterter Stimmen, welche Österreich als den freiesten Staat in Europa preisen und alle Stämme des Staates einig und zufrieden sehen, er lernt auch bereits die stolzen Phantasien von einem mitteleuropäischen Reiche kennen, welches mit seinen Vasallengebieten sich vom Po und vom Eisernen Thor bis an die nor¬ dischen Meere ausdehnen sollte (Phantasien, an denen bis über den Pariser Kongreß hinaus mit Zähigkeit festgehalten wurde); er erfährt, daß Österreich in einer Depesche vom 17. Mürz in Frankfurt wissen ließ, es „denke nicht

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/354
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/354>, abgerufen am 17.09.2024.