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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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ssxisns entwickelt. Linia lo^x wäre an dieser Stelle vielleicht eine passendere
Benennung gewesen, um anzudeuten, daß heutzutage die Affeuähnlichst der
Menschen noch keineswegs ausgestorben ist. Wenn man freilich bei diesen Ent¬
wicklungsreihen vergißt, daß im Worte Entwicklung der Begriff von Ursache
und Wirkung steckt, und sich eine Form aus der andern entwickeln läßt, während
doch jede Form nur die Wirkung des Inhaltes sein muß, welcher sie hervor¬
bringt, dann kommt man eben zu solchen phantastischen Spekulationen, durch
welche heute die Naturwissenschaft nur gar zu gern Philosophie und Geistes¬
wissenschaften sich unterwerfen möchte. Die Berechtigung zum Entwürfe solcher
Stammbäume für sämtliche Organismen wollen wir garnicht bestreikn, aber
sie können nie etwas andres bedeuten, als ein Produkt unsrer Betrachtung
der äußern Formen, niemals aber uns die Erkenntnis von dem wirklichen
Kausalzusammenhang der Schöpfung und der Entstehung der Arten geben.
Eine Lehre, welche diesen Unterschied mißachtet, verdient nicht mehr den Namen
einer Wissenschaft, sondern höchstens den einer Schwärmerei in wissenschaftlichem
Gewände. (Schluß folgt.)




Gegensätze in der Kultur des Mittelalters.

le früher so beliebte Rede von der Rohheit des Mittelalters ist
in Mißkredit gekommen. Literatur, Kunst und Philosophie des
Mittelalters haben zusammengewirkt, um es wieder mehr zu
Ehren zu bringen. Was aber immer noch aufs höchste in Er¬
staunen setzt, ist der Umstand, daß die in jenen Jahrhunderten
vorhandne Bildung einmal nur in wenigen Menschen diejenigen Früchte trägt,
die wir von der Bildung erwarten, und daß sie in diesen selbst, noch vielmehr
in der Mehrheit ihrer Zeitgenossen, Gegensätze bestehen läßt, die sich nach unsern
heutigen Begriffen unmöglich vertragen. Wir wollen das in einigen Beispielen
veranschaulichen.

Sollen wir beiläufig einen allgemeineren Grund angeben von der Ver¬
schiedenheit, die jene Zeit von der spätern, der des siebzehnten Jahrhunderts
und der Folgezeit, trennt, so können wir uns an bekannte psychologische und
volkspsychvlogische Erscheinungen halten. Wie das Kind vor allem begierig ist,
die Zahl seiner Wahrnehmungen zu vermehren und den Schatz seiner Erfahrungen
zu bereichern, wie es liebt, diese seine Errungenschaften immer wieder auszu¬
kramen, in hübsche Formen zu bringen, aber sich völlig unbekümmert zeigt um


ssxisns entwickelt. Linia lo^x wäre an dieser Stelle vielleicht eine passendere
Benennung gewesen, um anzudeuten, daß heutzutage die Affeuähnlichst der
Menschen noch keineswegs ausgestorben ist. Wenn man freilich bei diesen Ent¬
wicklungsreihen vergißt, daß im Worte Entwicklung der Begriff von Ursache
und Wirkung steckt, und sich eine Form aus der andern entwickeln läßt, während
doch jede Form nur die Wirkung des Inhaltes sein muß, welcher sie hervor¬
bringt, dann kommt man eben zu solchen phantastischen Spekulationen, durch
welche heute die Naturwissenschaft nur gar zu gern Philosophie und Geistes¬
wissenschaften sich unterwerfen möchte. Die Berechtigung zum Entwürfe solcher
Stammbäume für sämtliche Organismen wollen wir garnicht bestreikn, aber
sie können nie etwas andres bedeuten, als ein Produkt unsrer Betrachtung
der äußern Formen, niemals aber uns die Erkenntnis von dem wirklichen
Kausalzusammenhang der Schöpfung und der Entstehung der Arten geben.
Eine Lehre, welche diesen Unterschied mißachtet, verdient nicht mehr den Namen
einer Wissenschaft, sondern höchstens den einer Schwärmerei in wissenschaftlichem
Gewände. (Schluß folgt.)




Gegensätze in der Kultur des Mittelalters.

le früher so beliebte Rede von der Rohheit des Mittelalters ist
in Mißkredit gekommen. Literatur, Kunst und Philosophie des
Mittelalters haben zusammengewirkt, um es wieder mehr zu
Ehren zu bringen. Was aber immer noch aufs höchste in Er¬
staunen setzt, ist der Umstand, daß die in jenen Jahrhunderten
vorhandne Bildung einmal nur in wenigen Menschen diejenigen Früchte trägt,
die wir von der Bildung erwarten, und daß sie in diesen selbst, noch vielmehr
in der Mehrheit ihrer Zeitgenossen, Gegensätze bestehen läßt, die sich nach unsern
heutigen Begriffen unmöglich vertragen. Wir wollen das in einigen Beispielen
veranschaulichen.

Sollen wir beiläufig einen allgemeineren Grund angeben von der Ver¬
schiedenheit, die jene Zeit von der spätern, der des siebzehnten Jahrhunderts
und der Folgezeit, trennt, so können wir uns an bekannte psychologische und
volkspsychvlogische Erscheinungen halten. Wie das Kind vor allem begierig ist,
die Zahl seiner Wahrnehmungen zu vermehren und den Schatz seiner Erfahrungen
zu bereichern, wie es liebt, diese seine Errungenschaften immer wieder auszu¬
kramen, in hübsche Formen zu bringen, aber sich völlig unbekümmert zeigt um


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[0327] ssxisns entwickelt. Linia lo^x wäre an dieser Stelle vielleicht eine passendere Benennung gewesen, um anzudeuten, daß heutzutage die Affeuähnlichst der Menschen noch keineswegs ausgestorben ist. Wenn man freilich bei diesen Ent¬ wicklungsreihen vergißt, daß im Worte Entwicklung der Begriff von Ursache und Wirkung steckt, und sich eine Form aus der andern entwickeln läßt, während doch jede Form nur die Wirkung des Inhaltes sein muß, welcher sie hervor¬ bringt, dann kommt man eben zu solchen phantastischen Spekulationen, durch welche heute die Naturwissenschaft nur gar zu gern Philosophie und Geistes¬ wissenschaften sich unterwerfen möchte. Die Berechtigung zum Entwürfe solcher Stammbäume für sämtliche Organismen wollen wir garnicht bestreikn, aber sie können nie etwas andres bedeuten, als ein Produkt unsrer Betrachtung der äußern Formen, niemals aber uns die Erkenntnis von dem wirklichen Kausalzusammenhang der Schöpfung und der Entstehung der Arten geben. Eine Lehre, welche diesen Unterschied mißachtet, verdient nicht mehr den Namen einer Wissenschaft, sondern höchstens den einer Schwärmerei in wissenschaftlichem Gewände. (Schluß folgt.) Gegensätze in der Kultur des Mittelalters. le früher so beliebte Rede von der Rohheit des Mittelalters ist in Mißkredit gekommen. Literatur, Kunst und Philosophie des Mittelalters haben zusammengewirkt, um es wieder mehr zu Ehren zu bringen. Was aber immer noch aufs höchste in Er¬ staunen setzt, ist der Umstand, daß die in jenen Jahrhunderten vorhandne Bildung einmal nur in wenigen Menschen diejenigen Früchte trägt, die wir von der Bildung erwarten, und daß sie in diesen selbst, noch vielmehr in der Mehrheit ihrer Zeitgenossen, Gegensätze bestehen läßt, die sich nach unsern heutigen Begriffen unmöglich vertragen. Wir wollen das in einigen Beispielen veranschaulichen. Sollen wir beiläufig einen allgemeineren Grund angeben von der Ver¬ schiedenheit, die jene Zeit von der spätern, der des siebzehnten Jahrhunderts und der Folgezeit, trennt, so können wir uns an bekannte psychologische und volkspsychvlogische Erscheinungen halten. Wie das Kind vor allem begierig ist, die Zahl seiner Wahrnehmungen zu vermehren und den Schatz seiner Erfahrungen zu bereichern, wie es liebt, diese seine Errungenschaften immer wieder auszu¬ kramen, in hübsche Formen zu bringen, aber sich völlig unbekümmert zeigt um

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/327>, abgerufen am 17.09.2024.