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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Der Mißbrauch des Wortes Entwicklung.

Was ist es denn eigentlich, was die Besten unsers Volkes immer wieder
wie mit unwiderstehlicher Macht zu der Voraussetzung bewegt, daß die Zustände
des Menschengeschlechts sich beständig verbessern und zur Vollkommenheit ent¬
wickeln müßten? Gewiß sind es auch thatsächliche Erfahrungen in beschränkten
Kreisen, die uns die Wahrnehmung fortschreitender Entwicklung gewähren, und
die wir geneigt sind in unberechtigter Weise zu verallgemeinern. Jedes normale
Heranwachsen eines organischen Gebildes können wir als eine Entwicklung von
niedrer zu höherer Stufe betrachte", auch wenn es sich nicht im eigentlichen
Sinne um ein Abwerfen von Hüllen wie bei der Puppe des Schmetterlings
handelt. Überall, wo sich Keime und Anlagen weiterbilden, da reden wir mit
Recht von Entwicklung, und können dieselbe auch wie alle Erscheinungen der
Natur begreifen. Auch dürfen wir das Wort gewiß auf geistige Anlagen
des Menschen übertragen, die sich zu Fähigkeiten und Fertigkeiten ausbilden.
Wir dürfen es auch anwenden auf die Thätigkeit vieler, die sich zu gemeinsamer
Arbeit verbunden haben. Wir sehen Gemeinden, Staaten, Städte, Kirchen,
schließlich Handel, Gewerbe, Kunst und Wissenschaft sich entwickeln. Aber wir
dürfen nicht vergessen, daß jede Entwicklung von innen heraus aus Gründen,
die in der Anlage selbst vorhanden sind, stattfinden muß, und daß wir da nicht
von Entwicklung reden dürfen, wo Einwirkungen von außen allein das Ganze
zu stände bringen. Ein Haus z. B., welches die Maurer aufführen, entwickelt
sich nicht von selbst oder von innen heraus; höchstens der Plan desselben kann
sich im Kopfe des Baumeisters entwickelt haben. Ein Stein, ein Berg, ein
Lavastrom, die ihre Form nur äußern, bewegenden Ursachen verdanken, entwickeln
sich nicht, sondern ihre Form wird durch außer ihnen liegende Naturkräfte
hervorgebracht.

Ebensowenig entwickelt sich eine Form ans einer andern Form, wenn es
nicht bei ein- und demselben Individuum geschieht, wie der Schmetterling aus
der Raupe. Es ist einer von den schwerwiegendsten Mißbräuchen des Wortes
Entwicklung, daß man ähnliche Formen verschiedner Arten sich auseinander
entwickeln läßt, ohne sich um den Kausalzusammenhang der Umbildung zu be¬
kümmern. Fragt man nach der nähern Erklärung, so erhält mau zur Antwort,
daß durch den Kampf ums Dasein, Zuchtwahl, Anpassung an veränderte
Lebensbedingungen u. s. w. während einiger tausend Jahre im Verlauf unzähliger
Generationen solche Verwandlungen sich vollziehen könnten. Aber in vielen
Fällen giebt man sich garnicht die Mühe, den ursächlichen Zusammenhang zu
verfolgen, sondern man sucht nur nach ähnlicheis Formen, die man neben¬
einander stellt, nach Übergangsformen zwischen verschiednen Arten, um zu¬
sammenhängende Entwicklungsreihen zu erhalten. Hat doch Häckel Stamm¬
bäume für alle Organismen entworfen, an denen wir deutlich sehen, wie sich
aus dem gemeinsamen Stamme menschenähnlicher Affen als gleichberechtigter
Nebenzweig neben dem Oran, Engeco und Gorilla auch der Mensch als domo


Der Mißbrauch des Wortes Entwicklung.

Was ist es denn eigentlich, was die Besten unsers Volkes immer wieder
wie mit unwiderstehlicher Macht zu der Voraussetzung bewegt, daß die Zustände
des Menschengeschlechts sich beständig verbessern und zur Vollkommenheit ent¬
wickeln müßten? Gewiß sind es auch thatsächliche Erfahrungen in beschränkten
Kreisen, die uns die Wahrnehmung fortschreitender Entwicklung gewähren, und
die wir geneigt sind in unberechtigter Weise zu verallgemeinern. Jedes normale
Heranwachsen eines organischen Gebildes können wir als eine Entwicklung von
niedrer zu höherer Stufe betrachte», auch wenn es sich nicht im eigentlichen
Sinne um ein Abwerfen von Hüllen wie bei der Puppe des Schmetterlings
handelt. Überall, wo sich Keime und Anlagen weiterbilden, da reden wir mit
Recht von Entwicklung, und können dieselbe auch wie alle Erscheinungen der
Natur begreifen. Auch dürfen wir das Wort gewiß auf geistige Anlagen
des Menschen übertragen, die sich zu Fähigkeiten und Fertigkeiten ausbilden.
Wir dürfen es auch anwenden auf die Thätigkeit vieler, die sich zu gemeinsamer
Arbeit verbunden haben. Wir sehen Gemeinden, Staaten, Städte, Kirchen,
schließlich Handel, Gewerbe, Kunst und Wissenschaft sich entwickeln. Aber wir
dürfen nicht vergessen, daß jede Entwicklung von innen heraus aus Gründen,
die in der Anlage selbst vorhanden sind, stattfinden muß, und daß wir da nicht
von Entwicklung reden dürfen, wo Einwirkungen von außen allein das Ganze
zu stände bringen. Ein Haus z. B., welches die Maurer aufführen, entwickelt
sich nicht von selbst oder von innen heraus; höchstens der Plan desselben kann
sich im Kopfe des Baumeisters entwickelt haben. Ein Stein, ein Berg, ein
Lavastrom, die ihre Form nur äußern, bewegenden Ursachen verdanken, entwickeln
sich nicht, sondern ihre Form wird durch außer ihnen liegende Naturkräfte
hervorgebracht.

Ebensowenig entwickelt sich eine Form ans einer andern Form, wenn es
nicht bei ein- und demselben Individuum geschieht, wie der Schmetterling aus
der Raupe. Es ist einer von den schwerwiegendsten Mißbräuchen des Wortes
Entwicklung, daß man ähnliche Formen verschiedner Arten sich auseinander
entwickeln läßt, ohne sich um den Kausalzusammenhang der Umbildung zu be¬
kümmern. Fragt man nach der nähern Erklärung, so erhält mau zur Antwort,
daß durch den Kampf ums Dasein, Zuchtwahl, Anpassung an veränderte
Lebensbedingungen u. s. w. während einiger tausend Jahre im Verlauf unzähliger
Generationen solche Verwandlungen sich vollziehen könnten. Aber in vielen
Fällen giebt man sich garnicht die Mühe, den ursächlichen Zusammenhang zu
verfolgen, sondern man sucht nur nach ähnlicheis Formen, die man neben¬
einander stellt, nach Übergangsformen zwischen verschiednen Arten, um zu¬
sammenhängende Entwicklungsreihen zu erhalten. Hat doch Häckel Stamm¬
bäume für alle Organismen entworfen, an denen wir deutlich sehen, wie sich
aus dem gemeinsamen Stamme menschenähnlicher Affen als gleichberechtigter
Nebenzweig neben dem Oran, Engeco und Gorilla auch der Mensch als domo


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[0326] Der Mißbrauch des Wortes Entwicklung. Was ist es denn eigentlich, was die Besten unsers Volkes immer wieder wie mit unwiderstehlicher Macht zu der Voraussetzung bewegt, daß die Zustände des Menschengeschlechts sich beständig verbessern und zur Vollkommenheit ent¬ wickeln müßten? Gewiß sind es auch thatsächliche Erfahrungen in beschränkten Kreisen, die uns die Wahrnehmung fortschreitender Entwicklung gewähren, und die wir geneigt sind in unberechtigter Weise zu verallgemeinern. Jedes normale Heranwachsen eines organischen Gebildes können wir als eine Entwicklung von niedrer zu höherer Stufe betrachte», auch wenn es sich nicht im eigentlichen Sinne um ein Abwerfen von Hüllen wie bei der Puppe des Schmetterlings handelt. Überall, wo sich Keime und Anlagen weiterbilden, da reden wir mit Recht von Entwicklung, und können dieselbe auch wie alle Erscheinungen der Natur begreifen. Auch dürfen wir das Wort gewiß auf geistige Anlagen des Menschen übertragen, die sich zu Fähigkeiten und Fertigkeiten ausbilden. Wir dürfen es auch anwenden auf die Thätigkeit vieler, die sich zu gemeinsamer Arbeit verbunden haben. Wir sehen Gemeinden, Staaten, Städte, Kirchen, schließlich Handel, Gewerbe, Kunst und Wissenschaft sich entwickeln. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß jede Entwicklung von innen heraus aus Gründen, die in der Anlage selbst vorhanden sind, stattfinden muß, und daß wir da nicht von Entwicklung reden dürfen, wo Einwirkungen von außen allein das Ganze zu stände bringen. Ein Haus z. B., welches die Maurer aufführen, entwickelt sich nicht von selbst oder von innen heraus; höchstens der Plan desselben kann sich im Kopfe des Baumeisters entwickelt haben. Ein Stein, ein Berg, ein Lavastrom, die ihre Form nur äußern, bewegenden Ursachen verdanken, entwickeln sich nicht, sondern ihre Form wird durch außer ihnen liegende Naturkräfte hervorgebracht. Ebensowenig entwickelt sich eine Form ans einer andern Form, wenn es nicht bei ein- und demselben Individuum geschieht, wie der Schmetterling aus der Raupe. Es ist einer von den schwerwiegendsten Mißbräuchen des Wortes Entwicklung, daß man ähnliche Formen verschiedner Arten sich auseinander entwickeln läßt, ohne sich um den Kausalzusammenhang der Umbildung zu be¬ kümmern. Fragt man nach der nähern Erklärung, so erhält mau zur Antwort, daß durch den Kampf ums Dasein, Zuchtwahl, Anpassung an veränderte Lebensbedingungen u. s. w. während einiger tausend Jahre im Verlauf unzähliger Generationen solche Verwandlungen sich vollziehen könnten. Aber in vielen Fällen giebt man sich garnicht die Mühe, den ursächlichen Zusammenhang zu verfolgen, sondern man sucht nur nach ähnlicheis Formen, die man neben¬ einander stellt, nach Übergangsformen zwischen verschiednen Arten, um zu¬ sammenhängende Entwicklungsreihen zu erhalten. Hat doch Häckel Stamm¬ bäume für alle Organismen entworfen, an denen wir deutlich sehen, wie sich aus dem gemeinsamen Stamme menschenähnlicher Affen als gleichberechtigter Nebenzweig neben dem Oran, Engeco und Gorilla auch der Mensch als domo

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/326>, abgerufen am 17.09.2024.