Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Mißbrauch des Wortes Entwicklung.

Beobachtungen, dann würden wir sicher nachweisen können, wie eine Art sich
in die andre verwandelt. Einstweilen müssen wir uns mit Analogieschlüssen
behelfen. Wenn wir auch bis jetzt nur Spielarten und Abarten künstlich hervor¬
gebracht haben durch Veränderung der Lebensweise der Tiere, so zweifeln wir
doch nicht daran, daß nach mehreren hundert Jahren völlig neue Arten daraus
entstehen würden. Und wenn wir selbst nicht mehr darauf einwirken können,
so wird es schon die natürliche Entwicklung selbst besorgen.

Welche Thatsachen lernen wir dagegen wirklich durch unsre Erfahrung?
Sobald der Einfluß des Menschen aufhört, auf die Tierrassen einzuwirken,
und diese denselben Lebensbedingungen wieder zurückgegeben werden, unter denen
ihre Urahnen lebten, so werden sie in allen Eigenschaften diesen wieder so völlig
gleich im Laufe weniger Generationen, daß man sie nicht mehr unterscheiden
kann. Alle unsre Haustiere werden ohne den Einfluß der Menschen den ur¬
sprünglichen Lebensbedingungen zurückgegeben, wieder eben dasselbe, was ihre
Urahnen gewesen sind. Dagegen schützt sie kein Gedanke und kein Prinzip der
Entwicklung. Tiere aber, die nicht dem menschlichen Einfluß unterworfen sind,
zeigen heute noch ganz genau denselben Typus wie ihre Ahnen vor mehreren
tausend Jahren, ja sogar wie die fossilen Reste ihrer Vorfahren aus den ältesten
Schichten der Erdrinde. Ebenso sehen wir Pflanzen, die der veredelnden Zucht
des Gärtners nicht mehr unterworfen sind, oft genug, sobald sie verwildern,
den ursprünglichen Typus zuweilen schon in der nächsten Generation wieder
annehmen. Wie wunderbar nimmt es sich aus, wenn ein so schlagfertiger, alt¬
berühmter Verteidiger des Entwicklungsgedankens wie Karl Vogt in der Absicht,
menschliche Einrichtungen und beschränkte Vorurteile zu geißeln, in geistreichem
Feuilletonstil "über den ältesten Adel in der Tierwelt" schreibt, wie er vor
kurzem erst in einer Auftritten Zeitschrift gethan hat, und wenn die Thatsachen,
die er beschreibt, dann geradezu gegen die fortschreitende Entwicklung von
niedern zu vollkommenen Formen sprechen! Er selbst fängt im Golf von Genua
im Fischerboote lebendige kleine Brachiopoden, die gewissen fossilen Arten in den
kambrischen Schichten völlig gleichen. Sie zeigen keine Fortbildung zu höherer
Stufe der Organisation, sagt er, und teilt uns mit, daß zwei noch lebende
Gattungen von Muscheln ihre Vertreter in den silurischen, zwei andre in den
devonischen Schichte" haben. Im Jurakalk finden sich wenigstens drei noch
lebende Arten, im Muschelkalk Württembergs Exemplare von Fischen (osrawäus),
die noch in Australien und Afrika leben. Daran kann ja nun der geistreiche
Spötter beliebige Anmerkungen über die Thorheit der Vorurteile des alten Adels
knüpfen, die Thatsachen sprechen klar genug gegen die fortschreitende Entwicklung
von niedern zu höhern Formen. Der Entwickluugsgedauke selbst stellt sich als
eine bloß spekulative Reflexion, wenn man will, als ein beschränktes Vorurteil
der Gelehrten heraus, die sich weigern, das Bekenntnis abzulegen, daß sie über
die Entstehung der Arten im letzten Grunde überhaupt nichts wissen.


Der Mißbrauch des Wortes Entwicklung.

Beobachtungen, dann würden wir sicher nachweisen können, wie eine Art sich
in die andre verwandelt. Einstweilen müssen wir uns mit Analogieschlüssen
behelfen. Wenn wir auch bis jetzt nur Spielarten und Abarten künstlich hervor¬
gebracht haben durch Veränderung der Lebensweise der Tiere, so zweifeln wir
doch nicht daran, daß nach mehreren hundert Jahren völlig neue Arten daraus
entstehen würden. Und wenn wir selbst nicht mehr darauf einwirken können,
so wird es schon die natürliche Entwicklung selbst besorgen.

Welche Thatsachen lernen wir dagegen wirklich durch unsre Erfahrung?
Sobald der Einfluß des Menschen aufhört, auf die Tierrassen einzuwirken,
und diese denselben Lebensbedingungen wieder zurückgegeben werden, unter denen
ihre Urahnen lebten, so werden sie in allen Eigenschaften diesen wieder so völlig
gleich im Laufe weniger Generationen, daß man sie nicht mehr unterscheiden
kann. Alle unsre Haustiere werden ohne den Einfluß der Menschen den ur¬
sprünglichen Lebensbedingungen zurückgegeben, wieder eben dasselbe, was ihre
Urahnen gewesen sind. Dagegen schützt sie kein Gedanke und kein Prinzip der
Entwicklung. Tiere aber, die nicht dem menschlichen Einfluß unterworfen sind,
zeigen heute noch ganz genau denselben Typus wie ihre Ahnen vor mehreren
tausend Jahren, ja sogar wie die fossilen Reste ihrer Vorfahren aus den ältesten
Schichten der Erdrinde. Ebenso sehen wir Pflanzen, die der veredelnden Zucht
des Gärtners nicht mehr unterworfen sind, oft genug, sobald sie verwildern,
den ursprünglichen Typus zuweilen schon in der nächsten Generation wieder
annehmen. Wie wunderbar nimmt es sich aus, wenn ein so schlagfertiger, alt¬
berühmter Verteidiger des Entwicklungsgedankens wie Karl Vogt in der Absicht,
menschliche Einrichtungen und beschränkte Vorurteile zu geißeln, in geistreichem
Feuilletonstil „über den ältesten Adel in der Tierwelt" schreibt, wie er vor
kurzem erst in einer Auftritten Zeitschrift gethan hat, und wenn die Thatsachen,
die er beschreibt, dann geradezu gegen die fortschreitende Entwicklung von
niedern zu vollkommenen Formen sprechen! Er selbst fängt im Golf von Genua
im Fischerboote lebendige kleine Brachiopoden, die gewissen fossilen Arten in den
kambrischen Schichten völlig gleichen. Sie zeigen keine Fortbildung zu höherer
Stufe der Organisation, sagt er, und teilt uns mit, daß zwei noch lebende
Gattungen von Muscheln ihre Vertreter in den silurischen, zwei andre in den
devonischen Schichte» haben. Im Jurakalk finden sich wenigstens drei noch
lebende Arten, im Muschelkalk Württembergs Exemplare von Fischen (osrawäus),
die noch in Australien und Afrika leben. Daran kann ja nun der geistreiche
Spötter beliebige Anmerkungen über die Thorheit der Vorurteile des alten Adels
knüpfen, die Thatsachen sprechen klar genug gegen die fortschreitende Entwicklung
von niedern zu höhern Formen. Der Entwickluugsgedauke selbst stellt sich als
eine bloß spekulative Reflexion, wenn man will, als ein beschränktes Vorurteil
der Gelehrten heraus, die sich weigern, das Bekenntnis abzulegen, daß sie über
die Entstehung der Arten im letzten Grunde überhaupt nichts wissen.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0322" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/288775"/>
          <fw type="header" place="top"> Der Mißbrauch des Wortes Entwicklung.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_939" prev="#ID_938"> Beobachtungen, dann würden wir sicher nachweisen können, wie eine Art sich<lb/>
in die andre verwandelt. Einstweilen müssen wir uns mit Analogieschlüssen<lb/>
behelfen. Wenn wir auch bis jetzt nur Spielarten und Abarten künstlich hervor¬<lb/>
gebracht haben durch Veränderung der Lebensweise der Tiere, so zweifeln wir<lb/>
doch nicht daran, daß nach mehreren hundert Jahren völlig neue Arten daraus<lb/>
entstehen würden. Und wenn wir selbst nicht mehr darauf einwirken können,<lb/>
so wird es schon die natürliche Entwicklung selbst besorgen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_940"> Welche Thatsachen lernen wir dagegen wirklich durch unsre Erfahrung?<lb/>
Sobald der Einfluß des Menschen aufhört, auf die Tierrassen einzuwirken,<lb/>
und diese denselben Lebensbedingungen wieder zurückgegeben werden, unter denen<lb/>
ihre Urahnen lebten, so werden sie in allen Eigenschaften diesen wieder so völlig<lb/>
gleich im Laufe weniger Generationen, daß man sie nicht mehr unterscheiden<lb/>
kann. Alle unsre Haustiere werden ohne den Einfluß der Menschen den ur¬<lb/>
sprünglichen Lebensbedingungen zurückgegeben, wieder eben dasselbe, was ihre<lb/>
Urahnen gewesen sind. Dagegen schützt sie kein Gedanke und kein Prinzip der<lb/>
Entwicklung. Tiere aber, die nicht dem menschlichen Einfluß unterworfen sind,<lb/>
zeigen heute noch ganz genau denselben Typus wie ihre Ahnen vor mehreren<lb/>
tausend Jahren, ja sogar wie die fossilen Reste ihrer Vorfahren aus den ältesten<lb/>
Schichten der Erdrinde. Ebenso sehen wir Pflanzen, die der veredelnden Zucht<lb/>
des Gärtners nicht mehr unterworfen sind, oft genug, sobald sie verwildern,<lb/>
den ursprünglichen Typus zuweilen schon in der nächsten Generation wieder<lb/>
annehmen. Wie wunderbar nimmt es sich aus, wenn ein so schlagfertiger, alt¬<lb/>
berühmter Verteidiger des Entwicklungsgedankens wie Karl Vogt in der Absicht,<lb/>
menschliche Einrichtungen und beschränkte Vorurteile zu geißeln, in geistreichem<lb/>
Feuilletonstil &#x201E;über den ältesten Adel in der Tierwelt" schreibt, wie er vor<lb/>
kurzem erst in einer Auftritten Zeitschrift gethan hat, und wenn die Thatsachen,<lb/>
die er beschreibt, dann geradezu gegen die fortschreitende Entwicklung von<lb/>
niedern zu vollkommenen Formen sprechen! Er selbst fängt im Golf von Genua<lb/>
im Fischerboote lebendige kleine Brachiopoden, die gewissen fossilen Arten in den<lb/>
kambrischen Schichten völlig gleichen. Sie zeigen keine Fortbildung zu höherer<lb/>
Stufe der Organisation, sagt er, und teilt uns mit, daß zwei noch lebende<lb/>
Gattungen von Muscheln ihre Vertreter in den silurischen, zwei andre in den<lb/>
devonischen Schichte» haben. Im Jurakalk finden sich wenigstens drei noch<lb/>
lebende Arten, im Muschelkalk Württembergs Exemplare von Fischen (osrawäus),<lb/>
die noch in Australien und Afrika leben. Daran kann ja nun der geistreiche<lb/>
Spötter beliebige Anmerkungen über die Thorheit der Vorurteile des alten Adels<lb/>
knüpfen, die Thatsachen sprechen klar genug gegen die fortschreitende Entwicklung<lb/>
von niedern zu höhern Formen. Der Entwickluugsgedauke selbst stellt sich als<lb/>
eine bloß spekulative Reflexion, wenn man will, als ein beschränktes Vorurteil<lb/>
der Gelehrten heraus, die sich weigern, das Bekenntnis abzulegen, daß sie über<lb/>
die Entstehung der Arten im letzten Grunde überhaupt nichts wissen.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0322] Der Mißbrauch des Wortes Entwicklung. Beobachtungen, dann würden wir sicher nachweisen können, wie eine Art sich in die andre verwandelt. Einstweilen müssen wir uns mit Analogieschlüssen behelfen. Wenn wir auch bis jetzt nur Spielarten und Abarten künstlich hervor¬ gebracht haben durch Veränderung der Lebensweise der Tiere, so zweifeln wir doch nicht daran, daß nach mehreren hundert Jahren völlig neue Arten daraus entstehen würden. Und wenn wir selbst nicht mehr darauf einwirken können, so wird es schon die natürliche Entwicklung selbst besorgen. Welche Thatsachen lernen wir dagegen wirklich durch unsre Erfahrung? Sobald der Einfluß des Menschen aufhört, auf die Tierrassen einzuwirken, und diese denselben Lebensbedingungen wieder zurückgegeben werden, unter denen ihre Urahnen lebten, so werden sie in allen Eigenschaften diesen wieder so völlig gleich im Laufe weniger Generationen, daß man sie nicht mehr unterscheiden kann. Alle unsre Haustiere werden ohne den Einfluß der Menschen den ur¬ sprünglichen Lebensbedingungen zurückgegeben, wieder eben dasselbe, was ihre Urahnen gewesen sind. Dagegen schützt sie kein Gedanke und kein Prinzip der Entwicklung. Tiere aber, die nicht dem menschlichen Einfluß unterworfen sind, zeigen heute noch ganz genau denselben Typus wie ihre Ahnen vor mehreren tausend Jahren, ja sogar wie die fossilen Reste ihrer Vorfahren aus den ältesten Schichten der Erdrinde. Ebenso sehen wir Pflanzen, die der veredelnden Zucht des Gärtners nicht mehr unterworfen sind, oft genug, sobald sie verwildern, den ursprünglichen Typus zuweilen schon in der nächsten Generation wieder annehmen. Wie wunderbar nimmt es sich aus, wenn ein so schlagfertiger, alt¬ berühmter Verteidiger des Entwicklungsgedankens wie Karl Vogt in der Absicht, menschliche Einrichtungen und beschränkte Vorurteile zu geißeln, in geistreichem Feuilletonstil „über den ältesten Adel in der Tierwelt" schreibt, wie er vor kurzem erst in einer Auftritten Zeitschrift gethan hat, und wenn die Thatsachen, die er beschreibt, dann geradezu gegen die fortschreitende Entwicklung von niedern zu vollkommenen Formen sprechen! Er selbst fängt im Golf von Genua im Fischerboote lebendige kleine Brachiopoden, die gewissen fossilen Arten in den kambrischen Schichten völlig gleichen. Sie zeigen keine Fortbildung zu höherer Stufe der Organisation, sagt er, und teilt uns mit, daß zwei noch lebende Gattungen von Muscheln ihre Vertreter in den silurischen, zwei andre in den devonischen Schichte» haben. Im Jurakalk finden sich wenigstens drei noch lebende Arten, im Muschelkalk Württembergs Exemplare von Fischen (osrawäus), die noch in Australien und Afrika leben. Daran kann ja nun der geistreiche Spötter beliebige Anmerkungen über die Thorheit der Vorurteile des alten Adels knüpfen, die Thatsachen sprechen klar genug gegen die fortschreitende Entwicklung von niedern zu höhern Formen. Der Entwickluugsgedauke selbst stellt sich als eine bloß spekulative Reflexion, wenn man will, als ein beschränktes Vorurteil der Gelehrten heraus, die sich weigern, das Bekenntnis abzulegen, daß sie über die Entstehung der Arten im letzten Grunde überhaupt nichts wissen.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/322
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/322>, abgerufen am 17.09.2024.