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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Her Mißbrauch des Wortes Entwicklung.

lange streiten kann. Gerade in jenem Lande, welches der protestantischen Theo¬
logie und Kirche die denkbar härtesten und starrsten Formen gegeben und bis
in die neueste Zeit bewahrt hat, in England und Schottland, zeigt sich gegen-
wärtig eine mächtig zunehmende Ausbreitung der evolntionistischeu Denkart durch
den Anstoß, den einerseits die englische Moralphilosophie, anderseits der Dar¬
winismus gegeben hat. In Deutschland sind wir auch glücklich so weit ge¬
kommen, daß eine weitverbreitete Denkart alles Heil für die Zukunft von der
beständig mit Naturnotwendigkeit fortschreitenden Entwicklung zu idealen Zu-
ständen erwartet. Selbst die unheimlichsten Mächte der Zerstörung, die leben
Augenblick bereit sind, wenn sie ihre Utopien vereitelt sehen, gegen Gesetz und
Ordnung loszubrechen und auf die Trümmer alles Bestehenden ihre Phanta¬
stischen Neuschöpfungen aufzubauen, sie gewinnen die fanatische Zuversicht zu
dem schließlichen Sieg ihrer Bestrebungen durch den Gedanken der Entwicklung.
Die Ideale eines Bebel und Liebknecht sollen sich auf jeden Fall entWicke n.
wenn nicht auf friedlichem Wege, dann durch Gewalt und Umsturz. Mau be¬
merkt in seinem Fanatismus garnicht den Widerspruch, der zwischen dem Ge¬
danken der Entwicklung und dem gewaltsamen Eingriff in den Prozeß der¬
selben liegt.

Durch das Prinzip der Entwicklung, den genetischen und insbesondre den
Phylvgenctischen Gedanken erklärt der Darwinismus und die Vervollkommnung
desselben im Häckelismus die Entstehung der Arten. Kein Zweifel regt sich
heute mehr in der Seele eines Biologen, daß die ganze Stufenfolge der ge¬
samten organischen Lebewesen, die wir teils noch vor Augen sehen, teils in
den fossilen Resten der Vorzeit bewundern, wirklich von den einfachsten Zellen¬
wesen bis zum Menschen hinauf sich durch Vererbung, Zuchtwahl und Kampf
ums Dasein, stets eine Art aus der andern, entwickelt habe. Was wurden
die Führer der Bewegung darum geben, wenn es erst einmal gelungen wäre,
organische Zellen aus unorganischen Stoffen künstlich zu machen! oder nur den
Nachweis durch Beobachtung zu liefern, wie sich aus dem Urschleim die ersten
Lebewesen entwickeln! Mit welchem Jagdeifer gehen die Anthropologen darauf
aus, wirkliche Übergangsstufen zwischen Affen und Mensch zu entdecken! Hieß
doch das Thema eines populären Vortrages von einem unsrer ersten Physio¬
logen: ..Wir husten, weil wir von den Fischen stammen." Kein Zweifel ist es
für die berühmtesten Gelehrten, daß das erste Denkvermögen sich zu entwickeln
anfing, als unsre Urahnen in Gestalt von Batrachiern nach Blättern zu schnappen
und wohlschmeckende von widerwärtigen zu unterscheiden lernten. Welchen L^o z
empfindet der Kulturmensch von heute, wenn er sieht, wie wir es in der Ent¬
wicklung so herrlich weit gebracht haben!

^.^^i"-Wenn nur die Erfahrung diese Theorie ein einziges mal wirtlich verlangen
wollte! Aber da werden wir immer abgespeist mit der Entgegnung: wenn
wir nur tausend oder wenigstens einige hundert Jahre Zelt hatten zu unsern


Grenzboten II. 1837.
Her Mißbrauch des Wortes Entwicklung.

lange streiten kann. Gerade in jenem Lande, welches der protestantischen Theo¬
logie und Kirche die denkbar härtesten und starrsten Formen gegeben und bis
in die neueste Zeit bewahrt hat, in England und Schottland, zeigt sich gegen-
wärtig eine mächtig zunehmende Ausbreitung der evolntionistischeu Denkart durch
den Anstoß, den einerseits die englische Moralphilosophie, anderseits der Dar¬
winismus gegeben hat. In Deutschland sind wir auch glücklich so weit ge¬
kommen, daß eine weitverbreitete Denkart alles Heil für die Zukunft von der
beständig mit Naturnotwendigkeit fortschreitenden Entwicklung zu idealen Zu-
ständen erwartet. Selbst die unheimlichsten Mächte der Zerstörung, die leben
Augenblick bereit sind, wenn sie ihre Utopien vereitelt sehen, gegen Gesetz und
Ordnung loszubrechen und auf die Trümmer alles Bestehenden ihre Phanta¬
stischen Neuschöpfungen aufzubauen, sie gewinnen die fanatische Zuversicht zu
dem schließlichen Sieg ihrer Bestrebungen durch den Gedanken der Entwicklung.
Die Ideale eines Bebel und Liebknecht sollen sich auf jeden Fall entWicke n.
wenn nicht auf friedlichem Wege, dann durch Gewalt und Umsturz. Mau be¬
merkt in seinem Fanatismus garnicht den Widerspruch, der zwischen dem Ge¬
danken der Entwicklung und dem gewaltsamen Eingriff in den Prozeß der¬
selben liegt.

Durch das Prinzip der Entwicklung, den genetischen und insbesondre den
Phylvgenctischen Gedanken erklärt der Darwinismus und die Vervollkommnung
desselben im Häckelismus die Entstehung der Arten. Kein Zweifel regt sich
heute mehr in der Seele eines Biologen, daß die ganze Stufenfolge der ge¬
samten organischen Lebewesen, die wir teils noch vor Augen sehen, teils in
den fossilen Resten der Vorzeit bewundern, wirklich von den einfachsten Zellen¬
wesen bis zum Menschen hinauf sich durch Vererbung, Zuchtwahl und Kampf
ums Dasein, stets eine Art aus der andern, entwickelt habe. Was wurden
die Führer der Bewegung darum geben, wenn es erst einmal gelungen wäre,
organische Zellen aus unorganischen Stoffen künstlich zu machen! oder nur den
Nachweis durch Beobachtung zu liefern, wie sich aus dem Urschleim die ersten
Lebewesen entwickeln! Mit welchem Jagdeifer gehen die Anthropologen darauf
aus, wirkliche Übergangsstufen zwischen Affen und Mensch zu entdecken! Hieß
doch das Thema eines populären Vortrages von einem unsrer ersten Physio¬
logen: ..Wir husten, weil wir von den Fischen stammen." Kein Zweifel ist es
für die berühmtesten Gelehrten, daß das erste Denkvermögen sich zu entwickeln
anfing, als unsre Urahnen in Gestalt von Batrachiern nach Blättern zu schnappen
und wohlschmeckende von widerwärtigen zu unterscheiden lernten. Welchen L^o z
empfindet der Kulturmensch von heute, wenn er sieht, wie wir es in der Ent¬
wicklung so herrlich weit gebracht haben!

^.^^i«-Wenn nur die Erfahrung diese Theorie ein einziges mal wirtlich verlangen
wollte! Aber da werden wir immer abgespeist mit der Entgegnung: wenn
wir nur tausend oder wenigstens einige hundert Jahre Zelt hatten zu unsern


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[0321] Her Mißbrauch des Wortes Entwicklung. lange streiten kann. Gerade in jenem Lande, welches der protestantischen Theo¬ logie und Kirche die denkbar härtesten und starrsten Formen gegeben und bis in die neueste Zeit bewahrt hat, in England und Schottland, zeigt sich gegen- wärtig eine mächtig zunehmende Ausbreitung der evolntionistischeu Denkart durch den Anstoß, den einerseits die englische Moralphilosophie, anderseits der Dar¬ winismus gegeben hat. In Deutschland sind wir auch glücklich so weit ge¬ kommen, daß eine weitverbreitete Denkart alles Heil für die Zukunft von der beständig mit Naturnotwendigkeit fortschreitenden Entwicklung zu idealen Zu- ständen erwartet. Selbst die unheimlichsten Mächte der Zerstörung, die leben Augenblick bereit sind, wenn sie ihre Utopien vereitelt sehen, gegen Gesetz und Ordnung loszubrechen und auf die Trümmer alles Bestehenden ihre Phanta¬ stischen Neuschöpfungen aufzubauen, sie gewinnen die fanatische Zuversicht zu dem schließlichen Sieg ihrer Bestrebungen durch den Gedanken der Entwicklung. Die Ideale eines Bebel und Liebknecht sollen sich auf jeden Fall entWicke n. wenn nicht auf friedlichem Wege, dann durch Gewalt und Umsturz. Mau be¬ merkt in seinem Fanatismus garnicht den Widerspruch, der zwischen dem Ge¬ danken der Entwicklung und dem gewaltsamen Eingriff in den Prozeß der¬ selben liegt. Durch das Prinzip der Entwicklung, den genetischen und insbesondre den Phylvgenctischen Gedanken erklärt der Darwinismus und die Vervollkommnung desselben im Häckelismus die Entstehung der Arten. Kein Zweifel regt sich heute mehr in der Seele eines Biologen, daß die ganze Stufenfolge der ge¬ samten organischen Lebewesen, die wir teils noch vor Augen sehen, teils in den fossilen Resten der Vorzeit bewundern, wirklich von den einfachsten Zellen¬ wesen bis zum Menschen hinauf sich durch Vererbung, Zuchtwahl und Kampf ums Dasein, stets eine Art aus der andern, entwickelt habe. Was wurden die Führer der Bewegung darum geben, wenn es erst einmal gelungen wäre, organische Zellen aus unorganischen Stoffen künstlich zu machen! oder nur den Nachweis durch Beobachtung zu liefern, wie sich aus dem Urschleim die ersten Lebewesen entwickeln! Mit welchem Jagdeifer gehen die Anthropologen darauf aus, wirkliche Übergangsstufen zwischen Affen und Mensch zu entdecken! Hieß doch das Thema eines populären Vortrages von einem unsrer ersten Physio¬ logen: ..Wir husten, weil wir von den Fischen stammen." Kein Zweifel ist es für die berühmtesten Gelehrten, daß das erste Denkvermögen sich zu entwickeln anfing, als unsre Urahnen in Gestalt von Batrachiern nach Blättern zu schnappen und wohlschmeckende von widerwärtigen zu unterscheiden lernten. Welchen L^o z empfindet der Kulturmensch von heute, wenn er sieht, wie wir es in der Ent¬ wicklung so herrlich weit gebracht haben! ^.^^i«-Wenn nur die Erfahrung diese Theorie ein einziges mal wirtlich verlangen wollte! Aber da werden wir immer abgespeist mit der Entgegnung: wenn wir nur tausend oder wenigstens einige hundert Jahre Zelt hatten zu unsern Grenzboten II. 1837.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/321>, abgerufen am 17.09.2024.